Kurdische_Nationalflagge

Nordiraks Kurden scharen sich hinter der Flagge eines Unabhängigen Kurdistans © gk

Die Kurden lassen sich nicht mehr vertrösten

Amalia van Gent /  Das Unabhängigkeitsreferendum der Kurden im Nordirak löst eine Staatskrise aus. Die internationalen Vermittlungsversuche scheitern.

Das für nächsten Montag angekündigte Referendum zur Unabhängigkeit der nordirakischen Kurden stösst in Bagdad auf heftigen Widerstand – der Irak schlittert damit fast unausweichlich immer tiefer in eine Staatskrise. Die Nachbarländer sprechen von einer Destabilisierung der gesamten Region und reagieren nervös.

Eine knappe Woche, bevor die nordirakischen Kurden über die Unabhängigkeit ihres Gebietes abstimmen wollten, hat das höchste Gericht des Iraks den angekündigten Urnengang untersagt. Es solle zunächst abgeklärt werden, ob dieses Referendum gegen die irakische Verfassung verstosse, lautete die Erklärung des Gerichts. Einen Tag zuvor hatte das Parlament in Bagdad das Referendum der Kurden als verfassungswidrig abgelehnt.

Auch Iran und die Türkei fühlen sich bedroht

Seither haben die zwei Nachbarstaaten, der Iran und die Türkei, den Wortlaut Bagdads unverändert übernommen. Sie beschuldigen die Kurden des Nordiraks, mit ihrem «einseitigen, verfassungswidrigen Schritt» die territoriale Integrität des irakischen Staates zu gefährden und damit die gesamte Region zu destabilisieren. Beide Regionalmächte reagieren mit zunehmender Härte: Während der Iran angekündigt hat, seine Grenze zum kurdischen Autonomiegebiet des Iraks dichtzumachen, falls das Referendum angenommen werde, hat die Türkei direkt an ihrer Grenze mit dem kurdischen Nordirak eine grossangelegte Militärübung begonnen. Bagdad erklärte mittlerweile seine Bereitschaft, im Gebiet um Kirkuk gegen die Kurden auch militärisch vorzugehen. Unisono fordern Bagdad, Teheran und Ankara die Kurden auf, das beabsichtigte Referendum zu annullieren.

Dafür dürfte es aber zu spät sein: im Nordirak versammeln sich täglich Abertausende von Menschen zu Kundgebungen für die Unabhängigkeit ihres Gebiets, schwenken die kurdische Trikolore (rot-grün-weiss) mit der riesigen gelben Sonne in der Mitte, singen ihre Peshmerga-Lieder und scheinen wie in Trance die Verwirklichung eines sehr alten Traumes ihrer Nation zu erleben: den Traum nach Unabhängigkeit. Gedichte werden auf Strassen und Plätzen rezitiert und die jüngste, traurige Geschichte des Landes wird in Erinnerung gerufen: «Welches Kind kann die totale Zerstörung seines Dorfes, die ständig panische Angst der Mutter, den vermissten Vater und die Flucht in die Berge je vergessen?», fragte sich in einem offenen Brief der Schriftsteller Bashdar Puscho Ismaeel. Die nordirakischen Kurden können die alptraumartige Ära Ende der 1980er Jahre, als der irakische Herrscher Saddam Hussein beim Versuch, die Kurden seines Staates gefügig zu machen, über 4’000 Dörfer dem Erdboden gleich zu machen, Hunderttausende kurdische Zivilisten zwangsumsiedeln und chemische Waffen gegen die Stadt Halabsche einsetzen liess, nicht vergessen. Saddam Husseins berüchtigte «Al Anfal-Operationen» gegen die Kurden hatte damals rund 180’000 meist zivile Opfer gefordert. Spätestens seit diesem Moment haben sich die Kurden nicht mehr als Teil der irakischen Nation zugerechnet. Die Gewissheit, dass während der Anfal-Operationen nur wenige arabische Iraker ihren kurdischen Mitbürgern Beistand geleistet haben, machte die Kluft zwischen den zwei Völkern des Iraks fast unüberbrückbar. «Wenn wir nicht gute Partner innerhalb des Iraks sein können, dann lasst uns doch sehr gute Nachbarn werden», betont der Präsident der kurdischen Regionalregierung (KRG) und Initiator der Abstimmung, Massud Barzani, bei jeder Kundgebung.

