Kommentar

kontertext: Der alte Feuerteufel

Michel Mettler © zvg

Michel Mettler /  Seit dem 24. Februar haben wir nicht nur gebannt ostwärts geschaut, auch in unserem Inneren haben wir einstürzende Gebäude gesehen.

Seltsam ist es, in dieser putinesken Welt zu leben. Ein Kinderloser ertappt sich Mal für Mal bei derselben Frage: Was würde er seinen Nachkommen antworten auf die Frage, wie es dazu gekommen ist? Wie so schnell so vieles eingerissen werden konnte, dessen Errichtung ein halbes Leben erforderte? Wie könnte er ihnen die Zeit vor dieser scharfen Zäsur begreiflich machen, die Gründe für den Umschwung? Dieses Gefühl, von einem Tag auf den andern in ein Korsett aus Reaktion und Gegenreaktion gesteckt zu sein? Wie diesen plötzlichen Verlust von Freiheit erklären, beim Argumentieren, beim Einschätzen eigenen wie fremden Handelns?

Vielleicht würde er sagen: «Wir waren viele und wurden mehr. Auf einmal fühlten wir uns stark, sicher und nicht mehr allein, wenn wir von einer friedlichen Welt träumten, einer Welt, in der Energie nicht mehr aus dem Boden, sondern von der Sonne kommt, einer Welt, wo Blinde Bücher lesen und die Türen der Züge sich für Gehbehinderte öffnen. Von einer Welt, wo Waffennarren geächtet und ethnische Zugehörigkeiten unwichtig sind.» Vielleicht würde er auch sagen: «Ich glaube, wir haben gedacht, unsere Zahl schütze uns. Haben geträumt von einer Welt, in der Ärztinnen und Klempner sich abends zuprosten und wo es zwischen Büchern und Kinderbüchern keine Trennlinie mehr gibt. Von einer Welt, die nur noch einen Erziehungsleitsatz gelten lässt: ‹Kinder sind (kleine) Menschen.› Und währenddessen hat jener Mann, dessen Namen ihr kaum noch hören könnt, alles vorbereitet für seine Welt.»

Dann würde er ins Erzählen kommen und sagen: «Er hat sich und seines­gleichen bewaffnet. Er hat Befehlsketten errichtet und Geld gescheffelt, er hat Wahlen gefälscht und Widersacher zur Seite geräumt. Er hat alte Freunde ge­geneinander aufgehetzt. Er hat Rachegefühle geschürt. Er liess die Geschichte umschreiben und hat auf das Vergessen derer gezählt, die nichts zu verlieren haben, weder im Jetzt noch in der Vergangenheit. Er hat Sensible als Schwächlinge beschimpft, Mächtige an sich gebunden und die Verachtung für die gefördert, die er Redenschwinger, Warmwasserrebellen und Schönschwät­zerinnen nennt. Er hat das Schwert angebetet und den Kriegspilz in die Köpfe seiner Vasallen gepflanzt.»

Seltsam ist es, am Morgen in eine putineske Welt hinein zu erwachen, in der alle, die schon immer für die Befestigung unserer Häuser waren, ums Lager­feuer tanzen. In eine Welt, die aussieht, als gebe es keine Simone de Beauvoir, keinen Mozart und keine Anne Frank, nur Verbindungsoffiziere, Gefängniswärter und Redenschreiberinnen. In eine Welt, die uns selber zum Mischen von Beton verleitet – als sei das Leben nun ganz von seinen finsteren Anteilen her bestimmt. Seltsam auch, in dieser putinesken Welt Musik zu hören und aus dem Hintergrund und der Stille, vor der sie hörbar wird, Kriegsgetöse zu hören, Stimmen aus Kellern, das Rattern von Kettengliedern und schweres Schuhwerk auf Asphalt.

«Wir haben es uns anders ausgemalt», würde der Kinderlose vielleicht zu den Kindern seiner Freunde sagen. «Wir glaubten uns fast am Ziel. Denen, die sagten, der Mensch sei wölfisch in seinem Wesen, haben wir Zeichnungen von Schafherden geschickt, umkränzt mit lachenden Sonnen, Marzipanherzen und Dachlukarnen. Also hat man uns ‹Linke und Nette› geschimpft. Das war uns egal. Wir liessen uns gern dafür verspotten, denn wir setzten auf die Kraft des Keimlings, der den Asphalt sprengt. Allen Ernstes dachten wir, Militärbudgets würden schon bald so etwas sein wie die kleinen Posten für Brandschutz in unseren Gemeinderechnungen: Erinnerung an die Zeit, als der Feuerschauer noch Leben rettete, weil immer wieder Brände tobten in den Dörfern und Städten; Erinnerung an eine Zeit, als der Feuerteufel ein reales Gespenst war.

Jetzt steht dieses Gespenst wieder unter der Tür, hyperreal, und vielleicht lässt es uns nicht einmal Zeit, den Kindern zu erklären, wie aus unseren Plänen Träume wurden und wie wir mit diesen gescheitert sind. Allen Ernstes.



Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Michel Mettler, geb. 1966, tätig als freiberuflicher Autor und Herausgeber, interessiert sich für die Geschichtlichkeit von Gegenwart, Wortgebrauch und Erzählungen, die der Subtext schreibt. Zuletzt hat er als Co-Herausgeber den Band DUNKELKAMMERN veröffentlicht (Suhrkamp 2020).

