Kommentar

Bankrotterklärung für die Parteien-Demokratie

Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des AutorsKeine. Redaktor der Wiener Zeitung ©

Patrick Hämmerle, Wien /  Die Parteien haben abgewirtschaftet, denn jetzt sollen Experten die Aufräumarbeiten übernehmen.

Es ist ein fatales Bild, das die Parteiendemokratie modernen Zuschnitts ihren Bürgern bietet, längst nicht nur in Griechenland und Italien, wo nun unbefleckte Technokraten den verfahrenen Karren aus dem Sumpf ziehen sollen. Dieses Bild handelt von der Unfähigkeit demokratisch gewählter Parteien, ihre Interessen zugunsten des grösseren Ganzen hintanzustellen.

Es ist dies ein alter Topos der Kritik an der Parteiendemokratie, aus Österreich und Deutschland kennt man es vor allem aus der Zwischenkriegszeit. Auch damals scheiterten die Parteien daran, einen Weg aus der sozialen und ökonomischen Krise zu finden, wurden die Parlamente als «Quatschbuden» lächerlich gemacht. Es ist müssig, auf den weiteren Verlauf der Geschichte hinzuweisen, schliesslich leben wir heute in anderen Zeiten.

Was so irritiert, sind die strukturellen Parallelen eines Systemversagens: die Inkaufnahme einer völligen Diskreditierung demokratischer Legitimation, sodass am Ende eine breite Mehrheit nur noch in der temporären Aussetzung der Parteiendemokratie die ersehnte Rettung zu erreichen können glaubt. Wir erleben, mit anderen Worten, den ultimativen Triumph der Expertokratie über die Politik. Und das, schrecklich ist es zu denken, womöglich zu Recht.

Der Traum von der Herrschaft der Experten, die – scheinbar unbefangen von partikularen Interessen – nur das Wohl der Allgemeinheit im Auge haben, steht im diametralen Gegensatz zum Konzept der liberalen Parteiendemokratie. Dahinter steckt ein weit verbreiteter Überdruss am als mühsam und lähmend empfundenen Prozedere des parlamentarischen Ausgleichs antagonistischer Interessen. Für Experten ist der vorgeblich objektivierbare Sachzwang die einzige Handlungsrichtschnur.

Das ist natürlich ein Mythos, viele Wege können zum selben Ziel führen. Aufgabe der Parteien wäre es, im öffentlichen Diskurs und via Wahlen Konsens darüber herzustellen, welcher Weg beschritten werden soll. Daran sind Griechen und Italiener grandios gescheitert. Jetzt übernehmen Experten das Ruder – und die gewählten Parteien tauchen in den Hintergrund ab.

Ein Fortschritt inmitten einer existenziellen Krise, sicher, aber doch eine Bankrotterklärung für die Parteiendemokratie.
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Dieser Kommentar erschien am 10.11.2011 als Leitartikel in der Wiener Zeitung.


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