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Governor Madeleine M. Kunin mit Präsident Barack Obama am Kongress der demokratischen Frauen © Kunin

«Es gibt Rassismus in dieser Kampagne»

Robert Ruoff /  Madeleine Kunin, ehemalige Botschafterin in der Schweiz, sieht die US-Wahl als Entscheidung für oder gegen eine soziale Demokratie.

Madeleine May Kunin stammt aus einer jüdischen Schweizer Familie. Sie wurde 1933 in Zürich geboren und ist 1940 mit ihrer verwitweten Mutter ausgewandert in die USA. In New York und Vermont hat sie Journalismus studiert. Als Mitglied der Demokratischen Partei hatte sie von 1972 bis 1999 politische Ämter: Zuerst als Abgeordnete und dann als Vizegouverneurin in Vermont, wo sie anschliessend als erste Frau dreimal zur Gouverneurin gewählt wurde (1984 – 90). Umwelt, Bildung und Kinder standen im Zentrum ihrer Politik. Danach war sie unter Bill Clinton stellvertretende Bildungsministerin (1993 – 97) und Botschafterin der USA in der Schweiz und Liechtenstein (1996 – 99).
Sie engagiert sich bis heute für die demokratische Partei und insbesondere für die Frauenbewegung. Seit 2009 hat sie dazu mehrere Bücher veröffentlicht, jüngst: The New Feminist Agenda: The Next Revolution for Women, Work and Family. Chelsea Green Publishing 2012.
Madeleine M. Kunin ist auch im Wahlkampf noch aktiv, vor allem in den umkämpften Swing-States. In New Hampshire ist sie von Haus zu Haus gegangen, um Wählerinnen und Wähler zu überzeugen, und in Ohio hat sie sich an den üblichen Telefonanrufen beteiligt. «Es kommt auf jede Stimme an», sagt sie.
Das Interview haben wir genau eine Woche vor der Wahl geführt.

Gouverneur, Sie sind Demokratin, also wollen Sie, dass Obama gewinnt. Wird er?

Madeleine M. Kunin: (lacht) Ich bin keine Wahrsagerin. Aber ich denke, Obama hat eine gute Chance. Der Wirtschaft geht es besser, und der Kontrast zwischen ihm und Romney ist dramatisch.

Inwiefern?

Die beiden sehen Amerika völlig anders. Es geht um die Frage: Sind wir eine Demokratie, in der wir uns um einander kümmern. Oder sind wir ein Land, in dem jeder auf sich selbst gestellt ist, und in dem wir die Leute allein lassen.

Die knappe Wahl wäre doch wohl nicht nötig gewesen; Obama hatte bis zur ersten Fernsehdebatte einen Vorsprung.

Das hat schwer geschadet und Romney plötzlich wieder ins Spiel gebracht. Er wurde in dieser Debatte plötzlich eine andere Person mit anderen Positionen. Das würde ihn zu einem gefährlichen Präsidenten machen, weil man nicht weiss, wo er steht.

Haben Sie eine Erklärung für Obamas schwachen Auftritt?

Ich denke, er hat falsch eingeschätzt, was Romney tun würde, und es war ihm sehr unwohl bei Romneys Angriff.

Dazu kommt wohl, dass er als Schwarzer Opfer seiner eigenen Selbstkontrolle wurde. Für einen Schwarzen in Amerika ist es immer heikel, zu emotional zu sein, oder zu zornig, weil das den Leuten Angst macht.

Also die Rassenfrage – ein schwieriges Thema…

…Ja, aber es gibt Rassismus in dieser Kampagne. Mehr als die Hälfte der weissen Amerikaner sind noch immer misstrauisch gegenüber schwarzen Amerikanern, wie die jüngste Umfrage zeigt. Aber das läuft im Verborgenen. Ich hoffe nicht, dass es die Wahl entscheidet. Aber die Vehemenz, mit der manche Leute sagen: «Wir müssen Obama los werden!», das ist schon fast Hass.

Obama hat sich aus schwierigen Verhältnissen hochgearbeitet. Dem wohlhabenden Romney war der Weg zum Erfolg schon vorgezeichnet. Verkörpern Barack Obama und Mitt Romney zwei verschiedene Lager in Amerika?

