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Die Kurden möchten in Rojava vor allem eines: Frieden und Freiheit © Common

Wer soll nun den Norden Syriens kontrollieren?

Amalia van Gent /  Kann eine von den USA und der Türkei vereinbarte Sicherheitszone in Nordsyrien einen türkisch-kurdischen Krieg für immer abwenden?

Drei Tage lang hatten hochrangige, amerikanische und türkische Militärdelegationen in Ankara über die Errichtung einer Sicherheitszone in Nordsyrien getagt. Am Mittwochnachmittag meldete sich der türkische Verteidigungsminister Hulusi Akar zu Wort. Er sei sehr zufrieden, weil «unsere Bündnispartner den Positionen der Türkei näher gekommen sind», sagte er vor der Presse. Kurz danach machten sein Ministerium und die amerikanische Botschaft in Ankara gleichzeitig die Einigung kund.

Ihre Erklärungen muteten allerdings sibyllinisch an: Demnach sollen beide Länder «sobald wie möglich ein gemeinsames Operationszentrum in der Türkei errichten, um die Einrichtung der Sicherheitszone gemeinsam zu koordinieren und zu verwalten». Ferner sollte «die Sicherheitszone zu einem Friedenskorridor werden, damit vertriebene Syrer in ihr Land zurückkehren können». Keine der beiden Seiten verlor ein Wort darüber, wann genau diese Sicherheitszone errichtet werden sollte, und auch nicht darüber, wer sie künftig kontrolliert. Unklar bleib ferner, wie gross sie sein würde – womit sämtliche brennenden Fragen in Bezug auf die zu errichtende Zone weiterhin offen bleiben.

Türkische Maximalforderungen

Dennoch machte sich in Washington, in Ankara und im nordsyrischen Quamisli ein Gefühl der Erleichterung breit. Eine türkische Invasion, die letztes Wochenende noch drohte, war verhindert worden – zumindest vorübergehend. «Geschwister, wir haben Afrin eingenommen, Dscharablus und in al-Bab. Jetzt marschieren wir auch östlich des Euphrats ein», brüstete sich der türkische Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan noch letztes Wochenende.

Seit Mitte Juli drohte die Türkei unverhüllter als je zuvor mit einer neuen Invasion. Hulusi Akar liess dabei demonstrativ Tausende von Truppen gegenüber den nordsyrischen Städten Tel-Abyad und dem kurdischen Kobanê konzentrieren. Wie er wiederholt erklärte, würde die Türkei niemals einen Terrorkorridor, will heissen, einen von Kurden kontrollierten Korridor entlang der türkisch-syrischen Grenze dulden. Und: «Unsere Geduld geht zu Ende.»

Zur selben Zeit erläuterte die Regierung ihre Vorstellungen in Bezug auf eine Sicherheitszone in Syrien: diese sollte erstens von der türkisch-syrischen Grenzlinie bis zu 35 Kilometer innerhalb des syrischen Territoriums reichen und sich entlang der gesamten türkisch-syrischen Grenze hinziehen. Sie müsste zweitens der Kontrolle der türkischen Armee unterliegen, wenngleich amerikanische Truppen darin auch geduldet wären. In diesem Friedenskorridor sollten drittens bald die syrischen Flüchtlinge aus der Türkei angesiedelt werden. Und schliesslich müssten die kurdischen Kämpfer der Volksverteidigungseinheiten (YPG) mitsamt ihren Waffen aus der ganzen Zone abgezogen werden.

Eine totale militärische Konfrontation

Die Sprache wird in der Türkei der Erdogan-Ära oft strapaziert: Wenn die Politik in Ankara etwa von einer Sicherheitszone spricht, meint sie nicht unbedingt eine Zone, die die Türkei im eigentlichen Sinne von einer Bedrohung beschützen sollte. Die türkisch-syrische Grenze ist heute mit einer bis zu drei Meter hohen, teils doppelten Beton-Mauer, die sich entlang der gesamten Grenzlinie hinzieht und mit Stacheldraht und mit modernsten Geräten ausgerüsteten Horchposten versehen ist, ohnehin zu einer der bestbeschützten Grenzen weltweit. Die von den Kurden verwaltete autonome Region Rojava südlich der gemeinsamen Grenze ist zudem nach dem langjährigen Krieg gegen die Dschihadisten des Islamischen Staates (IS) völlig erschöpft. Zu behaupten, dass dieses kleine Gebilde militärisch gegen die hochgerüstete Türkei eine Herausforderung bildet, wäre glattweg lächerlich.

