Kommentar

Wir sollten mehr auf Historiker als auf Ökonomen hören

Werner Vontobel © zvg

Werner Vontobel /  Profitiert der Durchschnittsschweizer von den Verträgen mit der EU? Die «NZZ» hat eine wichtige Debatte angestossen.

Den Beginn der Debatte in der «Neuen Zürcher Zeitung» markierte das Interview von Katharina Fontana mit dem Historiker Oliver Zimmer. Zimmer sagte: «Solange die unteren 50 Prozent der Bevölkerung vom Wachstum nicht profitieren, sondern sich für sie das Wohnen verteuert und es im Land immer enger wird, belastet das den Gesellschaftsvertrag.»

Und: «Ein grosser Teil des Establishments unterstützt die Personenfreizügigkeit, und zwar über das Mass hinaus, wo deren Nachteile für den Durchschnittsbürger offensichtlich werden. Gewisse Politiker vertreten jene 10 bis 15 Prozent der Bevölkerung, die dank der Zuwanderung von ihrer Land- oder Immobilienrente profitieren und immer wohlhabender werden.»

Inzwischen hat Wirtschaftsredaktor Hansueli Schöchli, ein weiteres Schwergewicht bei der «NZZ», zweimal zurückgeschlagen: «Der mittlere Reallohn (Median) wuchs (vom Beginn der Personenfreizügigkeit 2002 bis 2022, die Red.) um total gut 14 Prozent. (…) Immerhin ist die Produktivität pro Arbeitsstunde in der Schweiz von 2002 bis 2022 laut einer vom Bund bestellten Studie um gut 20 Prozent gewachsen, womit die Schweiz Rang 3 unter 8 europäischen Vergleichsländern belegte. (…) Alles in allem hat die hohe Einwanderung in den letzten zwanzig Jahren zumindest nicht verhindert, dass die Produktivität und der Wohlstand in der Schweiz deutlich gestiegen sind und dass die Löhne oben, unten und in der Mitte zugelegt haben.»

Ungleichheit hat zugenommen

Schöchli räumt zwar ein, dass die Ungleichheit seit 2002 zugenommen hat und dass es die weitaus grössten Lohnanstiege bei den obersten zwei Prozent gegeben habe. Er meint aber, dass dies wenig bis nichts mit der Einwanderung zu tun habe, sondern «eher mit Veränderungen bei der Vergütung von Spitzenmanagern (und) den stärker global ausgerichteten Unternehmen». Stimmt. Aber genau das waren und sind auch die Bereiche, in die die gut bezahlten Arbeitskräfte eingewandert sind.

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Profitieren nur die Reichen von den Verträgen mit der EU?

Inzwischen hat der NZZ-Chefökonom nachgedoppelt und die These zu widerlegen versucht, wonach  die «Reichen nur deshalb so reich sind , weil sie den Armen die Butter vom Brot nehmen». Dahinter stecke die «falsche Vorstellung des Wohlstands als Nullsummenspiel». Er illustriert das mit zahlreichen historischen Beispielen, die letztlich aber nur zeigen, dass auch die Armen vom allgemein wachsenden Wohlstand profitiert haben – wenn auch viel weniger.

Die Butter bleibt zwar auf dem Brot der Armen, aber es hätte mehr sein müssen und dieses «Mehr» ist den Reichen zugeflossen. Selbstverständlich ist die Marktwirtschaft ein Nullsummenspiel: Der Mehrwert einer Firma kann immer nur einmal verteilt werden – an die Aktionäre, an das Kader und an das Fussvolk. Wenn die Aktionäre und das Kader Millionen kassieren, bleiben dem Fussvolk nur noch Brosamen.

Was wäre gewesen, wenn? Und was geschieht, wenn wir den Vertrag, das «Paket EU-CH», ablehnen? Wir können es nicht wissen. Unter dem Strich geht es darum, ob es dem Durchschnitts-Schweizer und der Durchschnitts-Stimmbürgerin so schlecht geht, dass wir eine wirtschafts- und gesellschaftspolitische Kursänderung wagen sollten oder nicht.

Es geht ums Gesamtbild

Doch diese Frage kann nicht allein mit dem Hinweis auf ein paar volkswirtschaftliche Daten beantwortet werden. Vielmehr müssen wir das Gesamtbild ins Auge fassen. Es geht um die Alternative zwischen einer national und lokal organisierten Wirtschaftsordnung oder einem weiteren Schritt in Richtung des neoliberalen Globalismus.

