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Von Medien und Politik ignorierte Flüchtlingslager © cc

Die vergessenen Palästinenser in Nordafrika (2)

Urs P. Gasche /  Die Sahrauis aus Nordwestafrika haben keine Lobby. Die Medien berichten fast nichts. Seit über dreissig Jahren warten sie in Camps.

«Das Drama in der Westsahara gehört zu den beharrlich vernachlässigten Themen», sagt der langjährige Maghreb-Korrespondent Alexander Gschwind. Aus diesem Grund hat er diesen «Palästinensern Nordafrikas» in seinem soeben erschienenen Buch «Diesseits und jenseits von Gibraltar»* ein ganzes Kapitel gewidmet.

«Erschreckende Parallelen»

Die Parallelen mit den Palästinensern seien «erschreckend», auch wenn die Palästinenser viel mehr Aufmerksamkeit erregen: «Mehr als 150’000 Sahrauis waren im November 1975 vor der marokkanischen Invasion geflohen und leben seither unter erbärmlichen Verhältnissen in riesigen Flüchtlingslagern im algerischen Exil.» Ausser ein paar kleinen Hilfswerken würde sich niemand mehr für ihr Schicksal interessieren.

Den Uno-Resolutionen folgen keine Taten

Die Uno würde zwar alle paar Jahre mit einer Resolution das Recht auf Selbstbestimmung der Sahrauis bestätigen: «Aber den Worten folgen keinerlei Taten, weil Marokkaner und Franzosen die besseren Freunde auf der Weltbühne haben.» Deshalb sei auch der im Jahr 1991 von allen Beteiligten gebilligte Uno-Friedensplan für die Westsahara bis heute toter Buchstabe geblieben. Er sah eine international überwachte Volksbefragung über die politische Zukunft des Gebiets vor. Marokko und seine Schutzmächte wie Frankreich hätten die Umsetzung des Friedensplans immer wieder mit Erfolg hintertrieben.

«Schlimmer als in palästinensischen Lagern»

Ende der Siebzigerjahre hatte Alexander Gschwind zum ersten Mal Flüchtlingslager der Sahrauis besucht: «Was wir dort antrafen, war unendlich viel schlimmer als alles, was ich zwei Jahre zuvor in palästinensischen Lagern im Libanon und in Syrien gesehen hatte.»

Auch fast vierzig Jahre später lebten in den Lagern von Tindouf (Algerien) inzwischen fast eine Viertelmillion sahrauische Flüchtlinge ohne realistische Hoffnung auf Heimkehr. Alle Lösungsversuche für eine Heimkehr seien «immer wieder an der Unnachgiebigkeit der marokkanischen Besatzer gescheitert, die sich über sämtliche Resolutionen der Uno hinwegsetzten – wie die Israelis gegenüber den Palästinensern.» Da nützte auch das Ausrufen einer sahrauischen Exil-Republik in den Lagern von Tindouf nichts.

Gravierende Folgen von Unterernährung

In den weitgehend alleingelassenen Flüchtlingslagern litten viele an jahrelanger Mangelernährung. Alexander Gschwind zitiert zwei Ärzte, die für «Médecins sans frontières» den Gesundheitszustand der Flüchtlinge untersuchten: Innert einer Generation hat die durchschnittliche Körpergrösse um zehn Zentimeter abgenommen, ihr durchschnittliches Körpergewicht sogar fast um einen Drittel.

Der Mangel an Vitaminen und Eiweiss hat verheerenden Spuren hinterlassen. Gschwind begegnete auch einem Augenarzt aus Lyon, der jedes Jahr einen Ferienmonat im Lager von Rabouni verbrachte und dort Dutzende von Augenleiden operierte, die er vorwiegend auf Eiweissmangel zurückführt. Im Gepäck hatte er jeweils möglichst viele kleine Rahmkäse der legendären Marke «La vache qui rit», die er den Kindern zusteckte.

Unmut in Spanien

Gschwind berichtet auch von Dutzenden von Lehrern aus Spanien, die mit spanischem Schulmaterial die spanische Sprache unterrichten. Bis heute seien in der spanischen Bevölkerung Wut, Scham und Unverständnis über den überstürzten Abzug aus der Westsahara verbreitet. Der frischgebackene und überforderte Franco-Nachfolger König Juan Carlos habe die Sahrauis den marokkanischen Invasoren ausgeliefert. Allerdings habe Washington dem König mit einem Waffen- und Munitions-Lieferstopp gedroht, falls er sich einer marokkanischen Besetzung widersetzen sollte. In der Westsahara liegen grosse Phosphatminen und in den Küstengewässern gibt es reiche Fischbestände, deren Ausbeutung bis heute zwischen Marokko, Spanien und der EU umstritten seien. Seit zehn Jahren würden auch Offshore-Ölvorkommen vermutet.
Noch immer nähmen rund zweitausend spanische Gastfamilien jedes Jahr ein Flüchtlingskind für einen Monat bei sich auf. Besonders stark sei die Solidaritätsbewegung mit den Sahrauis auf den benachbarten Kanarischen Inseln, wo man sich mit den ehemaligen Landsleuten bis heute aufs Engste verbunden fühle.

