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Kinder in Afghanistan: Wirtschaftssanktionen verschlimmern Armut und Hunger in den betroffenen Ländern. Kinder sind davon am stärksten betroffen. © pikist/cc

Sanktionen tödlicher als Kriege

German Foreign Policy /  Wegen Wirtschaftssanktionen der USA und der EU sterben laut einer neuen Studie jedes Jahr 500'000 Menschen.


Die Sanktionsregimes der transatlantischen Mächte, auch Deutschlands und der EU, fordern in den betroffenen Ländern jedes Jahr über eine halbe Million Todesopfer. Das ist das Ergebnis einer Analyse von Forschern der Universität Denver und des Center for Economic and Policy Research in Washington, welche die Auswirkungen von Sanktionen auf die Sterblichkeitsraten in 152 Ländern zwischen 1971 und 2021 untersuchten. Demnach sterben im Durchschnitt rund 564’000 Menschen im Jahr an Sanktionsfolgen wie Hunger, Mangel an medizinischer Versorgung und fehlenden Hilfeleistungen. Weit überdurchschnittlich sind Kinder und ältere Menschen betroffen. Dabei liegt die Zahl der Sanktionsopfer gut fünfmal so hoch wie die der kriegsbedingten Todesopfer. Durch Kampfhandlungen in Kriegen waren es im gleichen Zeitraum durchschnittlich 106’000 Tote pro Jahr. Über die Studie hat das medizinische Fachjournal «The Lancet» in der August-Ausgabe berichtet.

Die Ergebnisse zeigten eine «signifikante kausale Verbindung zwischen Sanktionen und erhöhter Sterblichkeit, insbesondere bei einseitigen, wirtschaftlichen und US-Sanktionen», so die Forscher. Sanktionen führten dazu, dass die betroffenen Staaten ihre Versorgungsleistungen reduzieren müssten. Dies gelte nicht zuletzt für die Gesundheitsversorgung. Auch könnten medizinische Güter, Nahrungsmittel und weitere unverzichtbare Produkte nicht mehr eingeführt werden – häufig, weil gezielte Finanzsanktionen die Bezahlung von Importen unmöglich machten.

Oft sei zudem eine Beschränkung der Tätigkeit von Hilfsorganisationen zu beklagen: entweder weil die Sanktionen ihre Aktivitäten objektiv verhinderten oder weil die Organisationen im Hinblick auf das meist völlig undurchsichtige Sanktionsgeflecht sich nicht in der Lage sähen, die mit ihm verbundenen Risiken auf sich zu nehmen.

Kinder und ältere Menschen am stärksten betroffen

Die Untersuchung beziffert die Zahl der jährlichen Todesopfer in den sanktionierten Ländern im Durchschnitt auf rechnerisch 564’000. Diese Schätzung liegt weit über der durchschnittlichen Zahl der kriegsbedingten Todesopfer in diesem Zeitraum (106’000 Todesfälle pro Jahr) und entspricht in etwa der Gesamtzahl der Kriegstoten einschliesslich ziviler Opfer (etwa 500’000 pro Jahr).

Die Studienautoren weisen ausdrücklich darauf hin, dass 77 Prozent der Todesopfer den Altersgruppen bis zu 15 oder zwischen 60 und 80 Jahren angehören. Kinder, Jugendliche und alte Menschen sind damit weit überdurchschnittlich betroffen. 51 Prozent der Todesopfer sind weniger als fünf Jahre alt. 25 Prozent aller Staaten weltweit sind heute von Sanktionen betroffen. In den 1960er Jahren lag ihr Anteil noch bei acht Prozent.

Die Untersuchung kommt zum Schluss, dass ein signifikanter Unterschied zwischen Sanktionen besteht, die von der Uno verhängt wurden, und solchen, die die USA oder auch die Staaten der EU oktroyiert haben. Von den Vereinten Nationen beschlossene Sanktionen – die einzigen, die das internationale Recht anerkennt – führen demnach meistens nicht zu einem messbaren Anstieg an Todesopfern, da sie zumindest dem Anspruch nach die Folgen für die Bevölkerung so gering wie möglich zu halten suchen.

Sanktionen der USA – und der EU-Staaten – zielen dagegen häufig ganz explizit darauf ab, mit einer Verschlechterung der Lebensbedingungen den Sturz missliebiger Regierungen zu forcieren oder diese zumindest wachsendem Druck seitens der Bevölkerungen auszusetzen, was zu einer Änderung ihres Verhaltens führen soll. Zudem seien USA und EU mit ihrer wirtschaftlichen Macht sowie mit dem Gewicht ihrer Währungen in der Lage, durch Sanktionen ökonomische Flurschäden hervorzurufen.

