Kommentar

Der Aufbruch in der arabischen Welt

Erich Gysling © zvg

Erich Gysling /  Der arabische Frühling hat die Welt überrascht. Aber es gibt klar erkennbare Gründe. Schwieriger zu beurteilen sind die Aussichten.

Jahrzehntelang verharrten die Völker der arabischen Welt in Passivität. Sie duldeten autoritäre Regime, sie akzeptierten die durch Putsch vollendeten Tatsachen, sie murrten kaum nach manipulierten Wahlen. Proteste (etwa in Tunesien, Algerien oder Jordanien) als Reaktion auf rasante Preissteigerungen für Grundnahrungsmittel waren selten und von kurzer Dauer. Setzten die Herrschenden ihre Schlägertrupps ein, war die Ruhe sehr schnell wieder hergestellt.

Und plötzlich ist alles anders. Die arabische Welt in Aufruhr, und alles begann mit dem Verzweiflungsselbstmord eines jungen Tunesiers, der «durchbrannte», als die Polizei ihm seinen ärmlichen Gemüseverkaufsstand wegnahm und ihm seine Existenzgrundlage raubte. Danach dauerte es nur noch wenige Wochen, bis das Volk Tunesiens seinen Herrscher Ben Ali stürzte, bis in Ägypten Mubarak die Macht abgab, die Schiiten in Bahrain gegen die sunnitische «Monarchie» protestierten, die Jugend Jemens den Rücktritt von Präsident Saleh forderte, in Libyen der Aufstand begann und sich in Syrien der Volkszorn auf das Assad-Regime entlud.

Weshalb das plötzliche Erwachen der Völker? Es gibt eine Vielzahl von Gründen:

Vier Gründe: 1. Verjüngung und Verstädterung

Die demografischen Veränderungen. In allen Ländern des Nahen und des Mittleren Ostens wird die Bevölkerung – relativ – immer jünger. Im Durchschnitt sind mehr als 50 Prozent unter 25. Jung sein bedeutet nun nicht unbedingt glücklich und unbeschwert sein, oft trifft das Gegenteil zu. Die Arbeitslosigkeit erreicht quer durch die Region bei den Jungen 30 bis 40 Prozent. Und oft gilt: je besser die Ausbildung ist, desto grösser die Frustration – denn gerade bei den Hochschulabsolventen ist die Chance, eine entsprechende Anstellung zu bekommen, besonders gering. Der «Herr Doktor» als Taxifahrer, das ist keine Ausnahme.

Mit zur demografischen Entwicklung gehört aber auch die Urbanisierung. Familien ziehen vom Land in die Stadt, was oft bedingt: alle, auch die Frauen, müssen (wenn möglich) Geld verdienen. Und junge Frauen beginnen ein Studium (in Kairo sind gut 50 Prozent der Studierenden Frauen, in Teheran sind es sogar 70 Prozent). Das führt, rückwirkend, zu Umschichtungen in den Familien. Die Autorität des Patriarchen wird in Frage gestellt, beginnt zu zerbröckeln. Und wenn Autorität schon im überschaubaren Verbund der Familie nicht mehr selbstverständlich ist, warum sollte sie es dann auf der höheren Ebene des Staates sein?

2. Die neuen Medien

Die veränderte Medienlandschaft: Internet, Facebook, Twitter ermöglichen seit einigen Jahren in rasant sich beschleunigender Weise die Vernetzung. Man kann sich gegenseitig austauschen, Erfahrungen, Erwartungen, Hoffnungen formulieren. Funken können so (da hilft natürlich die gemeinsame Sprache, das Arabische, ganz gewaltig) schnell und grenzüberschreitend überspringen. Allerdings: gut informiert über politische Entwicklungen waren die Menschen auch schon vorher. Sie verfolgten das internationale Geschehen schon vor fünfzig Jahren intensiv, damals noch via Radio (BBC spielte lange eine wichtige Rolle, auch französische Sen-der), und später via Satellitenschüsseln. CNN brachte die westliche Bilder- und Nachrichtenwelt in die Wohnzimmer (Zensur wurde immer unterlaufen), dann kam der Sender al-Jazeera in arabischer Sprache hinzu. Facebook und Twitter brachten eine neue Qualität in den Aus-tausch von direkten Informationen. Aber veränderten diese Medien auch die grundlegenden Wertvorstellungen? Erstaunlich wenig! Der Arab Human Development Report von 2009 (da gab’s die neuen Kommunikationskanäle bereits) wies in Ägypten nach, dass die Angehörigen der jüngeren Generation nicht liberaler sind /waren als die der älteren, sondern, im Gegenteil, generell konservativer. Religion spielt für die Jungen eine ebenso wichtige Rolle wie für die Alten, ist für 96 Prozent sogar, neben den Werten der Familie, das Allerwichtigste. Nur sieben Prozent äusserten, Politik sei das Wichtigste. Und kreuz und quer durch die Altersschichten wurde (dies bei einer Untersuchung des amerikanischen Pew Research Centers von 2010) geäussert, muslimische Strafen wie Auspeitschen und Handabhacken bei Diebstahl sowie Todesstrafe beim Austritt aus dem Islam seien gerecht und gut. Das sagten in Ägypten mehr als 80 Prozent, in Jordanien sogar 85 Prozent.

