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Josef K. (Markus Scheumann) mit Leni (Dagna Litzenberger Vinet) in Kafkas «Prozess» © Matthias Horn/Schauspielhaus

Perfekte Inszenierung eines kalten Systems

Robert Ruoff /  Barbara Frey bringt in Zürich Franz Kafkas «Prozess» auf die Bühne. Das Publikum quittiert mit kühlem Applaus.

Ich kenne Frau Frey nicht. Aber ich habe Frau Frey im Verdacht, dass sie ein unpolitischer Mensch ist. Wenn Politik etwas damit zu tun hat, dass wir nicht nur analysieren, sondern uns auch engagieren, dass wir gesellschaftliche Verhältnisse nicht nur akademisch, sondern auch emotional durchdringen, dann gibt mir ihre Inszenierung Anlass zu diesem Verdacht. Barbara Frey ist Regisseurin und Intendantin des Schauspielhaus Zürich.

Das Papier

«Wir haben ein perfektes Stück gesehen, aber es berührt mich nicht», habe ich in der Eingangshalle gehört, nach dem Besuch von Kafkas «Prozess» in der Inszenierung von Barbara Frey. Ihre Dramaturgin Christine Besier liefert dazu den Text im Programmheft. Sie liefert die Stichworte, die wir gemeinhin mit Kafka verbinden: «Existenzielle Verunsicherung… Angst… Anpassungsleistung… Gewalt… Das Prinzip Frau…».

Und ganz am Schluss des schwarz auf weiss gedruckten Bildungsangebots liefert sie dann noch, was wir alle schon wissen: Sie erwähnt die Enthüllungen des Edward Snowden über die globale Überwachung und die Algorithmen, die uns steuern. Sie notiert die ungeheure Datensammlung und die Unfähigkeit der Überwacher, aus der Menge der Einzelinformationen die richtigen Elemente heraus zu filtern. Sie konstatiert die Umkehrung der aufklärerischen Unschuldsvermutung in die totalitäre Verdächtigung aller Einzelnen, wie wir sie durch die globale Überwachung heute erleben.

Das Ergebnis all dieser Feststellungen lautet: Wir sind alle schuldig und, bei näherer Betrachtung, alle schon verhaftet. Wir wissen es nur noch nicht.

Die Bühne

Besiers Notizen über den Zusammenhang des Franz Kafka alias Josef K. mit unser aller Lage in der heutigen Welt finden sich aber nur auf dem Papier des Programmhefts, sie findet sich nicht auf der Bühne. Dort gibt es keine Verbindung mit der Gegenwart der globalen Überwachung. Keine Verbindung mit der Figur des Edward Snowden, der vor dem Gesetz schon als schuldig gilt, bevor irgendein Gericht ein Urteil gefällt hat.

Aber wir haben ein perfektes Stück gesehen. Angefangen beim Bühnenbild, mit den glatten Stühlen vor der glatten Wand der Bankschliessfächer, in die man alle einschliessen kann, die eingeschlossen werden müssen. Der Angeklagte Josef K. sowieso, aber auch die allzu freundlichen und daher pflichtvergessenen Justizbeamten, und sogar der strenge Onkel des Josef K. und K.s nutzlos beredter Verteidiger.

Die Oberfläche

Aber was soll’s? Wieder einmal sind es die Banken, die uns in Haft nehmen und in die Gefangenschaft des Systems. Wieder einmal präsentiert uns Barbara Frey das, was uns schon selbstverständlich ist. Mit einem Symbol der Macht, das kein Symbol mehr ist, weil es nur für sich selber steht und auf nichts anderes mehr hinweist.

Das ist es, was meinen Widerspruch reizt: Dass Frau Frey Oberflächenbehandlung betreibt. Dass sie, wie schon in den Stücken zu «arm und reich» im Frühsommer dieses Jahres, verdienstvollerweise die Themen aufgreift, die uns politisch-ökonomisch bedrängen. Dass sie aber nicht eindringt in die Tiefen der politischen Verstrickung.

Verwandlungen

Als Zuschauer bleibt uns so immerhin die Zeit, perfekte schauspielerische Leistungen zu verfolgen, eine Serie von Verwandlungen in der Serie perfekt inszenierter Szenen. In aller Ungerechtigkeit erwähne ich nur drei: Klaus Brömmelmeier als beflissene Vermieterin (doch, richtig so!), als lautstark strenger Onkel und schliesslich als selbstgefälliger Maler mit vielleicht hilfreichen Beziehungen zu den unteren Rängen des Apparats. Claudius Körber als Fabrikant und Aufseher, als Angeklagter, Untersuchungsrichter oder Prügler, dem in jeder Rolle die ungreifbare Glätte nicht abhanden kommt. Und Dagna Litzenberger Vinet, sperrig als Fräulein Bürstner und dienstbereit als Leni, kalt und schön, schön und kalt und kalkulierend, und immer das Objekt des sexuellen Begehrens von Josef K.. Nur er, Josef K. selber, nervös angepasst und widerspenstig aufbegehrend in der Darstellung von Markus Scheumann, macht keine wirkliche Verwandlung durch, denn unterwürfig und folgsam ist er von Anfang an, auch wenn er vor dem Gericht aufrührerische Reden führt. Und wenn er recht hat, so gereicht ihm das doch vor den Richtern nicht zum Vorteil.

