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Kurden errichten Strassensperre in Cizre gegen das türkische Militär © Cihan

Ausgangssperre: Leichen bleiben tagelang liegen

Amalia van Gent /  Wochenlang kein Bild, keine Infos in der SRF-Tagesschau*. Doch in kurdischen Städten der Türkei herrscht Kriegszustand.

Miray Ince war gerade drei Monate alt, als sie von der Kugel eines Scharfschützen getroffen wurde. Wie ihr Vater Burhan Ince der lokalen Presse in Cizre erklärte, kehrten Miray’s Mutter mit dem Baby und seiner Tante von einem Besuch zu den Nachbarn zurück und benützten dafür die Aussentreppe des Hochhauses, denn die Nachbarn wohnten nur zwei Stockwerke höher als sie selbst. In jenem Moment traf der Schuss Miray. Das Baby blutete stark, als die Frauen die eigene Wohnung betraten und so bat der Vater die Polizei um Rat. In Cizre gilt seit dem 2. Dezember 2015 der Ausnahmezustand. Und das bedeutet für die Bewohner der Stadt totales Ausgangsverbot.

In Cizre gestorben: Wegen Ausgangsverbot kein Arzt, kein Krankenwagen (alle Bilder von Cizre)
Die Polizisten sagten ihm, er müsste seine Tochter schon selber zum Ambulanzwagen bringen. Im Gebiet des Ausnahmezustands ist es nämlich Ambulanzwagen und Medizinern untersagt, Kranke abzuholen oder zu besuchen. Die Polizisten sagten ihm ferner, er müsste jedenfalls eine weisse Flagge in der Hand mitführen. Auf die anfängliche Ratlosigkeit der Eltern, beschloss Grossvater Ramazan Ince, sein Enkelkind selber zum Ambulanzwagen zu bringen: «Was soll’s», sagte er, bevor er mit dem Baby und der weissen Flagge die Wohnung verliess. «Ich bin über 80 Jahre alt». Seine Frau Rukiye rannte ihnen nach.
Dann hörten die Zurückgebliebenen wieder Schüsse. Wie sie später von Bekannten erfuhren, sei Grossvater Ramazan gleich nach seinem Eintreffen im Spital gestorben. Grossmutter Rukiye müsste wegen einer schwierigen Schusswunde im Rücken operiert werden. Die drei-Monate alte Miray sei unterwegs ein zweites Mal durch die Kugel eines Scharfschützen getroffen worden – diesmal tödlich. Die Familie Ince konnte tagelang ihre Tote weder sehen, noch begraben. Denn in den belagerten kurdischen Städten im Südosten der Türkei sind auch Beerdigungen untersagt.

Die Leichen verwesen mitten auf den Strassen

Zwischen Juli und November 2015 sind gemäss Angaben der türkischen Organisation «Für Frieden jetzt», die sich für die Rechte der Kinder einsetzt, 44 Kinder getötet worden. Das jüngste Opfer sei 35 Tage alt und das älteste gerade 18 Jahre gewesen, hielt sie in ihrem vor kurzem veröffentlichten Bericht fest. Wie Miray Ince kamen die meisten von ihnen in kurdischen Ortschaften unter dem Ausnahmezustand ums Leben.

Neben Cizre gilt der Ausnahmezustand auch in Silvan und Silopi, in Sirnak, in Yüksekova und in Nysaybin sowie in der Altstadt von Diyarbakir, Sur. Der Journalist Cafer Solgun besuchte zum Neujahr die heimliche Hauptstadt der Kurden der Türkei, Diyarbakir.

Diyarbakir
«Die Leichen verwesen mitten auf den Strassen in Sur, in Cizre, in Silopi und in Dargecit», schrieb er in einem erschütternden Bericht in der Tageszeitung «Zaman». «Der Neujahrsabend war voll von bewaffneten Auseinandersetzungen, das Geräusch von Bomben und Schüssen hallte durch die ganze Nacht hindurch. Friedensaktivisten demonstrierten am 1. Jahrestag im Namen vom Frieden und Mediziner um die Erlaubnis, Kranke behandeln zu dürfen. Drei Familien führten einen Hungerstreik durch. Sie wollten damit erreichen, dass sie die toten Körper ihrer Kinder von der Strasse nach Hause nehmen dürfen».
Ein weiterer Augenzeuge berichtet, dass die Leichen von mindestens zwei Halbwüchsigen seit acht Tagen auf dem Platz vor der grossen Stadtmoschee Ulu-Camii liegen. Wie abgrundtief muss der Hass sein, der nicht mal Respekt vor den Toten zulässt? Und wie entsetzlich der Albtraum der Eltern, die aus der Ferne zusehen müssen, wie die Leichen ihrer Kinder verwesen?