3. Die Wirtschaft: Wachstum nur für Wenige

Die wirtschaftliche Lage: da staute sich Unmut über Jahrzehnte immer mehr auf. In praktisch allen Ländern der Region wurde der Reichtum immer parteiischer verteilt. Ägypten hatte in den letzten Jahren (Ausnahme war das Jahr der globalen Krise, 2009) Wachstumsraten von mehr als fünf Prozent. Aber davon profitierte nur eine kleine Oberschicht, während der Alltag für die Mittelschicht immer teurer und für die Unterschicht oft unbezahlbar wurde. Einige Regime fanden Scheinlösungen durch das System der Patronage. Was bedeutet: der oberste Chef im Staat stellte die ihm wichtig erscheinenden Meinungsträger und Notabeln durch regelmässige Zahlungen ruhig. Jemen praktizierte das besonders systematisch. Aber auch in Irak kann die Regierung von Premier Maliki die Vorsteher von Stämmen und die Chefs von Clans nur durch regelmässige Geldüberweisungen zu Loyalität nötigen. Maliki begünstigt gemäss gut informierten Quellen etwa 6000 Männer mit je tausend Dollar pro Monat. Kostet den Staat also monatlich sechs Millionen. In den ölreichen Ländern am Golf gibt’s ähnliche Praktiken, und die Erwartung der Herrschenden lautet offenkundig: So lange man so weiter fahren kann, so lange hat man keine Fundamental-Opposition zu befürchten, sondern allenfalls nur Demonstrationen, die Reformen, nicht aber den Machtwechsel fordern.

4. Die Verlogenheit der Herrschenden

Die Verlogenheit der herrschenden Klasse: Sie organisierten Wahlen, entschieden aber durch ihre Instanzen im voraus, wer kandidieren durfte und wer nicht. In Jordanien war und ist es der Kronrat, der unliebsame Bewerber von den Listen streicht. In Mubaraks Ägypten konnte die herrschende Partei entscheiden, ob ein Unabhängiger aufgestellt wurden konnte. In Libyen konstruierte Ghaddafi eine «Volksdemokratie», bei der, theoretisch, alles von unten nach oben gelenkt wurde, in der aber nur eine Person, nämlich er selbst, die Entscheidungen traf.

Unterschiede von Land zu Land

Neben diesen für fast die ganze Region gemeinsamen oder zumindest ähnlichen Kriterien gibt es auch einige von Land zu Land unterschiedliche Gründe.

In Ägypten wurde die USA-hörige Aussenpolitik Mubaraks respektive dessen Anpasserpolitik in bezug auf Israel zu einem Stein des Anstosses. Es sieht zwar nicht so aus, als würde nun eine Mehrheit im «neuen Ägypten» Nein sagen zu dem seit 1979 gültigen Friedensvertrag mit Israel, aber eine Mehrheit tendiert dazu, der islamistischen, palästinensischen Hamas im Gazastreifen aus der Isolation heraus zu helfen. Hamas und die Muslimbruderschaft Ägyptens sind ideologisch miteinander verbunden, wenn auch nicht gleich geschaltet – Sympathien für Hamas gibt es in Ägypten aber weit über die Bruderschaft (die bei freien Wahlen schätzungsweise 25 bis 30 Stimmenprozente erhält) hinaus.

