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Nuray Mert in ihrer Wohnung in Istanbul. © Pascal Mora

«Die türkische Bourgeoisie hat kapituliert»

Amir Ali und Philippe Kropf /  Die Publizistin Nuray Mert sieht im autoritären Stil der Regierung Erdogan die grössere Gefahr als im Vormarsch des Religiösen.

Nuray Mert stand immer auf der falschen Seite. Die Kolumnen der Istanbuler Politikwissenschaftlerin provozieren: Früher brachte sie ihr eigenes, bürgerliches Milieu gegen sich auf, weil sie das Kopftuch-Verbot aufheben wollte. Mittlerweile ist sie zur Zielscheibe der religiös-konservativen AKP-Regierung geworden. Erst kürzlich griff sie Premierminister Erdogan wegen ihrer Kritik an seiner Kurdenpolitik persönlich an.

INTERVIEW

Der türkische Regierungschef legt sich immer mehr mit Israel an. Wird Erdogan die Situation eskalieren lassen und einen offenen Konflikt der türkischen Marine mit der israelischen Armee riskieren?

Das glaube ich nicht. Die Türkei hat derzeit einfach sehr viel Spielraum, um Druck auf Israel aufzubauen. Das hat zwei Gründe: Einerseits sieht der Westen die Türkei als ausgleichende Kraft gegen den iranischen Einfluss in der Region. Um diese Rolle wahrzunehmen, braucht Erdogan einen gewissen Einfluss – und ein Schlüssel dazu ist antiisraelische Rhetorik, wie man bei seinem Auftritt in Kairo gesehen hat. Zum anderen hat der Krieg gegen den Terror Washington viel Ansehen im Nahen Osten gekostet. Der abgestorbene Friedensprozess im Nahostkonflikt und die Politik der israelischen Regierung tun ihr übriges. Israel ist für Obama eine Bürde, ein sehr teurer Verbündeter geworden, dessen Eskapaden er limitieren muss. Von all dem profitiert Erdogan derzeit – aber das kann sich schnell wieder ändern.

Entspricht denn Erdogans harter Kurs gegenüber Israel seiner Überzeugung oder will daraus vor allem politisch Kapital schlagen und Anführer der muslimischen Welt werden?

Erdogan ist beides: Ideologe und pragmatischer Machtpolitiker. Er denkt, dass seine Haltung mit der aktuellen internationalen Stimmung zusammenpasst und lebt sie aus. Doch wie gesagt, dieser weltpolitische Zustand kann sehr schnell wieder vorbei sein. Was Erdogan auch nicht begriffen hat: Kein nicht-arabischer Akteur kann alleiniger Anführer in der Region sein. Erdogan ist allzu selbstsicher geworden.

Wie kommt der Kurs in der Türkei selbst an?

Antisemitismus ist in der Türkei verbreitet. Nicht nur bei den Islamisten, sondern im gesamten politischen Spektrum. Zudem ist die türkische Gesellschaft stark nationalistisch geprägt, die Vorstellung von einem modernen osmanischen Imperium ist ziemlich lebendig. Erdogans Kurs wird also mehrheitlich geschätzt. Er schürt diese Stimmung erfolgreich.

Das erstarkte Selbstbewusstsein beruht auch auf messbaren Faktoren: Die Gesellschaft hat sich entwickelt, die Wirtschaft wächst, der Staat ist demokratischer geworden.

Oh, das haben wir so oft gehört (lacht). Es ist unbestritten, dass es der türkischen Wirtschaft gut geht, zumindest nach den Massstäben neoliberaler Wirtschaftspolitik . Abgesehen von der Arbeitslosigkeit und vom steigenden Leistungsdruck fühlen sich die Leute viel besser.

Profitieren denn alle davon?

Unsere westlichen Freunde sehen das gerne so. Es gibt diesen Diskurs, der vom Westen stark unterstützt wird: Die Kritik an der Regierung komme von einer kleinen Randgruppe, einer entfremdeten Elite, die zwar einen wachsenden Konservatismus beklage, aber sich eigentlich nur vor dem Verlust ihrer Privilegien fürchtet.

Was ist daran falsch?

Die kritischen Stimmen, die manchmal tatsächlich etwas Paranoides haben, kommen aus weiten säkularen Kreisen, nicht nur aus der bürgerlichen Oberschicht.

Angesichts ihrer anhaltenden Wahlerfolge muss die AKP aber auch Teile dieser säkularen Kreise überzeugt haben.

Oh ja. Besonders bei den zweiten Parlamentswahlen von 2007. Fünf Jahre zuvor, als die AKP erstmals an Wahlen teilnahm, versuchte das Bürgertum noch, den Aufstieg der Religiösen ins Zentrum der Macht zu verhindern. Nach Erdogans erster Amtszeit aber unterstützten sie die AKP – gerade wegen ihrer wirtschaftlichen Interessen.

Die einst mächtigen, säkularen Eliten haben sich also dem AKP-Projekt des «grünen Kapitals», dem islamischen Kapitalismus aus Anatolien, angeschlossen?

