Sprachlupe: Wann ist Kritik an Israels Politik antisemitisch?
«Israel vertreibt Palästinenser in ein ‹Warschauer Ghetto›». Unter diesem Titel verbreitete Infosperber am 18. Juni einen Kommentar des US-amerikanischen Journalisten Chris Hedges. Eine Leserin, die sich privat an mich wandte, empfand den Artikel als «richtig antiisraelisch/antisemitisch». Nun ist eine Empfindung immer subjektiv, aber die Frage ist berechtigt, ob Text und Titel Grund zur Annahme bieten, der Autor habe aus Feindschaft gegen Israel bzw. die Juden geschrieben und das verbreitende Medium teile diese Einstellung. Auch die Motivation von Journalisten ist subjektiv und daher nicht ohne Weiteres aus dem Text zu erschliessen.
Allgemein stellt sich immer wieder die Frage, wo die Grenze zwischen begründeter Kritik am Vorgehen Israels und antisemitischer Agitation liege. Liegt sie allein bei den Empfindlichkeiten? Dann wird man immer irgendwelche verletzen. Oder gibt es konkrete Warnzeichen? Dazu einige Gedanken, wiederum anhand von Hedges’ Artikel – einem veritablen Aufschrei eines langjährigen Beobachters, verzweifelt ob des entsetzlichen Geschehens. Sein eigener Titel, auf Infosperber unter der redaktionellen Einleitung wiedergegeben, lautete «Die letzten Tage von Gaza». Der Verweis auf die Nationalsozialisten kam bald nach dem Anfang: «Palästinenser werden in den Süden Gazas gedrängt, so wie einst die Nazis hungernde Juden mit Zügen ins Warschauer Ghetto deportierten, um sie nachher in Vernichtungslager zu verlegen.»
Zur Gleichsetzung herausgegriffen
Da wird also streng genommen nur ein einzelner Aspekt der Verfolgung gleichgesetzt: das brutale Zusammenpferchen. Im englischen Text ist es sogar nur ein Unteraspekt, allerdings ein besonders perfider: Was in der Übersetzung «gedrängt» lautet, ist im Original «enticed», also «verlockt» oder auch «geködert», nämlich mit der trügerischen Aussicht auf Nahrung. Aber was beim Lesen hängenbleibt, ist die Parallele Nazis/Israel. Wer diese Parallele zieht, muss auch mit der antisemitischen Lesart rechnen («was den Juden geschah, tun sie nun den Palästinensern an»). Natürlich steht nichts dergleichen im Text und der Autor kann nicht für alles verantwortlich gemacht werden, was andere in seine Worte hineindeuten – aber er hat es in diesem Fall zumindest in Kauf genommen. Wie heikel die Parallele ist, muss er gewusst haben.
Wo die Parallele nicht mehr gilt, zeigt Hedges sogar – kaum absichtlich – noch im gleichen Satz: bei den Vernichtungslagern der Nazis. Nur sind diese Lager im gleichen Atemzug wie Gaza genannt, und der Unterschied folgt erst später im Text, indem der Autor als Ziel Israels die Vertreibung der Palästinenser nennt (entsprechend den extremsten Äusserungen aus dem Regierungslager), nicht aber die Vernichtung. Von «Völkermord» spricht er dennoch durchgehend. Unter Juristen, auch israelischen, gibt es zu dieser Einschätzung unterschiedliche Ansichten; ein Gericht hat ja noch nicht geurteilt. Ohnehin ist es leider vielfach so, dass «Völkermord» nicht mehr im präzisen juristischen Sinn verwendet wird, sondern als griffiger Superlativ der Kriegsverbrechen. Wer das heute Israel vorwirft, ist nicht schon allein deswegen «richtig antiisraelisch/antisemitisch».
Zuschauer mitschuldig wie einst
Die für ihn wohl wichtigste Parallele zwischen Nazideutschland und dem heutigen Israel zieht Hedges mit dem Gewährenlassen durch die Aussenwelt, besonders jetzt durch die USA: «Wir sind vollwertige Teilnehmer und Teilnehmerinnen an diesem Völkermord – und am wahnsinnigen Ziel, den Gazastreifen zu leeren und den Grossraum Israel vom Jordan bis zum Mittelmeer auszuweiten. (…) Wenn es vorbei ist, wird niemand eine Schuld tragen wollen. Die Unterstützer werden sich tarnen, die Gleichgültigen schweigen, die Untätigen ihre Biografie neu schreiben. Wie nach dem Dritten Reich. Wie nach der Rassentrennung in den USA.»
Nicht auf diesen grundsätzlichen Aspekt bezieht sich der von Infosperber gewählte Titel «Israel vertreibt Palästinenser in ein ‹Warschauer Ghetto›», sondern er greift den Lager-Vergleich heraus. Zwar ist «Warschauer Ghetto» in Anführungszeichen gesetzt, aber zugleich mit dem unscheinbaren Artikel «ein» ins Allgemeine gehoben: Der Eindruck drängt sich auf, in Gaza geschehe gerade «so etwas wie bei den Nazis». Eine entsprechende Absicht braucht man bei dieser Titelsetzung nicht zu unterstellen; es ist eine leider verbreitete und oft irreführende journalistische Praxis, eine herausstechende Einzelheit als «Aufhänger» zu verwenden. Tut sich damit, wie hier, ein Tor zur antisemitischen Hölle auf, so hätte man es bedenken und vermeiden müssen.
Weiterführende Informationen
- Sprachlupen «Vergleiche», «Naziecke», «Nazikeule»
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Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine. Der Autor hat sich kürzlich als Historiker mit dem Ghetto von Lodz befasst.
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