Verantwortung der Weltöffentlichkeit

Seit vierzig Jahren kann die Monarchie in Marokko ihre völkerrechtswidrige Besatzungspolitik in der Westsahara nahezu unbehelligt durchziehen. Schuld daran sei die «Komplizenschaft der marokkanischen Zivilgesellschaft». Selbst sonst noch so kritische Oppositionelle und Intellektuelle würden sich «an der systematischen Tabuisierung dieses Themas beteiligen, oft mit demselben Chauvinismus, nicht selten auch Rassismus wie die Propagandisten des marokkanischen Königs».
Eine «Riesenverantwortung» trage allerdings auch die Weltöffentlichkeit. Anders als bei andern Konflikten «mahnt bezüglich der Westsahara so gut wie niemand die Durchsetzung des Völkerrechts und der Uno-Beschlüsse an».
Auch unsere Medien berichten praktisch nie über das Schicksal dieser über 200’000 Flüchtlinge. Eine löbliche Ausnahme war eine Reportage von David Signer im März 2014 in der NZZ.
Selbst die grossen Menschenrechtsorganisationen und Hilfswerke hätten die Sahrauis längst aus ihrem Blickfeld verloren, stellt Gschwind fest: «Mit diesem vergessenen Volk lassen sich weit weniger spektakuläre Spendenkampagnen führen als mit medial weit ‹dankbareren› und ‹prominenteren› Dramen rund um den Erdball.»

Petiton an den Uno-Sicherheitsrat
In der Schweiz fordert das «Comité suisse de soutien au peuple sahraoui» gegenwärtig mit einer Petition den Sicherheitsrat der Uno einmal mehr auf, das schon längst beschlossene Referendum für die Selbstbestimmung der Westsahara endlich durchzuführen. Die Sammlung der Unterschriften dauert vom 1. Januar bis 15. August 2016.

(2) Dies ist der zweite Teil über Alexander Gschwinds Buch. Lesen Sie den ersten Teil: «Nur DDR-Schussanlagen gibt es in Melilla nicht: Der Grenzschutz um Spaniens Nordafrika-Enklaven erinnert an die Berliner Mauer.»


*«Diesseits und jenseits von Gibraltar»
Alexander Gschwind ist Autor des Buches «Diesseits und jenseits von Gibraltar». Wer sich für die Länder Spanien, Portugal, Marokko, Algerien oder Tunesien interessiert, findet in diesem Buch nötiges Hintergrundwissen. Es ist spannend zu lesen dank persönlichen Erlebnissen, leicht erfassbaren historischen, kulturellen und politischen Zusammenhängen, aufgelockert mit Fragen an den Autor, Lexika-Teilen und Fotos.


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine. Alexander Gschwind war ab 1978 Auslandredaktor bei Schweizer Radio DRS (heute SRF). Er berichtete regelmässig in den Sendungen «Echo der Zeit» und «International». Er schrieb auch für verschiedene Zeitungen.

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3 Meinungen

  • billo
    am 20.01.2016 um 12:10 Uhr
    Permalink

    Ich gerate immer in grossen Zorn durch fortgesetzte Ungerechtigkeit, aber selten derart, wie wenn mir wieder einmal einen Artikel über die Vertreibung und Unterdrückung der Sahrouis im äussersten Nordwesten Afrikas unter die Augen kommt.
    Selten genug liest man überhaupt etwas über dieses seit 1975 vollkommen entrechtete und all seiner Länder und Ressourcen beraubten Volkes. Marokko hat sich die ehemalige spanische Kolonie Westsahara einfach unter den Nagel gerissen, mit tatkräftiger Unterstützung vor allem von Frankreich und den USA.
    UNO-Resolutionen haben wiederholt das Selbstbestimmungsrecht der Sahrouis bestätigt, und wiederholt wurden Volksabstimmungen versprochen; aber die eben genannten Verbrecherstaaten im Verein mit den eigentlichen privaten Profiteuren haben es immer wieder verstanden, die Demokratie im Wüstensand zu versenken.

    Ich weiss nicht, ob diese Petition etwas bewirkt. Ich weiss nur derzeit kein anderes Mittel, die unerträgliche, alle Menschen beschämende und meist totgeschwiegene Situation endlich aufzulösen.

  • am 20.01.2016 um 14:40 Uhr
    Permalink

    Vor über 40 Jahren fragte mich der legendäre Mullah Mustapha Barzani in den Bergen Kurdistans, ob es denn seine Peshmarga gleich machen sollten wie die Palästinenser und Flugzeuge vom Himmel holen. Ich konnte ihm — und kann es heute auch nicht seinem Sohn — eine ehrliche Antwort geben.

  • am 21.01.2016 um 20:15 Uhr
    Permalink

    Ja, wenn es den Mächtigen (unter anderem in Washington) nicht passt, dann nützt weder ein kriegerischer Weg, noch Terror noch jegliche friedliche Versuche etwas. Es passt halt einfach nicht.

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