aa_Sprachlust_Daniel_4c

Daniel Goldstein © Grietje Mesman

Sprachlupe: Für Antisemitismus-Vorwürfe braucht es gute Gründe

Daniel Goldstein /  Israel-Kritik als antisemitisch abzutun, ist oft eine billige Ausflucht – aber nicht immer. So oder so wären Gegenargumente besser.

In der letzten «Sprachlupe» (Wann ist Kritik an Israels Politik antisemitisch?) habe ich auf eine frühere verwiesen, zum Thema «Nazikeule». Sie war Anfang 2011 im «Bund» erschienen, auf Infosperber bisher nicht. Das wird hier nachgeholt, neu mit Zwischentiteln; am Schluss folgen aktuelle Überlegungen zur «Antisemitismus-Keule», mit der Israel-Kritiker zuweilen angegangen werden.

Die Nazikeule macht schmutzige Hände (2011)

Sie trägt zwar einen unschönen Namen, ist aber ungemein praktisch: Wer die Nazikeule schwingt, trifft seinen Gegner auch, wenn er ihn verfehlt. Das geht so: Man braucht bloss die Behauptung in die Welt zu setzen, der andere habe wie ein Nazi geredet oder auch nur diesen Eindruck gemacht, und schon bleibt etwas von Hitlers Ruch an ihm haften – egal, ob der Vorwurf gerechtfertigt ist oder nicht. Jedenfalls kann man darauf spekulieren, es bleibe etwas haften; allerdings besteht auch die grosse Gefahr, dass man sich mit dieser Keule selber die Hände schmutzig macht. Gleich zwei prominente Politiker haben zum Jahreswechsel die Nazikeule geschwungen, einmal von der Schweiz aus, einmal in Richtung der Schweiz.

Hashim Thaci kontra Dick Marty

Kosovos Ministerpräsident Hashim Thaci warf dem Tessiner Freisinnigen und Europarats-Berichterstatter Dick Marty «böswillige Ansichten» und einen «rassistischen Unterton» vor: «Die Art und Weise, wie Marty seinen Bericht geschrieben hat, erinnert mich an die Propaganda von Joseph Goebbels», dem Propagandaminister Hitlers. Und Christoph Blocher ging gegenüber dem luxemburgischen Premierminister noch einen Schritt weiter: «So hat Hitler geredet», sagte er nach Jean-Claude Junckers Äusserungen über das Schweizer Abseitsstehen von der EU.

Der einfachere Fall zuerst: In Martys Bericht über angebliche Verwicklungen Thacis und seiner Mitstreiter in Organhandel, Drogengeschäfte und andere Verbrechen fehlen zwar tatsächlich die handfesten Beweise, wie der Autor selber einräumt, aber Aussagen sowie Indizien wiegen schwer – und sie müssten entkräftet werden, nicht der Verfasser verunglimpft, wenn sich Thaci nichts vorzuwerfen hat. Von den Hetztiraden eines Goebbels ist der vorsichtige Ton des parlamentarischen Berichts meilenweit entfernt. Und von antialbanischem Rassismus ist darin schon gar nichts zu finden.

Christoph Blocher kontra Jean-Claude Juncker

Etwas komplexer ist die Sache mit Juncker und Blocher. Der Luxemburger hatte zwar nicht gerade, wie ihm der SVP-Kämpe ankreidete, die Schweiz als Unding bezeichnet, aber im Interview mit der «Zeit» immerhin gesagt, mit ihrem Beitritt würde die EU «kompletter werden. Es bleibt nämlich ein geostrategisches Unding, dass wir diesen weissen Fleck auf der europäischen Landkarte haben.» Dieser Anspruch auf geostrategische Flächen­deckung wiegt noch schwerer, wenn man Juncker über sein Luxemburg sagen hört: «Wir sind eine Supermacht, wenn es um die Formulierung europäischer Anliegen geht.»

Da kann man sich schon, wie Blocher, an «die Schweiz, das kleine Stachelschwein» erinnert fühlen, von dem in den Kriegsjahren zwar kaum Hitler selber redete, Goebbels aber durch sein Radio ein Lied singen liess: «… das hol’n wir auf dem Rückweg heim». Und nicht «beim Rückzug», wie SF.tv verbreitete: So ein Wort hätten die Nazis nicht einmal singend in den Mund genommen. Als ihre Soldaten dann den Rückzug dennoch angetreten hatten, dürfte ihnen das Singen vergangen sein.

Und so kam es, dass das «neue Europa» nicht jenes wurde, das die Nazi-Propaganda verkündet hatte, sondern ein wirklich neues, das nicht auf kriegerischer Eroberung, sondern auf freiwilligem Zusammenschluss beruhte. Umso schockierender ist es, wenn ein «guter Europäer», als der Juncker zweifellos gelten darf, zu Worten wie «geostrategisches Unding» oder auch nur «weisser Fleck» greift, weil ein europäisches Land bisher frei­willig darauf verzichtet hat, EU-Mitglied zu werden. Da müsste er doch die Schweiz als lebenden Beweis für die Freiwilligkeit des Beitritts schätzen. Und dennoch: Juncker ist mit seiner peinlichen Wortwahl weit vom «Heimholen des Stachelschweins» weg, und wer gegen ihn die Nazikeule schwingt, scheint um bessere Argumente verlegen zu sein.

