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Demonstrierende auf dem Weg zur Plaza Dignidad in Santiago de Chile © Gregor Kaufeisen

«Chile despertó!» – Chile ist aufgewacht

Gregor Kaufeisen /  Seit Oktober brodelt es in Chile. Anhaltende Massenproteste richten sich gegen die soziale Ungleichheit im Land.

Red. Gregor Kaufeisen ist Sozialanthropologe und schreibt gelegentlich als freier Autor für verschiedene Zeitungen. Während zweier Monate beobachtete er die Geschehnisse in Chile vor Ort.

Es ist Freitag in Santiago de Chile. Und wie jeden Freitag seit dem 18. Oktober 2019 strömen nach Feierabend Tausende Menschen Richtung Plaza Italia, Epizentrum der Proteste in Chile und mittlerweile kurzerhand umbenannt in Plaza Dignidad, Platz der Würde. Von Weitem jagen einem Tränengasschwaden das Wasser in die Augen. Doch unbeirrt wandern Tausende Menschen aus allen Richtungen zum zentralen Platz des Unmuts. Zerstörte Busstationen, vollgesprayte und bemalte Wände, verbarrikadierte Schaufenster zeugen von den wochenlangen Protesten, die Chile in einen unruhigen Ausnahmezustand versetzen.

Wachsende Kluft zwischen Arm und Reich

«Estallido social», sozialer Ausbruch, wird die Gesamtheit der Protestbewegung genannt. Auslöser war eine Preiserhöhung der Metro-Tickets um 30 Pesos, rund 4 Rappen. Darauf reagierten Schüler und Studenten mit Blockaden der Metro-Stationen, die der Staat mit harter Polizeirepression zu unterdrücken versuchte. Doch die Preiserhöhung war nur der berühmte Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Mittlerweile entlädt sich in den Demonstrationen der generelle Unmut gegenüber einem der neoliberalsten Systeme Lateinamerikas.
Fortschritt und ein konsumorientierter Lebensstil eines Teils der Bevölkerung verschleiern die zunehmende Kluft zwischen Arm und Reich. Immer mehr Chileninnen und Chilenen schlittern in die Armut ab. Viele wissen nicht, wie sie den nächsten Monat über die Runden kommen sollen. Gleichzeitig ermöglicht das System der Bevölkerung praktisch keine Partizipation an politischen Entscheidungen. Meldungen über Korruptions- und Kollusionsfälle in der Politik und unter Grosskonzernen schüren zusätzlich die Wut über die politische Klasse und die Wirtschaftselite.
Hinzu kommt: Der rücksichtslose Umgang mit der Natur beschäftigt zunehmend das chilenische Volk. Laut Lorena Donaire, Direktorin der Umweltorganisation Modatima, ist die Sorge um ein immer fragiler werdendes Ökosystem und die damit verbundene Kritik an der Ausbeutung der natürlichen Ressourcen ein herausstechendes Element der Aufstände.1 Die Privatisierung des Bodens und des Wassers haben Chiles Landwirtschaft in ein exportorientiertes Business verwandelt, welches das traditionelle bäuerliche Leben verdrängt.2 Staudämme und riesige Plantagen prägen vielerorts das Landschaftsbild.
Nicht zuletzt resultiert der soziale Aufstand aus den jahrelangen Bemühungen und Kämpfen verschiedenster basisorientierter Gruppen, erläutert Francisca Fernández, Anthropologin und Mitglied der Coordinadora Feminista 8 de Marzo: «Sozio-ökologische Bewegungen, indigene Völker wie die Mapuche, Studentenbewegungen und feministische Gruppen präsentieren seit Jahren Alternativen zum neoliberalen System.» So haben die Proteste in Chile keine einheitliche Botschaft, sie sind vielmehr Ausdruck einer tiefen Unzufriedenheit mit dem neoliberalen Gesellschaftssystem.