Viele Kurden ausserhalb des Iraks zeigen sich solidarisch

Eine Welle der Solidarität schwappt über: Kurden demonstrieren für eine Unabhängigkeit des Nordiraks in Beirut und im türkischen Diyarbakir, im nordsyrischen Kobane und in der Diaspora in Westeuropa und in den USA. Das wiederum ruft in der Türkei und im Iran die ärgsten Ängste wach: beide Staaten, die selber sehr grosse kurdische Minderheiten haben, berufen sich nun auf die Unverletztbarkeit der territorialen Integrität und Souveränität des Iraks. Die konservative türkische Tageszeitung «Hürriyet» sprach unlängst von den «Geburtswehen einer neuen Grenzziehung im volatilen Nahen Osten» und warnte zugleich: «Sollte dieser Prozess mal einsetzen, dann weiss niemand, wo er enden wird». Die Kurden ihrerseits machen ihr Recht auf Selbstbestimmung geltend. Das Seilziehen zwischen beiden extremen Positionen gleicht zunehmend einem Pokerspiel für hartgesottene Spieler. Wer wird sich dem immensen innen- und aussenpolitischen Druck zunächst beugen: Bagdad oder doch Barsani?

Die Weltgemeinschaft hat einmal mehr nicht rechtzeitig die Brisanz des Konflikts erkannt. Seit zwei Wochen melden sich in Erbil, der Hauptstadt der nordirakischen Kurden, Dutzende von Politikern, Diplomaten und Potentaten aus Ost und West und überbringen der kurdischen Führung eine gleichlautende Botschaft: Die Kurden sollen ihr Referendum aussetzen und Verhandlungen mit Bagdad aufnehmen, um ihre Position innerhalb des Iraks zu verbessern. Dies ist aber genau, was die Kurden nicht wollen. Erbil fühlt sich auch von den westlichen Alliierten nicht verstanden.

Nach dem Rückzug der Truppen Saddam Husseins aus dem Nordirak 1991 genoss das kurdische Gebiet weitgehende Autonomie. Die Kurden konnten ihr eigenes Parlament, ihre Ministerien, ihre Justiz sowie ihre Streitkräfte entwickeln. Sie hatten eine eigene Währung und erhielten dank eines Abkommens unter UN-Aufsicht 17 Prozent der irakischen Erdöleinnahmen. Kurz, sie waren auf bestem Weg, ihren Staat zu schaffen. Die amerikanische Invasion 2003 setzte dem ein Ende. Unter amerikanischem Druck willigten die Kurden ein, sich provisorisch der neu entstandenen Föderation Irak anzuschliessen. Als Gegenleistung erhielten sie von Bagdad wie von Washington die Zusicherung, dass der kurdische Nordirak seine Autonomie beibehalten und einen Teil der irakischen Erdöleinnahmen bekommen würde. Noch wichtiger: Die Verhandlungen mit Bagdad über permanente Grenzkorrekturen und gar über eine Unabhängigkeit des kurdischen Nordiraks sollten bald aufgenommen werden. Doch Bagdad hat seine Versprechungen bald in den Wind geschlagen. Es liess die versprochenen Zahlungen teils oder ganz einstellen und die Verhandlungen über eine Autonomie oder gar Unabhängigkeit der Kurden völlig im Sand verlaufen.

Barsani besteht auf fester Zusicherung

Wie Spanien beim katalanischen Unabhängigkeitsreferendum, so war bislang auch der Irak nicht fähig, die Abstimmung seiner Kurden als eine Chance für mehr Demokratie im Land zu verstehen und den Konflikt so zu entspannen. Deshalb wollen die Kurden keine neuen Verhandlungen mit Bagdad. Sie wünschen nur eines: die verbindliche Zusicherung der USA oder der Weltgemeinschaft, dass der Nordirak wenn nicht jetzt, dann in einem Zeitraum von zehn Jahren, seine Unabhängigkeit erlangen könne. «Wenn wir eine solche Zusicherung erhalten, werden wir unser Referendum annullieren und auf den Strassen feiern», sagte Barsani. «Wenn nicht, dann findet das Referendum statt». Es sind nur noch zwei Tage bis zur angekündigten Abstimmung übrig.


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine.

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Eine Meinung zu

  • am 28.09.2017 um 18:57 Uhr
    Permalink

    Sehr korrekt ausgeführt..die Kurden sind nach Sturz des Regimes Saddam Husseins im 2003 nach Bagdad zurückgekehrt und sich den Druck der Amerikanerin gebeugt mit der Hoffnung einen neuen demokratischen Irak aufzubauen,aber as bald as die USA Truppen den Irak verlassen,habe des Regime der iranischen Mullas eingezogen und Shiites Milizen überall im Irak gegründet,ausgerüstet und fängt an Sunniten und Kurden zu belästigen.wer regiert nun im Irak ist Iran und sie wehren sich vehement gegen kurdischen Aspirationen, weil das ihren Plan für schiitische Halbmond von Teheran bis Libanon über Irak und Syrien ein Dorn im Auge. Der Westen und USA machen dummerweise auch mit und kehren den Kurden den Rücken.

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