Zum Teil bestimmt. Obamas Geschichte ist immer noch ein Stück des «American Dream», und er hat selber mit armen Menschen gearbeitet. Deshalb findet er besser Kontakt zur Mittelklasse und zu Menschen, die um ihre Existenz kämpfen. Romney versucht das auch, aber ich denke, er versteht es nicht wirklich.

Also haben wir auf der einen Seite den Intellektuellen, der sozial engagiert ist, und auf der anderen Seite den Business-Mann, der den freien Markt als Triebkraft der Gesellschaft sieht?

Dieser Gegensatz zieht sich durch die ganze Geschichte Amerikas. Demokraten haben mehr Sinn für die Gemeinschaft und für wechselseitige Verantwortung. Sie sehen deshalb auch für den Staat eine wichtige Rolle im Leben jedes Einzelnen.
Die Republikaner waren von Anfang gegen das Konzept der sozialen Sicherung durch den Staat. Auch deshalb sind sie gegen Obamas neue Gesundheitsreform, und deshalb wollen Romney und Ryan auch Medicaire und Medicaid, die alten Einrichtungen der Gesundheitsfürsorge, wieder privatisieren.
Aber diese Einrichtungen sind mittlerweile bei den Leuten sehr populär. Wenn sie Romney statt Obama wählen, würden sie eigentlich gegen ihre eigenen Interessen stimmen.

Gilt das nicht auch für die Frauen, bei denen Obama vor vier Jahren grossen Vorsprung hatte. Jetzt scheinen einige zu Romney abzuwandern?

Vielleicht weil Romney auch hier wieder seine Haltung geändert hat und sich zu Fragen von Empfängnisverhütung und Abtreibung wieder gemässigter äussert. Aber wir haben immer noch eine grosse Kluft zwischen den Geschlechtern. Während mehr Frauen Obama wählen, stimmen mehr Männer für Romney, vor allem weisse Männer.

Romney, sagen Sie, ändert immer wieder seine Position, um den Wählerinnen und Wählern zu gefallen und zu gewinnen. Offenbar erfolgreich. Manchmal mögen Menschen Politiker mit einem ungebrochenen Verhältnis zur Macht?

Alle Politiker wollen gewinnen und tun alles dafür. Aber ich denke, Romney geht noch einen Schritt weiter: Er verdreht die Wahrheit. Oder ganz offen gesagt: Romney lügt. Wie in dem neuesten Werbespot über die Automobilindustrie im wahlentscheidenden Swing-Staat Ohio, wo er behauptet, Chrysler verlagere Arbeitsplätze nach China…

…was Fiat-Chrysler Chef Sergio Marchionne persönlich zu einer öffentlichen Stellungnahme und den Chrysler-Sprecher zur Bemerkung veranlasste, das sei «schlimmster Zynismus».

Es ist eine schlichte Lüge. Jeep baut in China die Produktion aus wegen der steigenden Nachfrage, aber ohne die geringste Verlagerung von Arbeitsplätzen. Es ist wohl noch nie vorgekommen, dass ein Unternehmen so in die amerikanische Wahlkampfdiskussion eingreifen musste.

Man kann nur hoffen, dass das amerikanische Volk das durchschaut.

Nun macht der amerikanische Wahlkampf insgesamt den Eindruck einer grossen Marketing-Operation, in dem man den Gegner schlecht macht, seine eigenen Absichten kaum bekannt gibt und vor allem den Menschen erzählt, was sie gerne hören wollen.

Es ist schon sehr verschieden vom Wahlkampf in der Schweiz. Geld spielt eine grosse Rolle. Das Oberste Gericht der USA hat 2010 die Grenzen für Wahlspenden für Unternehmen aufgehoben, auf Antrag des konservativ-republikanischen Aktionskomitees «Citizens United». Das war verhängnisvoll. Und das hat zu dieser scheusslichen Kampagne geführt.

Ich hoffe, dass die Leute sich in Zukunft gegen diese Art von Wahlen wehren werden.

Das würde eine neue Entscheidung des Obersten Gerichts verlangen?

Genau. Und das wird nicht einfach. Das braucht wieder eine Verfassungsänderung und wohl auch neue Gesetze. Daran werde ich nach den Wahlen von 2012 arbeiten.