Blutige Krawalle

Die massive Gewalt, mit der Polizei und Militär gegen Demonstrierende vorgingen, weckte Erinnerungen an die Militärdiktatur Pinochets. Insbesondere die kurzfristige Mobilisierung der Armee zur Unterstützung der Polizei und die Ausrufung einer Ausgangssperre am 18. Oktober zeugen vom Willen, die protestierende Masse mit allen Mitteln mundtot zu machen. Nationale und internationale Organisationen warfen den Sicherheitskräften zahlreiche schwere Menschenrechtsverletzungen vor, die ein UNO-Bericht dokumentiert hat und ebenfalls scharf kritisierte.
Ein tränendes Auge ist eines der Hauptsymbole der Proteste. Es soll an die mehr als 400 Menschen erinnern, die während der Demonstrationen durch Gummigeschosse der Polizei am Auge verletzt wurden. Über 20’000 Festnahmen, mehr als 10’000 Verletzte, Foltervorwürfe, sexuelle Übergriffe und mittlerweile 29 Tote sind die traurige Bilanz der Repression. 3

Schwaden von Tränengas ziehen durch die Strasse. Bild: Gregor Kaufeisen
Die Protestierenden sind mittlerweile gut gewappnet, wie sich an einem anderen Freitag zeigt, an dem die Staatsgewalt mit über 1000 Polizisten die Proteste verhindern will. Die meisten Demonstrierenden sind vermummt oder mit Schutzmasken und -brillen ausgerüstet. Selbstgebastelte Schilder schützen vor Gummigeschossen und Wasserwerfern. Sanitätsteams kümmern sich um die Verletzten. Gut ausgerüstete Demonstranten lindern den brennenden Reiz der Tränengasbomben in Wasserbehältern, während Andere Steine aus dem Trottoir brechen, um Wurfgeschosse gegen die Polizeiwand zu liefern. Überall brennen Barrikaden und unzählige Strahlen von Laserpointern zünden direkt auf die Frontscheiben der Wasserwerfer. Batucadas, wandernde Perkussionsgruppen, und Linsensuppe stärken die Moral der Protestierenden.

Die Repression der Sicherheitskräfte bekommt vor allem die «Primera Línea» zu spüren, die erste Linie, wie die zur Konfrontation bereiten Demonstranten genannt werden. Diese erwidern die Gewalt und werden von den konventionellen Medien und der Politik dementsprechend attackiert. Innerhalb der Protestbewegung geniesst die Primera Línea allerdings eine grosse Anerkennung, da sie die Demonstrationen überhaupt ermöglicht.
«Die Primera Línea spielt eine fundamentale Rolle innerhalb der Proteste», sagt die Feministin Francisca Fernández. Sie legitimiere die Gewalt als manchmal einzige mögliche Form des Widerstands und ermögliche dadurch gleichzeitig, dass viele andere ihren Protest auf die Strasse tragen können. Die direkte Aktion, die bisher hart kriminalisiert wurde, konnte so als eine politische Aktionsform legitimiert werden.

Verschiedene Formen des Protests

Die Demonstrationen sind nur ein Gesicht der Protestbewegung. Eine der wichtigsten Errungenschaften der Proteste sind die «Asambleas Territoriales», die lokalen Versammlungen. Abseits der Öffentlichkeit treffen sich die Leute in den Quartieren und beginnen sich zu organisieren. «Seit den Protesten kenne ich fast alle Nachbarn», erzählt eine Bewohnerin eines Vororts von Santiago. An Quartierfesten und -versammlungen wird zur Solidarität aufgerufen und zur selbstverwalteten Organisation unter den Bewohnern des Quartiers. Es spielen solidarische Musikgruppen, und die OrganisatorInnen verteilen Essen. Bereits existierende «Asambleas» oder Organisationen erhielten starken Aufwind.
Die Botschaft, die diese Initativen ausstrahlen, tönt einfach: Selbstverwaltung. Den Alltag wieder in die eigenen Hände nehmen. So beispielweise in der Inselstadt Ancud, im Süden Chiles, wo das öffentliche Kulturhaus kurzerhand besetzt und in einen Treffpunkt für die gesamte Bevölkerung umgewandelt wurde. Seither finden dort täglich Workshops, Veranstaltungen und Sitzungen statt. Der Durst nach direkter sozialer Organisation ist fast fassbar zu spüren und geht meist als Impuls der jungen Generationen aus.