In Libyen geht es, unter anderem, auch um einen Machtkampf zwischen den Stadtbewohnern mit den noch immer wichtigen Stammesstrukturen. Und um regionale Differenzen. Das Land bestand früher, vor Ghaddafi, aus drei nur locker miteinander verbundenen Gebieten, der Cyrenaika mit Bengazi, der Region um Tripolis und dem Fezzan, dem weiten Gebiet im Süden. Führt der Konflikt zurück in die Teilung?

Jemen ist, in seiner heutigen Staatsform, ein künstliches Konstrukt, ein Zwangs-Verbund des Nordens mit dem Süden. Kräfte des Südens rebellieren schon seit Jahren gegen die Bevormundung durch die Regierung in Sana’a. Weiter nördlich anderseits kämpfen Huthi-Aufständische, ebenfalls schon seit Jahren, gegen die Zentralregierung. Nun wird diese Zentralregierung auch noch aus der eigenen Kernregion herausgefordert – und all das vor dem Hintergrund des Einnistens von al-Qaida-Kräften.

Syriens Bevölkerung hat mehrheitlich keine Probleme mit der Aussenpolitik von Bashir al-Assad, aber für das, was sich im Landesinnern abspielt, haben mehr und mehr kein Verständnis. Die angeblich sozialistische Republik begünstigt einzelne Personenkreise wirtschaftlich massiv, und dies vor allem auf Kosten der Mittelschicht. Die politische Repression kommt hinzu – in kleinem Kreis kann zwar Jeder alles sagen, aber Meinungen, die von der von oben diktierten Linie abweichen, können nirgendwo publiziert werden.

In Jordanien fordert die Opposition – vorerst – nur Reformen, nicht aber die Kapitulation der Monarchie.

Und in Saudiarabien? Da hat das Königshaus die aufkeimende Protestbewegung mit finanziellen Nettigkeiten zunächst einmal abdämpfen können.

Grenzen des Wandels

Wohin führt das alles? Die Hoffnungen der Opposition werden, in allen Ländern, durch die Macht des Faktischen Dämpfer erfahren. Die wirtschaftliche Lage wird sich in absehbarer Zeit nicht grundlegend bessern. Wer soll die erhofften Arbeitsplätze schaffen? Wie will man die Arbeitslosigkeit beseitigen? Und wenn sich da grundlegend nichts verbessert, wie kann man dann auf ein Verschwinden der Korruption hoffen? Kommt hinzu: dort, wo es bereits Übergangsregierungen gibt, bleiben viele Repräsentanten der alten Garden in den Machtapparaten. Sie werden versuchen, ihre Pfründen so lange wie möglich und so gut wie möglich zu wahren. Aber etwas, wenigstens etwas, werden sie schon ändern müssen – nur nicht so viel, wie die Demonstranten beispielsweise auf dem Tahrir-Platz in Kairo erwartet haben und noch immer erwarten.

Schwierigere Partner für Europa und die USA

Der Westen, d.h. Europa und die USA, werden es mit dem «neuen Arabien» schwieriger haben. Dort, wo man (relativ) freie Wahlen durchführen wird, werden auch Kräfte zu Einfluss kommen, die eigene Ziele haben. Die Moslembrüder in Ägypten beispielsweise. Auch in Tunesien gibt es islamistische Parteien. Und in anderen Ländern werden sie ebenfalls in Erscheinung treten. In Libyen gibt es, neben demokratisch gesinnten und gemässigt islamistischen, auch extreme Islamisten. In kleiner Zahl, kann man annehmen, aber sie werden in jeder denkbaren Neuordnung versuchen, ihren Einfluss geltend zu machen. Israel steht nicht umsonst diesen neuen Perspektiven sehr skeptisch gegenüber. Nur: man kann nicht auf der einen Seite Demokratie fordern und dann anderseits Klagen darüber führen, dass die demokratische Ordnung der anderen Seite dazu führt, dass die Beziehungen komplizierter geworden sind.

Was wir noch lange nicht richtig einschätzen können, ist die Auswirkung der Umwälzungen auf die Migration im Mittelmeerraum und hinüber nach Europa. Ghaddafi in Libyen und Ben Ali in Tunesien sorgten dafür, dass täglich Flüchtlingsboote mit Ziel Europa (und damit indirekt auch mit Ziel Schweiz) gestoppt wurden. Entsprechende Abkommen müssten mit den künftigen Führungen neu ausgehandelt werden. Aber niemand kann derzeit abschätzen, wie viel Zeit man braucht, um solide Neustrukturen zu errichten.


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine

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