Niedergang ohne Ende

Dabei hatte das Jahr 2015 für den kurdischen Südosten so hoffnungsvoll angefangen. Eine Lösung der Kurdenfrage der Türkei schien in greifbarer Nähe nicht nur, weil die regierende Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) hinter den Kulissen mit den Rebellen der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) seit 2013 Friedensgespräche führte und der Waffenstillstand seit über zweieinhalb Jahren hielt. Letzten Februar konnte die Regierung mit der pro-kurdischen Demokratischen Partei der Völker (DHP) unter der Führung des gemässigten Kurdenpolitiker Selahattin Demirtas das sogenannte «Dolmabahce-Abkommen» erreichen, das erstmals versprach, dem 30-jährigen bewaffneten Konflikt ein endgültiges Ende zu setzen. Der junge Kurdenpolitiker Demirtas wurde damals wie ein Held gefeiert. Seine Popularität erreichte nicht nur im kurdischen Südosten, sondern landesweit, einmalige Werte.

Die Wahlen vom Juni 2015 durchkreuzten allerdings sämtliche Friedenspläne. Um Stimmen im kurdenfeindlichen rechtsextremen politischen Spektrum nicht zu verlieren, machte Präsident Recep Tayyip Erdogan eine Vollbremse. Die PKK hätte nicht, wie vorgesehen, alle ihre Rebellen aus der Türkei abgezogen, liess er verlauten. Dies nahm die Regierung zum Anlass, um eine Umsetzung des vielversprechenden Dolmabahce-Abkommens auf unbestimmte Zeit auszusetzen. Aus einem makabren Macht-Kalkül nahm der Präsident dabei einen, wie er glaubte, zeitlich kurzen und nur in der Region des Südostens beschränkten Krieg mit den Kurden in Kauf.

Ende Juli 2015 sprengte sich eine Selbstmordattentäterin im Kulturzentrum der südöstlichen Ortschaft Suruc in der Luft und riss 33 junge kurdische Aktivisten mit in den Tod. Wie sich bald herausstellte, war die Attentäterin Mitglied des Islamischen Staats in Syrien und der Levante (ISIS). Dutzende Verschwörungstheorien machten im kurdischen Südosten alsbald die Runde. Die PKK beschuldigt die Türkei, heimlich die Terroristen der ISIS zu unterstützen, damit diese dem Experiment der syrischen Kurden nach einer Selbstverwaltung im Gebiet um Rojava zerstören.
Tatsächlich macht Ankara keinen Hehl aus seinem Unmut über Rojava, das direkt entlang der türkisch-syrischen Grenze liegt. Politiker und die Armeeführung in Ankara befürchten, ein gelungenes Experiment kurdischer Selbstverwaltung in Syrien könnte den türkischen Kurden zum Vorbild werden und sprechen offen von den «roten Linien» der Türkei, wenn sie sich auf Rojava oder auf den syrischen Kurden beziehen. Das Attentat von Suruc nahm die PKK zum Anlass, um ihren Waffenstillstand für beendet zu erklären.

Menschenrechte massiv verletzt

In den Sommermonaten fingen PKK-treue Jugendliche an, in Hochburgen der PKK wie in Silvan und Silopi, in Cizre, Sirnak und Nusaybin um ihre Viertel Strassenbarrikaden zu errichten. Es handelte sich meist um Halbwüchsige, die daraufhin ihr jeweiliges Gebiet zur «befreiten Zone» erklärten.