Zu Beginn waren die Säkularen sehr erpicht darauf, in der neuen Wirtschaftsordnung mitspielen zu dürfen, wie sie es zuvor unter den anderen Regierungen taten. Dennoch bleiben sie heute weitgehend davon ausgeschlossen. Das ist ein kulturelles Phänomen, ein Graben zwischen den Teilen der Gesellschaft. Wir müssen heute von der Kapitulation der türkischen Bourgeoisie sprechen.

Dann spricht aus der Kritik an der Regierung der Frust, das verletzte Selbstverständnis.

Ja und nein. Es gibt in diesen Kreisen grosse Ängste vor den Religiösen, die teilweise an Paranoia grenzen. Das bürgerliche Verständnis von Säkularismus ist sehr rigid in der Türkei, viele lehnen jedes Anzeichen von Religiosität in der Öffentlichkeit kategorisch ab…

… zum Beispiel beim Kopftuch-Verbot an Universitäten und Ämtern. Weshalb haben sie sich dort so vehement auf die Seite der Religiösen gestellt?

Ich kämpfe seit 15 Jahren gegen diesen fundamentalistischen Säkularismus. Das Kopftuch-Verbot habe ich immer als ungerecht empfunden. In den 1990ern war ich darum eine Art Heldin der Religiösen, die damals in der Opposition waren. Für die Säkularen wurde ich zum Feind. Ich weiss also sehr genau, wie es sich anfühlt, in die radikale Ecke gestellt zu werden, bloss weil man legitime Rechte einfordert.

Sie halten die Angst der westlich Orientierten vor der AKP für übertrieben?

Es gibt berechtigte Bedenken. Manche Leute fühlen sich bedroht, sie spüren einen wachsenden gesellschaftlichen Druck auf ihren weltlichen Lebensstil. Aber der religiöse Konservatismus der Regierung beunruhigt mich viel weniger als ihre zunehmend autoritäre Haltung.

Die Intoleranz gegenüber der politischen Opposition…

… die viel mehr Aufmerksamkeit verdient, als diese Islam-Paranoia! Die einzigen Irritationen des säkularen und westlich orientierten Bürgertums waren jahrelang, dass der Premierminister in die Moschee geht und dass seine Frau ein Kopftuch trägt. Niemand hat sich dem autoritären Element entgegengestellt, das die türkische Politik immer schon geprägt hat. Der säkulare Autoritarismus wurde vom konservativen Autoritarismus abgelöst und niemand hat diese Entwicklung kritisiert.

Die Türkei war immer ein wichtiger Partner für den Westen, nicht nur als einziges muslimisches Nato-Land. Was bedeutet diese islamisch-konservative Wende für die Türkei auf dem internationalen Parkett?

Die Türkei wird in den grossen Zügen nicht weiter aus der Reihe tanzen. Bei der Nato-Intervention in Libyen haben wir uns zwar gesperrt, aber das hat nichts zu tun mit der islamischen Prägung der Regierung. Das hat praktische Gründe, die Türkei hat viel investiert in Libyen. Schauen sie sich unser Verhältnis zum Iran an. Als Nato-Land sitzen wir natürlich im andern Lager, unsere Freunde im Nahen Osten sind auch jene des Westens, die so genannten sunnitischen Monarchien und Regimes. Aber die Türkei hat immer stark darauf geachtet, die Freundschaft zum Iran nicht aufs Spiel zu setzen. Das war auch vor dem Machtantritt der AKP so. Der Iran hat mit der Kurdenfrage ein starkes Druckmittel.

Wie nutzt Teheran dieses Druckmittel?

Die Iraner beobachten die türkische Aussenpolitik sehr genau. Haben sie das Gefühl, wir schwenkten zu stark auf einen westlichen Kurs ein, dann bombardieren sie auch schon mal kurdische Stellungen im Nordirak und erinnern die Regierung in Ankara damit an unsere gemeinsamen Interessen. Das ist erst gerade kürzlich passiert, als sich die Türkei in Bezug auf Syrien engagierte, die Botschaft war klar: «Seid vernünftiger, besinnt euch!»

Im Westen fragt man sich vor allem, warum die Türkei nicht fähig ist, endlich die Kurdenfrage friedlich zu lösen.

Keine Regierung wollte das tatsächliche Ausmass und die Komplexität des Problems anerkennen. Die Forderungen der Kurden werden nicht gehört, sie sind natürlich auch schwer zu schlucken. Besonders jetzt, wo die Kurden offen und sehr forsch einen eigenen Staat fordern. Obwohl das eigentlich absehbar war, dass diese Bewegung sich wieder radikalisieren würde. Es ist für die Regierung kaum möglich, mit dieser Situation richtig umzugehen.

Die kurdische Forderung nach Autonomie ist ein absolutes Tabu?