Nun beteiligt sich Obama aber an dieser Art von Kampagne…

…er hat keine Wahl. Er muss das tun, zur Selbstverteidigung, leider…

…was das Geld betrifft…

…er muss gleich viel Geld sammeln…

…aber sein Team macht auch eine Negativ-Kampagne mit «attack ads», aggressiven Werbespots…

Das ist eine harte Entscheidung. Nach der ersten Debatte wurde Obama kritisiert, weil er nicht zurückgeschlagen hat. Aber in diesem ganzen Geld- und Werbe-Ding müssen Sie zurückschlagen. Sie haben nur die Wahl zwischen zwei Übeln. Sie müssen gegenhalten, auch wenn es nicht schön ist. Das ist die Realität.

Auch Mitt Romney kämpft mit Widersprüchen. Er predigt die Freiheit des Marktes und verbündet sich mit konservativen Gruppen, die ihre Moralvorstellungen anderen Menschen durch Gesetzgebung ziemlich autoritär aufzwingen wollen?

Sie haben wie alle das Recht auf ihre eigenen Überzeugungen. Aber es ist schon die Frage, ob man diese Auffassungen für alle vorschreiben darf.

Wird Romney nach seiner Wahl diese Leute in wichtige Positionen bringen?

Ich denke schon. Ich weiss es selbstverständlich nicht. Aber er wird seine Schuld begleichen müssen, wie wir sagen. Ja, ich befürchte einen konservativen Rückschlag.

Ihre Familie stammt aus der Schweiz. Sie waren in der Schweiz als Botschafterin der USA. Wie sehen Sie die künftigen Beziehungen?

Die Schweiz hatte immer gute Beziehungen zu beiden Parteien. Ich sehe da keine dramatischen Änderungen, ob nun Obama bleibt oder Romney kommt.

Und im Steuerstreit?

Romney sagt, er will Steuerschlupflöcher stopfen. Dann müsste er noch härter vorgehen gegen die Schweizer Banken. Aber er hat auch Sympathien für die Wall Street. Letzten Endes denke ich, er könnte in der Bankengeschichte etwas milder sein.

Die USA kritisieren die Schweiz auch, weil sie nicht alle Iran-Sanktionen mitmacht.

Trotzdem würde ich sagen: die Beziehungen zwischen der Schweiz und den USA sind in Ordnung.

Obama hat es nicht geschafft, Frieden in den Nahen Osten zu bringen. Schafft er das in einer zweiten Amtszeit?

Er hat in der ganzen Welt wieder Ansehen für Amerika gewonnen, vom Tag seiner Wahl an. Wenn er in den USA so populär wäre wie in der Welt, wäre das ein leichter Wahlsieg.

Der Nahe Osten ist aber tatsächlich gefährlicher geworden. Obama hat versucht, mit Netanyahu zusammen zu arbeiten. Aber das ist schwierig. Netanyahu ist ein Falke, eine Kriegsgurgel.

Aber es gibt auch Erfolge. Wir haben bei der Revolution in Lybien eine gute Rolle gespielt. Die Tötung Bin Ladens war eine grosse Leistung. Das brauchte enorm viel Mut und grosse Planung. Obama verdient grosse Anerkennung für seine Aussenpolitik.

Es bleibt die Frage nach dem Friedensprozess zwischen Israel und den Palästinensern…

…das läuft nun schon seit hundert Jahren. Ich betrachte das nicht als Scheitern.

Die grosse Frage ist das Problem mit Iran. Wir müssen eine Regelung finden in diesem Konflikt, ohne wieder einen Krieg anzufangen. Niemand will das.

Gibt es nicht Leute, die einen Militärschlag befürworten und sogar einen Krieg mit Iran riskieren?

Ich glaube, dass sie eine Minderheit sind, hoffentlich.

Und in den USA?

Es gibt ein paar Falken, aber ich denke: Wenn wir unsere Lektion aus Irak und Afghanistan nicht gelernt haben, dann haben wir wirklich ein Problem.

Und im Umfeld von Romney?

Ja, da gibt es ein paar. Aber wenn man glauben kann, was er in der letzten Debatte gesagt hat, dass wir verhandeln und so das Problem lösen sollen – ich denke, wir sollten glauben, was er gesagt hat.

Obama vertrauen Sie?

Das tue ich sicher.

Ich danke Ihnen.


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine. Das Interview ist zuerst in der "Südostschweiz am Sonntag" erschienen.

Zum Infosperber-Dossier:

USA_Flagge_Quimpg

US-Wahlen 2012

Am 6. November wird nicht nur der Präsident, sondern auch der Kongress gewählt. Mit Folgen für die Welt.

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