Der unfassbare Wahnsinn setzte allerdings erst ein, als die türkische Armeeführung sich an die alt-bewährten Methoden der repressiven 1990er Jahre zurückbesann und damit bei der politischen Führung auf grossen Zuspruch stiess.
200’000 Menschen auf der Flucht
Die «neue» Strategie folgt immer dem gleichen Muster: der Gouverneur der jeweiligen Provinz erklärt den Ausnahmezustand für eine Stadt, ein Stadtviertel oder ein Gebiet. Daraufhin wird das Gebiet von Sicherheitskräften umstellt. Solange der Ausnahmezustand gilt, bleiben diese Gebiete meist ohne Elektrizität und Kommunikation, ohne Schulen und ohne medizinische Versorgung, die Nahrungsmittel werden knapp. Wer sich ohne die ausdrückliche Erlaubnis der Sicherheitskräfte auf der Strasse bewegt, gilt als Freiwild, Tote verwesen auf den Strassen oder werden von ihren Familien in Kühltruhen gesteckt, um ihren Verwesungsprozess zu verlangsamen.

Sobald der Ausnahmezustand aufgehoben wird und die Presse Zugang zu den Ortschaften erhält, trifft sie auf Häuser, die mit Kugeln durchsiebt oder von Panzern niedergewalzt sind. Und sie trifft auf traumatisierte Menschen, die nur eines wollen: flüchten. Gemäss Hochrechnungen der Menschenrechtsorganisationen sind derzeit im Nato-Land Türkei rund 200’000 Menschen auf der Flucht.

Fundamentale Menschenrechte würden in den belagerten Gebieten «massiv verletzt», erklärte der bekannte Menschenrechtsaktivist Orhan Kemal Cengiz. «Als wäre die Türkei mit einem Ruck in die 1990er Jahre zurückversetzt». Im diesem destruktiven Vorgang gäbe es allerdings ein ganz neues Element: die Sondertruppe Esedullah. «Auf Häuserwänden der zerstörten Vierteln sieht man immer wieder den Spruch ‹das Team der Esedullah war hier› und traumatisierte Opfer sprechen immer davon». «Esedullah» steht für die «Löwen Gottes». Wie der HDP-Abgeordnete aus Diyarbakir Caglar Demirel erklärte, handle es sich bei den Esedullah-Mitgliedern um «maskierte bärtige Männer, die skrupellos auf Frauen und Babies schiessen und Männer dazu zwingen, sich auf den Boden zu legen, um dann ihre Hände und Füsse zu brechen. Oft machten sie den Eindruck, unter Drogen zu stehen. Jedenfalls ahmten sie dem Aussehen und Auftritt der ISIS nach».

Ausweitung zum Bürgerkrieg?

Nach den IS-Attentaten von Paris hat sich die westliche Allianz gegen die Terrororganisation neu formiert. Ganze Flotten von Kampfflugzeugen der unterschiedlichsten Nato-Mitgliedländer sind auf dem türkischen Luftwaffenstützung «Incirlik» stationiert. Von Incirlik aus starten US-Amerikaner und Franzosen ihre täglichen Angriffe auf Stellungen der IS in Syrien mit der Begründung, das Ende dieser Terrororganisation herbeiführen zu können, welche im ihren Einflussgebiet grob Menschenrechte verletzt. Weil die Nato-Mitgliedstaaten für ihre Angriffe auf den türkischen Luftwaffenstützpunkt Incirlik angewiesen sind, ignorieren sie dabei, was im Südosten der Türkei passiert.

Auch die EU übt sich im Verhalten vom «nichts gesehen, nichts gehört, nichts gesagt», solange die Türkei verspricht, den EU-Mitgliedstaaten die Flüchtlingen vom Leibe zu halten. Ein Hohn auf die westlichen Prinzipien, welche die EU in der Welt vertreten wollte.

Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan ist ein Machtpolitiker. Er weiss, dass er seriöse Kritik seitens seiner westlichen Alliierten nicht zu befürchten hat. In seiner Neujahrsansprache drohte er, die PKK bis zum Ende zu bekämpfen. Wie er ausführte, seien im 2015 insgesamt 3100 «Terroristen» und 200 Sicherheitskräfte getötet worden. Und: «Unsere Sicherheitskräfte säubern die Städte Meter um Meter von den Terroristen».