Antisemitismus-Keule statt Antwort auf Kritik an Israel

Auch wer die Antisemitismus-Keule schwingt, scheint um bessere Argumente verlegen zu sein. Heute trifft der rhetorische Vorwurf des Antisemitismus oft die Kritik an Israels Kriegführung in Gaza. Wenn die Kritik aus der Uno kommt, weisen israelische Politiker sie nicht selten als «antisemitisch» zurück, ohne inhaltlich darauf einzugehen. Als Francesca Albanese, Sonderbeauftragte des Uno-Menschenrechtsrats für die besetzten palästinensischen Gebiete, kürzlich auf Einladung von Amnesty International für Vorträge in die Schweiz kam, waren auch hiesige Juden alarmiert.

Jonathan Kreutner, Generalsekretär des Schweizerischen Israelitischen Gemeindebundes, sagte der NZZ: «Es ist unentschuldbar, dass eine Menschenrechtsorganisation einer Referentin, die solch antisemitische Aussagen tätigt, eine Plattform gibt.»* Gemeint waren laut der Zeitung Aussagen wie die, Gaza sei das «grösste und beschämendste Konzentrationslager des 21. Jahrhunderts» oder «nicht der Judenhass, sondern die Unterdrückungs­politik Israels» sei die Ursache des Massakers vom 7. Oktober 2023. Und im Juli 2024 «stimmte sie (auf X) einem Bild zu, das den israelischen Ministerpräsidenten Benjamin Netanyahu mit Hitler gleichsetzt».

Argumente spiegelbildlich gekeult

Albanese hat demnach gegen Israel die Nazikeule geschwungen. Das ist, vor allem wenn es wiederholt geschieht, tatsächlich ein Indiz für Antisemitismus. Denn die Parallele Nazis/Israel beschwört eine antisemitische Lesart herauf; in der «Sprachlupe» vom 24. Juni habe ich diese Lesart so umschrieben: «Was den Juden geschah, tun sie nun den Palästinensern an.» So hat es Albanese natürlich nicht gesagt, aber wer es herauszuhören glaubt, bekommt Mühe mit ihrem Konter, «Antisemitismusvorwürfe würden als Waffe gegen Personen eingesetzt, die sich wagten, die israelische Regierung zu kritisieren» (immer laut NZZ vom 28. Juni, mit Login).

Wo aber Kritik an Israel ohne antisemitische Beiklänge auskommt, hat sie auch die Keule nicht verdient. Der ehemalige TV-Journalist Heiner Hug sagte es Ende 2023 im Journal 21 so: «Wenn Uno-Generalsekretär António Guterres einen Waffenstillstand fordert und deshalb von Jair Lapid, dem Oppositionsführer als ‹Antisemit› verteufelt wird, dann kann man nur den Kopf schütteln. Guterres hat es schlicht nicht mehr ertragen, dass täglich Hunderte unschuldiger Menschen sterben. Dies zu verhindern gehört zum Job eines Uno-Generalsekretärs. Ist man antisemitisch, wenn man den Tod Tausender Frauen, Kinder und Männer betrauert und verhindern will?»

* Der empfundene Antisemitismus ist vermutlich überhaupt erst der Grund dafür, dass sich der SIG zu diesem Fall von Israel-Kritik äussert; die religiöse Schweizer Dachorganisation sieht sich nicht als Vertretung Israels an und pflegt sich nicht zu dessen Politik zu äussern. Ohnehin sehe ich weder einen Adressaten noch einen legitimen Grund für eine Forderung wie diese (aus einem Kommentar zur vorherigen «Sprachlupe»): «Die jüdische Stimme in der Schweiz darf ruhig etwas lauter tönen: Nicht in unserem Namen!»


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine
_____________________
➔ Solche Artikel sind nur dank Ihren SPENDEN möglich. Spenden an unsere Stiftung können Sie bei den Steuern abziehen.

Mit Twint oder Bank-App auch gleich hier:



_____________________
Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.

Zum Infosperber-Dossier:

Bildschirmfoto20120226um12_51_13

Atommacht Israel und ihre Feinde

Teufelskreis: Aggressive Politik auf allen Seiten festigt die Macht der Hardliner bei den jeweiligen Gegnern.

Portrait_Daniel_Goldstein_2016

Sprachlupe: Alle Beiträge

Daniel Goldstein zeigt, wie Worte provozieren, irreführen, verharmlosen – oder unbedacht verwendet werden.

War dieser Artikel nützlich?
Ja:
Nein:


Infosperber gibt es nur dank unbezahlter Arbeit und Spenden.
Spenden kann man bei den Steuern in Abzug bringen.

Direkt mit Twint oder Bank-App



Spenden

Ihre Meinung

Lade Eingabefeld...