«Es ist ja nur ein Verfahren, wenn ich es als solches anerkenne», erklärt er bei der Untersuchung, «aber ich erkenne es also für den Augenblick jetzt an, aus Mitleid gewissermassen». Und damit verstrickt er sich. Indem der Angeklagte die Auseinandersetzung führt mit dem Apparat des Systems, führt er mit seinen eigenen Aussagen den Prozess gegen sich selber. Indem er sich verteidigt, liefert er die Argumente für seine Verurteilung und Vernichtung.

Ein Geständnis

Ich gestehe: Die werkgetreue Inszenierung von Barbara Frey, die Kafkas «Prozess» maximal reduziert und so perfekt verdichtet, lässt beim wachen Zuschauer eine Erkenntnis aufblitzen, der sich der angeklagte Josef K. in seiner Verstrickung bis zum tödlichen Ende versagt. «Das Gericht nimmt Dich auf, wenn Du kommst, und es entlässt Dich, wenn Du gehst…».

Warum, fragt sich der aussen stehende Beobachter, warum beugt sich der Beschuldigte einer Anklage, die man sogar vor ihm geheim hält? Warum verwickelt er sich selber in das System von Schuld, Unterwerfung und Vernichtung, wenn er doch einfach weggehen könnte? Das ist Kafkas Angebot an alle seine Schuldigen, Unterdrückten und Abgewiesenen: dass sie sich auf den Weg machen. «Dieser Eingang war nur für Dich bestimmt», sagt der Türhüter zum sterbensmüden, fast erblindeten Wartenden, bevor er die Türe schliesst.

Die Entscheidung

Die Entscheidung über den Ausstieg aus dem «Prozess» und den Einstieg in den Weg der Befreiung liegt nicht beim «System». Die Entscheidung für den Aufbruch liegt bei Josef K., sie liegt bei den vielen Einzelnen und ihrer Vernetzung. Es ist die Entscheidung zum aufrechten Gang.

Die Inszenierung von Barbara Frey verheimlicht das nicht. Im Gegenteil: Sie bietet die Einsicht an. Aber weil sie den Prozess auf der Bühne mit der gefühllosen Zwangsläufigkeit eines Naturgesetzes ablaufen lässt, bleibt die Erkenntnis den handelnden Personen verschlossen. Und die kalte Logik des Geschehens macht die Zuschauer ohnmächtig und handlungsunfähig.

Ganz im Gegensatz zu Kafkas Text, der mit der grausamen Genauigkeit seiner Erzählung Abgründe von Angst und Verzweiflung aufblitzen lässt, wenn das «Gericht» einmal mehr die Erbsünde des Ungehorsams – sprich: der Selbst-Befreiung der Menschen aus ihrer Unmündigkeit – mit Verhör und Vernichtung bestraft. Das trifft uns tief.

***

Rückblende

In einer Zeit, in der die Politik in der Schweiz und in der Welt keinen Weg in eine humanere Zukunft weist – oder doch «yes, we can» ? –, ist es wieder einmal an der Kultur, das politische Denken in Gang zu setzen und die Kritik des Bestehenden mit einer Vision des Künftigen zu verbinden, mit einer scharfen Analyse und meinetwegen mit einer Utopie. «Wenn das politische Hirn stillgelegt ist, muss das Kulturhirn seine Aufgaben übernehmen», hat mir ein Prager Emigrant vor 40 Jahren gesagt.

Im böhmischen Schloss Liblice, damals noch in der Tschechoslowakei, hat 1963 die internationale Kafka-Konferenz stattgefunden, in der sich sozialistische Intellektuelle aus Mittel- und Westeuropa über die Frage stritten, ob der Autor Franz Kafka denn noch etwas zur Emanzipation der Menschen aus ihrer selbstverschuldeten Unmündigkeit beitragen könne. Sie wurden sich nicht einig.

Sie stellten nur gemeinsam fest, dass der jüdische Schriftsteller deutscher Sprache im tschechischen Prag in seinen Geschichten auf meisterhaft eindringliche Weise die ungeheure Entfremdung aufdeckt, in der wir in unseren Gesellschaften leben. Und weil wir uns dieser Erkenntnis nicht entziehen können, wenn wir Kafkas Geschichten lesen, erschüttern sie uns und gehen unter die Haut.