Eine friedliche Form des Protests: Eine Musikgruppe spielt auf. Bild: Gregor Kaufeisen

Eher kämpferischer Natur sind die Besetzungen verschiedener Universitäten und Schulen. Nicht nur in der Küstenstadt Valparaiso, wo die Proteste besonders heftig sind, werden am Tag der Aufnahmeprüfungen für die Universitäten die Eingänge der Prüfungslokale blockiert. Im ganzen Land sabotieren protestierende Schüler die als ungerecht angesehenen Klausuren – eine Form der Kritik am gesamten Bildungssystem.
Der Angriff auf Banken und Supermärkte, die in verschiedenen Städten zerstört oder geplündert wurden, widerspiegelt den antikapitalistischen Ansatz der Proteste und hinterlässt ganze Einkaufsstrassen mit verbarrikadierten Schaufenstern. Sogar in den kleinsten Städten sind die Eingänge zu den Banken mittlerweile mit Stahlwänden geschützt. In Santiago wurden Hochhäuser angezündet, die Grosskonzernen gehören. Unzählige Sprüche und Aufrufe zu zivilem Ungehorsam zieren die Wände der meisten grösseren Innenstädte.

Was bleibt hängen?

Alle diese verschiedenen Protestformen haben mit der staatlichen Repression zu kämpfen. Von der Räumungsandrohung des Kulturhauses in Ancud, den ätzenden Substanzen, die in den Wasserwerfern in Santiago eingesetzt werden, bis zu den neuen Gesetzen, die die Protestierenden mit absurd hohen Strafen belegen, versuchen die staatlichen Instanzen, die Proteste mit allen Mitteln zum Schweigen zu bringen.
Die sozialen Veränderungen, die mit den Protesten eingeläutet wurden, sind jedoch nicht zu übersehen. Die lokalen «Asambleas», die direkten Aktionen, das Streben hin zur Selbstverwaltung, die Ablehnung jeglicher partei-politischer Repräsentation: Dies alles sind Initiativen, die sich an anarchistischen Prinzipien orientieren, obwohl sich nur ein gewisser Teil der Protestierenden als Anarchisten identifiziert. Sie zeugen jedoch alle vom Willen der Bevölkerung, ihre Schicksale und ihren Alltag wieder in die eigenen Hände zu nehmen.

In der zerstörten Metro-Station hängen Kleider zum Trocknen. Bild: Gregor Kaufeisen
Der Gang durch die Innenstadt Santiagos am Morgen nach einer Demonstration gleicht einer apokalyptischen Vision. Zerstörte Bus- und Metrostationen, abgebrannte Häuser, vom Feuer aufgeplatzter Asphalt, überall Steine und Glassplitter, heruntergerissene Ampeln. Das Szenario öffnet aber gleichzeitig Raum für neue Möglichkeiten. Wohltuende Merkmale fallen einem auf: keine einzige Werbetafel, farbig bemalte Wände, mehr Freiheit für die Fussgänger. Die Menschen beginnen sich wieder wahrzunehmen und die Solidarität scheint ein fassbares Prinzip zu werden, nicht nur an den Demonstrationen, sondern auch in den Quartieren zwischen den Nachbarn. Und eines ist nicht zu übersehen: Der an vielen Wänden sichtbare und aus vielen Mündern hörbare Ausruf: Chile despertó! Chile ist aufgewacht!