Unter «kontertext» schreibt eine externe Gruppe von Autorinnen und Autoren. Sie greift Beiträge aus Medien auf und widerspricht aus politischen, journalistischen, inhaltlichen oder sprachlichen Gründen. Die Gruppe ist dabei, sich neu zu konstituieren. Zurzeit schreiben regelmässig Silvia Henke, Mathias Knauer, Michel Mettler und Felix Schneider.
_____________________
Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.

Zum Infosperber-Dossier:

GegenStrom_2_ProDirectFinance_XX_heller

kontertext: Alle Beiträge

kontertext widerspricht Beiträgen anderer Medien aus politischen, inhaltlichen oder sprachlichen Gründen.

War dieser Artikel nützlich?
Ja:
Nein:


Infosperber gibt es nur dank unbezahlter Arbeit und Spenden.
Spenden kann man bei den Steuern in Abzug bringen.

Direkt mit Twint oder Bank-App



Spenden


Die Redaktion schliesst den Meinungsaustausch automatisch nach drei Tagen oder hat ihn für diesen Artikel gar nicht ermöglicht.
mm_mg_1793b_sw_web

Michel Mettler

Michel Mettler, geb. 1966, lebt als freiberuflicher Autor und Herausgeber in Klingnau. Er interessiert sich für die Geschichtlichkeit von Gegenwart und Erzählungen, die der Subtext schreibt. Zuletzt hat er als Co-Herausgeber den Band DUNKELKAMMERN veröffentlich (Suhrkamp 2020).

4 Meinungen

  • am 22.03.2022 um 12:12 Uhr
    Permalink

    Als ausgezeichneter Veteran der für UNO, Nato und Deutschland im Krieg war, was zu gern als Friedenseinsatz deklariert wird, hab ich zuviel gesehen als dass ich an das gute im Menschen glauben kann. Ein Krieg muss auch wirtschaftlich sinnvoll sein oder warum gibt es keine Mission im Jemen?
    Es geht um Geld und den Geldhabern mit aller Macht und allen Mitteln und deren Vermehrung. Geld zu Geld, zur Not mit Gewaltund wer meint aus Unkenntnis der Bedürfnisse fremder Länder und deren Bewohner und Intolleranz gegenüber andersdenkender einen Frieden und den Ausverkauf von Missgunst, Neid und persönlicher Freiheit herbeiträumen zu können, wird, wie auch diesmal, eines besseren belehrt.
    Das sich das irgendwann enmal jemand nicht mehr gefallen lässt und als letzten ausweg die Gewalt wählt, wundert dann niemanden mehr.
    Rein Fiktiv haben viele, viele «Andere» auch ein gewichtiges Motiv an dem was passiert ist und Putin in die Schuhe gelegt wurde. So schlecht sehe ich die Welt ….

  • am 22.03.2022 um 17:54 Uhr
    Permalink

    Ja, Herr Mettler, alle Ihre geschilderten Hoffnungen, habe ich, 87, auch aufgebaut und geteilt. Jetzt sind wir zurück auf Feld 1. Die Menschheit ist nicht willens und nicht fähig, ihre Situation auf dem Planeten zu begreifen.
    Acht Milliarden, alle unter Atomschutz in «Sicherheit». Sicherheit nach Putin, Kriegsverbrecher, der in schönster Krawatte, mit dem eingeschüchterten westen Katz und Maus spielt. Habe geglaubt, mit Kriegsverbrechern werde nicht verhandelt. «Fort musst du Vogt, deine Uhr ist abgelaufen…» Was Schiller Tell sagen liess, sollte die frei Welt Putin zu sagen wagen und auch umsetzen.

  • am 23.03.2022 um 18:00 Uhr
    Permalink

    Wer Kindern den Krieg erklären will, muss sie nur daran erinnern, wie sie sich mit Bruder/Schwester/Kollege letztes Mal sehr handfest in den Haaren lagen. Manche Kinder zoffen sich ja täglich und das auch noch handgreiflich – sollte echt nicht soo schwierig sein, zu begreifen, auch für einen Fünfjährigen nicht.

  • am 24.03.2022 um 10:37 Uhr
    Permalink

    Die Ausbeute an Hoffnung in der Meinungsbox ist genauso ernüchternd wie in der Realität und unserem Alltag.Also gehe ich wieder meiner Arbeit nach und behandle, pflege und betreue psychisch Kranke.Auch dort kaum Heilung,keine Wunder und der Fortschritt in kleinen Schritten, auch vielfach ein Schritt vor und zwei zurück.Ohne Hoffnung und die Überzeugung hier in der Gegenwart etwas zu bewegen und einen Unterschied zu machen,ist diese Aufgabe kaum für längere Zeit machbar! Daran zu verzweifeln ist keine Alternative! Es ist die Achtsamkeit und Liebe die mich und viele Menschen jeden Tag von Neuem Vertrauen schaffen lässt um dass Unmögliche zu versuchen,der Friede bekommt einen höheren Stellenwert als dass blosse urteilen über Andere.

Comments are closed.

Ihre Meinung

Lade Eingabefeld...