Was Erdogan und seine Minister von einer Sicherheitszone erwarten, ist in Wirklichkeit eine Totalkapitulation der kurdischen Kämpfer der YPG und ein Ende ihrer autonomen Region Rojava. Die Kurden Syriens hatten im November 2013 im Nordosten des Landes ihre autonome «Demokratische Selbstverwaltung» ausgerufen und nannten sie Rojava, den Ort, wo die Sonne untergeht. Das Gebiet blieb bis zuletzt der stabilste Teil der geschundenen Heimat. Seine Wirtschaft lief einigermassen gut und konnte die Zivilbevölkerung versorgen. Die politisch dominierende Partei PYD bemühte sich zudem, am Beispiel ihrer autonomen Region sich selbst und der Welt zu beweisen, dass unter ihrer Verwaltung die unterschiedlichsten Völker Nordsyriens – nämlich die Kurden und die Araber, die Assyrer, die Turkmenen und die Armenier – friedlich zusammenleben könnten und dass eine Gleichstellung der Geschlechter auch in dieser fernen Region möglich sei. Die DYP ist ideologisch allerdings der kurdischen Arbeiterpartei PKK nahe, die nach 1984 in teils blutige Kämpfen mit den türkischen Sicherheitskräften verstrickt war. Deshalb haben Erdogan und seine Alliierten der Rechtsaussen-Partei der MHP beide kurdischen Parteien zu Terroristen und zum Feind der Türkei Nummer 1 deklariert.

In der von Ankara geforderten 35 km breiten Zone liegen die meisten wichtigen Städte der syrischen Kurden. Sich aus diesem Gebiet abzuziehen, würde bedeuten, freiwillig die kurdische Bevölkerung auf Gedeih und Verderb dem Diktat Ankaras auszusetzen. Sollte die in Ankara angekündigte Ansiedlung der syrischen Flüchtlinge in dieser Zone umgesetzt werden, wäre zudem die Demographie des Gebiets grundlegend verändert. Die meisten syrischen Flüchtlinge in der Türkei stammen aus dem sunnitischen Gürtel Zentralsyriens. Sie sind tief religiös und haben mit der Mentalität der Völker im syrischen Nordosten wenig gemein. Bis zu dreieinhalb Millionen Flüchtlinge könnten in der zu errichtenden «Friedenszone» angesiedelt werden, schwärmte Präsident Erdogan noch am Wochenende. Und so führte er in das politische Vokabular der Türkei den Begriff «Friedenszone» ein für ein Gebiet, das er mehrmals versprach, zugrunde zu richten.

Zeitgewinn für alle Seiten

Hatte der türkische Präsident in den letzten Wochen nur geblufft, um von Kurden und Amerikanern möglichst viele Konzessionen zu erhalten? Vor den Gesprächen in Ankara suchte der Generalkommandant der kurdischen YPG Mazlum Abdi den türkischen Sicherheitsbedenken mit einer Kompromisslösung entgegenzukommen. Die Türkei könnte eine Sicherheitszone von höchstens 5 Kilometern Breite innerhalb Nordostsyriens errichten und selber kontrollieren, erklärte er der Presse. Die kurdischen Städte und der Rest Rojavas würden weiterhin von seiner YPG kontrolliert. Akzeptiere Ankara sein Angebot nicht, so warnte er, werde es in Syrien einen neuen «grossen Krieg» geben. Die amerikanische Delegation soll ihren türkischen Gesprächspartnern noch mehr entgegen gekommen sein und eine Zone von 15 km Breite und fast 200 km Länge angeboten haben. Das erste Angebot hat Ankara der türkische Presse zufolge strikt abgelehnt. Von den Amerikanern erwarte er mehr Entgegenkommen, kommentierte am Samstag Erdogans Leibblatt Sabah.

Wie also weiter?

«Wir wollen eine politische Lösung», erläuterte nach den Gesprächen in Ankara auch das hochrangige politische Rojava-Mitglied Badran Jia Kurd. Sollten die internationalen Bemühungen aber nicht mehr greifen und die türkischen Truppen in Nordsyrien einmarschieren, dann «würden wir uns in eine totale, schwere militärische Konfrontation» versetzen.

Um einen Angriff zu beginnen, benötigt die türkische Luftwaffe das grüne Licht aus den USA, die über die Lufthoheit in Rojava verfügen. Ankara weiss, dass jede Operation ohne den massiven Einsatz ihrer hochmodernen Luftwaffe einem teuren und blutigen Abenteuer gleichkäme. Und noch haben die USA das grüne Licht dazu nicht erteilt.

Die amerikanisch-türkische Einigung in Ankara hat allen Seiten in erster Linie Zeit verschafft. Für wie lange?
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Lesen Sie dazu:
Türkeis Annexion von Nordsyrien ist schlimmer als Russlands Annexion der Krim. Der Westen wendet zweierlei Ellen an.
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Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

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Zum Infosperber-Dossier:

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