«Sie sind diesen Preis wert»

Die in «The Lancet» veröffentlichte Studie bestätigt umfassend, was anhand von Fallbeispielen schon lange bekannt ist: dass Sanktionen in den Bevölkerungen der betroffenen Länder verheerende Folgen hervorrufen, unter Umständen sogar schlimmere Folgen als ein Krieg. Für die Sanktionen, die 1990 gegen den Irak verhängt wurden, ist etwa belegt, dass sie die Kalorienaufnahme pro Tag und Kopf der Bevölkerung von 3120 kcal im Jahr 1989 auf 1093 kcal im Jahr 1995 einbrechen liessen. Der Gesundheitsetat des Irak musste sanktionsbedingt auf ein Zehntel seines einstigen Betrags gekürzt werden. Der Zusammenbruch der Trinkwasserversorgung begünstigte eine Ausbreitung von Krankheiten wie Cholera.

So starben im Irak in den 1990er Jahren durch die Folgen der damaligen Sanktionen eine halbe Million Kinder. US-Aussenministerin Madeleine Albright sagte 1996 dazu, die politischen Ziele, die man mit den Sanktionen verfolge, seien «diesen Preis wert».[1]

Hunger und Armut in Syrien

Katastrophale Auswirkungen auf die Bevölkerung hatten auch die Sanktionen, die USA und EU während der Herrschaft von Bashar al Assad gegen Syrien verhängt hatten. Indem sie den Finanz- und den Transportsektor trafen, verhinderten sie faktisch die Einfuhr unter anderem von Lebensmitteln und Medikamenten, die weder bezahlt noch ins Land gebracht werden konnten. Wie eine im Juli 2022 an der renommierten Tufts-University in Boston publizierte Studie feststellte, schädigten die Sanktionen auch die syrische Landwirtschaft: Weder Dünge- noch Pflanzenschutzmittel oder landwirtschaftliches Gerät durften nach Syrien importiert werden.

Die Finanzsanktionen erschwerten zudem Rücküberweisungen von im Ausland lebenden Syrern an ihre Verwandten im Land – eine wichtige Einkommensquelle – erheblich. Die Sanktionen trugen in hohem Masse dazu bei, dass die Lebensbedingungen nach dem Ende des offenen Krieges in mancher Hinsicht sogar noch schlechter wurden. So teilte das World-Food-Programme (WFP) Anfang 2023 mit, der Preis für einen Standard-Nahrungsmittelkorb habe sich von Oktober 2019 bis Oktober 2022 um den Faktor 15 verteuert; in Syrien sei der Hunger grösser denn je seit Kriegsbeginn. Zur Stossrichtung der Sanktionen hiess es im Jahr 2020 bei der öffentlich-rechtlichen deutschen «Tagesschau» mit Blick auf etwaige Hungerrevolten: «Armut und Not machen Syrer mutig.»

Afghanistan: 97 Prozent leben in bitterer Armut

Dramatische Schäden in der Bevölkerung rufen noch heute etwa die Sanktionen gegen Afghanistan hervor. Zur Lage dort stellte im Februar 2023 der Afghanistan-Experte Conrad Schetter fest, die Wirtschaft des Landes sei «aufgrund der internationalen Sanktionen […] zum Erliegen gekommen». Inzwischen lebten «97 Prozent der Menschen» in Afghanistan «unter der Armutsgrenze»; der Grossteil der Bevölkerung sei «direkt von humanitärer Hilfe abhängig». «Wenn diese Hilfen wegfielen, würde eine dramatische Hungersnot drohen», warnte Schetter bereits damals. Die Trump-Regierung hat nun ihre humanitäre Hilfe gekürzt; auch EU-Staaten haben dies begonnen. Die westlichen Sanktionen allerdings dauern an.


[1] Zitiert nach: Ramsey Clark: Feuer und Eis. Die Zerstörung des Irak durch Krieg und Sanktionen. In: Rüdiger Göbel, Joachim Guilliard, Michael Schiffmann: Der Irak. Ein belagertes Land. Köln 2001. S. 32-66.
S. auch Sanktionen gegen Nothilfe.


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine. Dieser Beitrag erschien zuerst auf der Online-Plattform german-foreign-policy.com. Diese «Informationen zur deutschen Aussenpolitik» werden von einer Gruppe unabhängiger Publizisten und Wissenschaftler zusammengestellt, die das Wiedererstarken deutscher Grossmachtbestrebungen auf wirtschaftlichem, politischem und militärischem Gebiet kontinuierlich beobachten.
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