In Wirklichkeit wird ein schonungsloser Feldzug gegen kurdische Politiker geführt. Die Staatsanwaltschaft in Ankara hat kurz vor dem Jahreswechsel Ermittlungen gegen den Kurdenführer Demirtas eingeleitet. Er wird der Anstachelung zur Gewalt und der Störung der öffentlichen Ordnung beschuldigt. Demirtas soll beim zweitägigen Kongress einer Dachorganisation der kurdischen Bewegungen der Türkei, zu der die HDP auch gehört, Ende Dezember gesagt haben: «Die Kurden sollten entscheiden, ob sie nach Autonomie streben oder unter der Tyrannei eines Mannes leben» wollten. Seither gilt Demirtas aus Sicht Ankaras als Nationalverräter. Nun drohen ihm bis zu 24 Jahre Haft. Weil die Dachorganisation der kurdischen Bewegungen bei ihrem Treffen ihre Forderung nach Autonomie für die Kurdengebiete der Türkei bekräftigte, wurden seit Beginn dieses Jahres 10 gewählte Bürgermeister ihres Amtes enthoben und teils festgenommen. Gegen weitere 106 Gemeinden wurden Ermittlungen eingeleitet.

Wie weiter?

Schah Ismail Bedirhanoglu, Chef der Industriellerkammer von Diyarbakir, appelliert an Regierung und PKK, ihre Friedensgespräche sofort wiederaufzunehmen und dem Horror im kurdischen Südosten ein Ende zu setzen. Der Geschäftsmann, dessen Büros am Rande der Altstadt entlang der schwarzen byzantinischen Mauer liegen, hat im Laufe seines Geschäftslebens vieles erlebt, darunter auch die dunkle, eiserne Ära der 1990er Jahre. Etwas Ähnliches wie jetzt habe er nie gesehen, sagte er der internet-Zeitung «Al Monitor». Sur, bis vor kurzem noch das kommerzielle Herz nicht nur Diyarbakirs sondern vom ganzen Südosten, verkam nach Ausrufung des Ausnahmezustands zu einer toten Stadt. Tausende Geschäfte mussten schliessen, «Wir sind ruiniert». Schah Ismail Bedirhanoglu ist davon überzeugt, dass der türkische Staat das Recht der Kurden auf Selbstverwaltung anerkennen müsste. Die Alternative? «Allah bewahre, das wird ein umfassender Bürgerkrieg».

Während der Kämpfe der 1990er Jahre wurden Tausende von Dörfern, Weilern und Kleinstädten im Südosten der Türkei, mehrheitlich von den Sicherheitskräften, in Brand gesetzt und zwangsevakuiert. 1,5 Millionen Menschen mussten fliehen, viele unter ihnen auch in den Westen des Landes. Die Metropole Istanbul gilt mit schätzungsweise 4 Millionen Kurden als die grösste kurdische Stadt der Türkei. Unter den oft arbeitslosen kurdischen Jugendlichen der westlichen Städte findet die PKK grossen Anklang. Und die PKK hat nach Beginn der Ermittlungen gegen Demirtas gedroht, ihren bewaffneten Kampf in den Westen der Türkei zu tragen, sollten die Gespräche über eine Autonomie der Kurden nicht sofort beginnen.

*Infosperber vom 4.1.2016: Krieg gegen die Kurden: SRF-Tagesschau schaut weg


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Amalia van Gent war von 1988 bis 2009 Türkei-Korrespondentin der NZZ und beschäftigt sich seither intensiv mit dem Kurdenkonflikt. Im Rotpunktverlag ist ihr Buch „Leben auf Bruchlinien – die Türkei auf der Suche nach sich selbst“ erschienen.

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2 Meinungen

  • am 12.01.2016 um 10:13 Uhr
    Permalink

    Danke für den Artikel. Seit ich Infosperber lese, verzichte ich auf die Tagesschau. Es scheint, dass auch UNO und Nato wegschauen. Für sie sind eben nur Menschen aus eigenen Reihen und Verbündeten etwas wert, den andern werden keine Menschenrechte zugestanden und sie dürfen beliebig verfolgt, gequält und getötet werden.

  • am 13.01.2016 um 10:31 Uhr
    Permalink

    Die Politik der EU ist verlogen und mörderisch. Diese Politiker gehören vor ein internationales Tribunal. Auf ihr Konto gehen die toten Kinder des Donbass und die toten kurdischen Kinder.

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