Diese Forderung wird als völlig inakzeptabel wahrgenommen. Nicht nur von der Regierung, nicht nur von Konservativen oder Nationalisten. Auch in den Augen liberaler Türken ist die kurdische Forderung nach einem politischen Status inakzeptabel. Man nutzt andere Terminologien. Die Rechten bezichtigen die Kurden, sie wollten das Land spalten und die Nation verraten. Die Liberalen sprechen eher von «extremen, unverschämten Forderungen» oder «radikaler Politik». Die Frage bleibt: Wie soll irgendeine Regierung das Problem unter diesen Umständen lösen?

Es wird nie eine Lösung geben?

Das sage ich nicht, aber ich sehe keine Anzeichen für einen Gesinnungswandel. Wir setzten zu Beginn grosse Hoffnungen in diese Regierung. Aber wir merkten bald, dass die Regierung die Komplexität des Problems unterschätzt. Und wir hatten ihre Bereitschaft überschätzt, neue Wege zu gehen. Die türkische Politik betrachtet die Kurdenfrage immer nur als Sicherheitsproblem, es ist aber ein politisches Problem. Die AKP spricht andauernd von Strassen und Dämmen, von Wohnsiedlungen und dem Aufbau von öffentlichen Dienstleistungen. Ich habe geschrieben, dass das nicht der richtige Weg sei. Dass diese Investitionen zwar notwendig und gut seien, aber nichts zur Lösung der Kurdenfrage beitragen.

Erdogan hat Sie persönliche angegriffen und als «Sprecherin der PKK» bezeichnet.

Nun, wie ich die Kritik vorgetragen habe, war sehr radikal. Ich hatte gesagt: Wir bauen diese Strassen nicht aus humanitären Gründen, sondern aus Sicherheitsüberlegungen, am politischen Paradigma habe sich nichts geändert. Deshalb hat er so reagiert. Das war zwar nicht akzeptabel, aber durchaus verständlich, wenn man diese Maxime der türkischen Politik beachtet.

Die Kritik an Ihrer Person vonseiten der APK hat ja schon früher begonnen.

Ich hatte in einem Interview gesagt, wir sollten uns über den aufkommenden zivilen Autoritarismus sorgen statt um die Macht der Armee. Darauf haben die regierungsnahen Medien eine regelrechte Hetzjagd auf mich eröffnet, es hiess, ich bereite den Boden für einen weiteren Militärputsch vor, ich wurde mit Ergenekon in Zusammenhang gebracht, als ob man mich von oben angewiesen hätte, dieses Thema aufzugreifen. Später kam ich mit meiner Kritik an der vorgeschlagenen Lösung der Kurdenfrage und ab dann war allen Konservativen klar: Diese Frau ist eine Feindin des Regimes.

Sie wurden kürzlich angefragt, über einen politischen Prozess gegen eine linksterroristische Gruppe zu schreiben, der für einiges Aufsehen sorgt. Doch Sie waren nicht als Zuschauerin am Gericht. Eine Folge der verbalen Angriffe auf sie?

Ich habe zwar über den Fall geschrieben, aber ich habe abgelehnt, den Prozess im Gerichtssaal zu verfolgen. Ich könnte jederzeit beschuldigt werden, eine dieser angeblichen oder wirklichen Verschwörungen gegen den Staat zu unterstützen. Unter jedem beliebigen Vorwand können sie mich anklagen. Heute bedeutet das nicht mehr nur ein Gerichtsverfahren, sondern verlängerte Untersuchungshaft. Das ist legal, so bestrafen sie dich. Und du kannst dich nicht gegen die Anschuldigungen wehren.

Sie haben also Angst?

Nicht nur um mich. Die Regierung ist begierig, all diese Verschwörungen mit den Kurden in Verbindung zu bringen. Sie bringen die PKK sogar mit Ergenekon in Verbindung. Ich wäre ein passendes Bindeglied. Das würde natürlich auch der kurdischen Sache schaden. Alle, die mit mir in Kontakt stehen, können angeklagt werden. Ich sage meinen Freunden, dass sie Abstand zu mir halten sollen, um sie nicht zu gefährden.

Wie wirkt sich das auf ihre Arbeit aus?

Ich habe all meinen Enthusiasmus verloren. Ich bin mir sehr bewusst, dass man meine Worte gegen mich, gegen die Kurden oder gegen jegliche Kritik an der Regierung verwenden kann und wird. Ich bin vorsichtig und nehme mich in Acht vor Fallen. Das ist sehr ermüdend. Ich will nicht aufhören zu schreiben. Aber um ehrlich zu sein, es wächst mir langsam über den Kopf.

Sie sind eine Publizistin, an der man ein Exempel statuiert hat. Zensieren sich die türkischen Journalisten selbst?

Natürlich. Das bestreitet auch niemand. Dass die grossen Medienkonzerne übergeordnete, wirtschaftliche Interessen haben, das kann ich verstehen. Auf sie kann man nicht zählen. Aber ich kann es meinen Berufskollegen doch nicht verzeihen. Ich meine nicht, dass man wahnsinnig mutig sein muss (lacht), aber wenn alle still halten… es braucht mehr intellektuelle Würde, wenn wir nicht in einem autoritären Regime enden wollen.


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

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