1968, fünf Jahre nach der literarisch-politischen Kafka-Konferenz im Schloss von Liblice, entsprang auch daraus unter dem Namen «Prager Frühling» der Aufstand gegen die sowjetische Diktatur in Mitteleuropa und in der Tschechoslowakei. Es war die Vision von einem «Sozialismus mit menschlichem Antlitz». Die ersten Ansätze zu ihrer Verwirklichung wurden nach wenigen Monaten von den Panzern des Warschauer Pakts unter russischer Führung niedergewalzt.

Aber die Texte von Franz Kafka haben ihre Sprengkraft behalten.

*«Der Prozess» ist auf dem Spielplan des Schauspielhaus Zürich. Die nächsten Vorstellungen finden am Samstag, 21.9. um 20 Uhr und am Sonntag, 22.9. um 15 Uhr statt.


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

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3 Meinungen

  • Portrait_Pirmin_Meier
    am 20.09.2013 um 11:50 Uhr
    Permalink

    Im Text von Kafka gibt es, wohl aus metaphysischen, psychologischen und anthropologischen Gründen, den guten Ausgang nun mal nicht, schon gar nicht die Hoffnung. «Die Hofferei muss aufhören", formulierte Günter Anders in diesem Zusammenhang. Im Vergleich zu Josef K. ist die Lage von Snowden immer noch vergleichsweise luxuriös. Der Hinweis auf die Kühle der Aufführung macht den Eindruck von Textnähe und ist insofern schon fast ein Kompliment.

    Ob die Schweiz den Weg in eine humanere Zukunft finden wird, bleibt offen. Historisch gesehen liegt bereits jetzt ein Weltrekord an Humanität vor, noch nie in der Geschichte der Menschheit ging man mit Verbrechern so human um wie in der Schweiz der Gegenwart: mit dem Messerkauf und den Reitstunden mit der lieben aber leider nun toten Adeline wird selbst Frischs Biedermann, der seinen Brandstiftern das Zündholz zur Verfügung stellte, noch getoppt.

  • am 22.09.2013 um 23:28 Uhr
    Permalink

    Wundervoll, Kafka’s Meisterwerk. Es passt in unsere Zeit.

    Für den Mord an der Sozialarbeiterin, was mich sehr betroffen macht als ehemaliger Streetworker, ich wurde auch schon verletzt, kann nicht der Humanismus verantwortlich gemacht werden. Denn der ist in der Schweiz am sterben. Das Land mit der höchsten Suizidrate, sogar bei Kindern, befand sich noch nie in einer solch gefühlskalten, zynischen, menschenverachtenden, materialistischen Zeit wie heute. Und genau dort liegen die Gründe dafür, dass die arme Frau ermordet wurde. Wenn ein Forensiker quotengeheilte zwangsmedikamentierte Soziopathen ungeschützt mit einer Frau in die Freiheit lässt, wo die andere Sorte, eben die legalen Verbrecher im teuren Mercedes rumfahren, die Elitereichen, die Lobbyisten, die Boni-Abzocker, die nichts, aber auch gar nichts je wirklich für unser Land getan haben, dann wundert es nicht, dass dann so was passiert. Eine Schande. Seit es die Verwahrung gibt, wollen Psychotherapeuten als Forensiker Karriere machen. Um Menschen und ihre Abgründe zu beurteilen, braucht es aber Einfühlungsvermögen, und nicht Hunger nach Karriere und Glanz in der Öffentlichkeit. Wenn Sie glauben unser Land sei Human, dann besuchen Sie mal meine Tante im Altersheim, welche man für 7000.- pro Monat mit einem Medikament welches in den Usa verboten ist, hier in Basel dahindämmern lässt. Wenn ihre Ersparnisse dann verbraucht sind, kommt sie in ein staatliches Billigst-Altersheim, wo billigst-Arbeitskräfte welche zum Teil nicht mal deutsch können den Körper weiterhin vermodern lassen. Ich war dort, in beiden Altersheimen, habe genau hingesehen. Und wenn in einem Altersheim wieder mal jemand den Plastiksack-Suizid macht, (Schlafmittel und Plastiksack über den Kopf, auf Platz 1 in der Altersheim-Suizidhitparade.) dann kommt es nicht mal in der Zeitung. Traurig, aber das ist die Realität. Jeder Mensch mit Einfühlungsvermögen kann einen Soziopathen auf 3 Meter fühlen, auch wenn noch keine Worte gefallen sind. Doch Menschen mit Gefühlen sind nicht erwünscht in unserer Eisblock-Gesellschaft.

  • am 22.09.2013 um 23:32 Uhr
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    Ich werde für Adeline Beten, wer weiss, was für Schrecken sie durchleben musste, bevor sie starb. Mehr kann ich leider nicht tun.

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