Kurze Auslegeordnung: Unsere wirtschaftlichen Tätigkeiten finden in drei Sphären statt – geldlos in der Familie und Nachbarschaft, in der Binnenwirtschaft und im Rahmen des globalen Standortwettbewerbs. Bei Letzterem geht es darum, die fetten Glieder der globalen Wertabschöpfungsketten zu besetzen.

Das heisst: Produziere dort, wo die Löhne niedrig sind; verkaufe dort, wo die Kaufkraft hoch ist. Stilisiertes Beispiel: Rund 80 Prozent der Arbeit, die in einem On-Schuh steckt, werden mit zwei Franken die Stunde bezahlt. Verkauft wird der Schuh in der Schweiz, deren Binnenwirtschaft einen mittleren Stundenlohn von 70 Franken generiert. Das erlaubt es On, für die übrigen 20 Prozent der Arbeit 200 Franken zu kassieren und eine üppige Dividende auszuschütten. Alle drei On-Gründer haben beim Börsengang einen dreistelligen Millionenbetrag kassiert.

Hochverdiener in die Schweiz

Dieser Standortwettbewerb sorgt dafür, dass die zehn reichsten Prozent etwa ein Drittel der Kaufkraft abschöpfen können. Unsere Wirtschaftspolitik zielt darauf ab, mit tiefen Steuern möglichst viele dieser Hoch-Verdiener in die Schweiz zu locken.

Dabei gibt es zwei Probleme: Erstens steigen die Mieten auf ein Niveau, das zwar der Kaufkraft der Hochverdiener entspricht, viele Normalverdiener aus der Binnenwirtschaft aber in Nöte bringt. Zweitens zwingt diese Konzentration der Kaufkraft die globale Unterschicht dazu, ebenfalls mobil zu werden, damit sie von den Brosamen unter den Tischen der Reichen leben kann.

Jeder Superverdiener, der in die Schweiz zieht, beansprucht die Arbeitskraft von mehreren Bauarbeitern, Nannys, Uber-Fahrern et cetera, die ebenfalls in der Schweiz wohnen müssen.

Kleine Ironie am Rande: Die «NZZ»-Redaktion hat den Text von Schöchli mit dem Bild eines Bauarbeiters illustriert. Legende: «Viele Branchen wie der Bausektor sind stark auf Zuwanderer angewiesen.» Dabei gilt eigentlich: Ohne Zuwanderung braucht es nicht halb so viele Bauarbeiter.

Der Globalismus schwächt uns

Und dann ist da noch etwas: Die Flexibilität und die Mobilität, die uns der neoliberale Globalismus abfordert, schwächt die Produktions- und Integrationskraft der Familien und der Nachbarschaften. Mit der Folge, dass die von der Familie isolierten Grosseltern früher ins Altenheim ziehen und dass Kleinkinder heute mit hohem Zeit- und Finanzaufwand in Kitas gehütet werden müssen.

Zudem ist statistisch erwiesen, dass Einsamkeit noch vor Rauchen und Übergewicht der grösste gesundheitliche Risikofaktor ist. Alle diese Kosten sind real, aber weil sie von keiner offiziellen Statistik beziffert werden, hat Schöchli sie ignoriert.

Müssen wir deshalb den Kapitalismus überwinden? Nein, es gibt auch Spielarten des Kapitalismus mit einem starken Staat, der die Macht der Märkte eindämmt und zivilisiert. Auch heute noch werden gut 80 Prozent der bezahlten Arbeit auf dem Binnenmarkt erbracht. Von Einheimischen für Einheimische. Statt vorrangig den Standortwettbewerb gewinnen zu wollen, könnten wir auch die Möglichkeiten des Binnenmarkts besser ausschöpfen.

In den ersten drei Nachkriegsjahrzehnten hat das gut funktioniert. Damals sprach man noch von Volks-Wirtschaft oder National-Ökonomie. Wirtschaftspolitik für das Volk und für die Nation. Heute sind die Namen zwar geblieben, aber aus den Nationen sind Standorte geworden.

Gewiss. Die Rückkehr zu einer mehr lokal und national orientierten Gesellschaftspolitik ist mit Risiken verbunden. Wir müssen uns teilweise aus unseren globalen Verflechtungen lösen und können nicht einfach die Rezepte von früher kopieren. Aber ein nüchterner, nicht von den offiziellen Statistiken verstellter Blick auf die Verfassung unserer Gesellschaft zeigt, dass wir allen Anlass haben, uns dieser Diskussion zu stellen. Und ein Blick in die «NZZ» zeigt, dass wir dabei nicht nur auf Ökonomen, sondern auch auf Historiker, Soziologen und Politologen hören sollten.

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