Quellen:
1) Lorena Donaire: Crisis medioambiental por Modatima. Ante el modelo de despojo, no nos queda más que resistir, in: The Clinic (2019), Nr. 828, S.18
2) José Bengoa: La «modernización» de los campos de Chile. La vía chilena al capitalismo agraria, in: Reforma Agraria; Le monde diplomatique; Aún creemos en los sueños. 2017
3) Die Zahlen stammen aus einem Bericht der Comisión Interamericana de Derechos Humanos (CIDH), der Ende Januar anlässlich einer Untersuchung der Geschehnisse veröffentlicht wurde. CIDH: «CIDH culmina visita in loco a Chile y presenta sus observaciones y recomendaciones preliminares», unter: http://www.oas.org/es/cidh/prensa/comunicados/2020/018.asp (aufgerufen am 4.2.2020)

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6 Meinungen

  • am 21.02.2020 um 14:32 Uhr
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    Chile hat den höchsten Lebensstandard Lateinamerikas. Der Unterschied zwischen arm und reich ist nicht nur in Chile gross, sondern überall in Lateinamerika. Leider scheint nun Chile aber ins gleiche Fahrwasser zu geraten wie Argentinien, das 1913 zu den reichsten Ländern der Welt (96% des durchschnittlichen pro Kopf BIP der USA und Westeuropas) gehörte. 2001, also vor der aktuellen Krise, betrug dieser Wert nur noch 36%. Hauptgrund für den Niedergang Argentiniens war der links-populistische Peronismus, der seit den 1940er Jahren besteht und das Land meistens regierte. Das Risiko ist gross, dass nun auch Chile in ein neues links-populistische Allende-ähnliches Regime gerät, das die starke chilenische Wirtschaft zerstören würde, wie der Peronismus dies in Argentinien tat.

  • am 21.02.2020 um 15:25 Uhr
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    Lieber Herr

    Berichten Sie doch mal von Montenegro.

    Dort streikt 1/3 der Bevölkerung = 200’000 Menschen.

    Der Präsident Djukanovic hat ein Gesetz erlassen, welches einer Enteignung der serbisch-orthodoxen Kirche gleichkommt.

    Moslems und Christen streiken gemeinsam, da die Herrschaft von Djukanovic niemandem gefällt.

    Dort ist man der Meinung er sei von den USA geführt und kann sich nicht wehren, da er mit Zigaretten und anderen kriminellen Machenschaften erpressbar ist.

    Bei Auftritten zittert er wie Angela Merkel.

    Die Information ist von Bekannten, daher relativ zuverlässig.

    https://mediaportal.rs/2020/02/03/reko-200-hiljada-ljudi-sinoc-na-ulicama-sirom-crne-gore-foto-video/

  • am 22.02.2020 um 01:03 Uhr
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    @Pedro Reiser: Das Problem des «links-populistischen Allende-Régimes» ist ja bekanntlich vom faschistischenen Massenmörder Pinochet mit Hilfe des US-Imperialismus gelöst worden!

  • am 22.02.2020 um 09:12 Uhr
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    Lieber Herr Gregor Kaufeisen

    wollte ich schreiben, sorry.

  • am 22.02.2020 um 13:20 Uhr
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    @Paul Jud: Pinochet ist Geschichte. Der Links-Populismus ist in Argentinien wieder zurück an der Regierung und in Venezuela hat er die Wirtschaft ruiniert. Es besteht nun die Gefahr, dass er auch wieder in Chile auftaucht. Ich war während des Allende-Regimes in Santiago. Die Lage dort war katastrophal: rationierter Strom, rationierte Lebensmittel, rationiertes Benzin, nachts dunkle Strassen, Zunahme der Kriminalität. Es war nicht lustig…

  • am 12.03.2020 um 17:14 Uhr
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    @Pedro Reiser
    Dann schauen sie sich mal die Entwicklung in Argentinien unter Nestor Kirchner an und vergleichen sie die, mit der von EU und USA unterstützten Faschisten Macri.

    zu Chile
    "Die Stärke eines Landes, zeigt sich nicht in seiner militärischer und wirtschaftlichen Stärke, sondern wie man mit den schwächsten der Gesellschaft umgeht. Mit den Kranken, Kindern und mit den Alten."
    Sebastian Pinera, christlicher Politiker und aktueller Präsident Chiles

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