USA: Mächtige jüdische Lobbygruppe rüttelt am Zionismus
upg. Dieser Gastbeitrag stammt vom liberal-orthodoxen Juden Peter Beinart auf «Jewish Currents». Er ist Professor für Journalismus und Politikwissenschaften an der City-University of New York. Übersetzung und Zwischentitel von Infosperber.
Nach dem überwältigenden Wahlsieg des Muslims Zohran Mamdani in New York erklärte Jeremy Ben-Ami, Präsident der jüdischen Lobby-Organisation «J Street»: «Politische Persönlichkeiten wie Mamdani könnten eine wichtige Rolle spielen, wenn wir unser Ziel erreichen wollen», nämlich «Sicherheit der Juden» in Israel und gleichzeitig «palästinensische Unabhängigkeit».
Er wolle nicht mehr darüber argumentieren, sagte er bereits im August, ob der Krieg in Gaza ein Völkermord sei: «Ich wurde durch rationale juristische und wissenschaftliche Argumente überzeugt, dass internationale Gerichte eines Tages feststellen werden, Israel habe die internationale Völkermordkonvention gebrochen.»
Liberale Zionisten und Antizionisten müssten nicht zwangsläufig politische Gegner sein. Aufgrund ihres gemeinsamen Bekenntnisses zu «demokratischen Prinzipien» müssten sie zusammenarbeiten, «um die Bedrohung von rechts zu bekämpfen».
Liberal-zionistische Kreise haben Mamdanis Kampagne unterstützt
Das überraschendste war nicht die Wahl Mamdanis als solche, sondern dass liberal-zionistische Kreise ihn nicht bekämpften, sondern unterstützten.
Noch Wochen vor dem Wahltag unterzeichneten Ende Oktober über 1100 Rabbiner aus dem ganzen Land einen Brief, in dem sie den «aufkommenden Antizionismus und seine politische Normalisierung in unserer Nation» verurteilten. Zu den Unterzeichnern gehörten nicht nur Konservative und Zentrumsvertreter, sondern auch liberale Zionisten, darunter 65 Rabbiner und Kantoren, die mit der liberal‑zionistischen Lobbygruppe «J Street» verbunden sind. Angela Buchdahl, wohl die bekannteste Reformrabbinerin New Yorks, warf Mamdani vor, «ein althergebrachtes antisemitisches Klischee zu fördern, wonach Juden weltweit die Wurzel unserer Probleme seien».
Das war vorhersehbar: Liberale Zionisten haben sich seit Langem gegen die «politische Normalisierung» des Antizionismus ausgesprochen und meist Kandidaten bekämpft, die den jüdischen Staat herausforderten.
Doch schon vor der demokratischen Vorwahl erhielt Mamdani die Unterstützung seines Konkurrenten Brad Lander. Er ist der höchstrangige jüdische Amtsträger der Stadt.
Nach der Vorwahl gewann Mamdani die Unterstützung des Abgeordneten Jerrold Nadler, des dienstältesten jüdischen Mitglieds des US-Kongresses, sowie des Abgeordneten Micah Lasher. In den letzten Wochen des Wahlkampfes schlossen sich weitere prominente liberalen Zionisten an. Es waren Personen, welche die Existenz des jüdischen Staates selbstverständlich verteidigen, Israels Besetzung des Westjordanlandes jedoch ablehnen.
Victor Kovner, einer der Gründer von «J Street», Rabbinerin emerita Sharon Kleinbaum und Staatssenatorin Liz Krueger unterstützten alle Mamdanis Kampagne. Alle erklärten, sie stimmten mit Mamdani in der Israel‑Frage nicht überein, würden ihn jedoch trotzdem unterstützen. «Ich unterscheide mich von einigen von Mamdanis Ansichten über die Zukunft von Israelis und Palästinensern», schrieb beispielsweise Kovner in The Forward, «einschliesslich seiner fehlenden klaren Unterstützung einer Zwei‑Staaten‑Lösung». Aber man müsse nicht in allen Ansichten über den Nahen Osten übereinstimmen, um ihn für den «besten Kandidaten für das Bürgermeisteramt» zu halten.
Zeichen eines historischen Wandels
Das ist ein neues politisches Phänomen. Seit 1967 haben die organisierten jüdischen Gemeinschaften in den USA und praktisch alle US-Politiker die rechtliche jüdische Vorherrschaft im israelischen Staat als nicht verhandelbar betrachtet. Antizionismus galt als Tabu.
Mamdanis Sieg deutet darauf hin, dass wir einem historischen Wandel beiwohnen. Der zunehmend rechtsgerichtete Charakter sowohl der israelischen Regierung als auch des pro‑israelischen Establishments in den USA führt dazu, dass einige Zionisten aufhören, den Zionismus als politischen Lackmustest zu verwenden.
Indem Mamdani Antizionisten und liberale Zionisten vereint, hat er eine Koalition geschaffen, die es Amerikanern – trotz unterschiedlicher Visionen für Israel und Palästina – erlaubt, das gemeinsame Ziel zu verfolgen, die bedingungslose US‑Unterstützung für Israel zu beenden.
Diese Koalition könnte in den kommenden Jahren die Demokratische Partei und die amerikanische Politik insgesamt verändern.
In den letzten Jahrzehnten galt die Brandmauer. Antizionisten hatten keine Chancen, in politische Ämter gewählt zu werden. Als die damalige Kongressabgeordnete Rashida Tlaib im Jahr 2018 andeutete, sie könnte sich einen einzigen demokratischen Staat in Israel-Palästina vorstellen, verlor sie die Unterstützungvon «J Street».
Die Lobbygruppe, die verlangt, dass Kandidaten «sich verpflichten, die US‑Sicherheitsunterstützung für Israel gemäss dem unter Präsident Obama ausgehandelten zehnjährigen Memorandum of Understanding zu unterstützen», unterstützte nicht einmal gemässigtere Progressive wie Alexandria Ocasio‑Cortez, Ilhan Omar oder Cori Bush.
«The Forward» stellte fest, dass «J Street» 2022 insgesamt 48 Kandidaten unterstützte, die auch AIPAC empfahl. Diese proisraelische Lobby unterstützt Israels Regierung bedingungslos. «J Street» unterstützte nur einen einzigen Kandidaten, der auch von der antizionistischen Gruppe Jewish Voice for Peace (JVP) befürwortet wurde.
Nicht nur «J Street» verweigerte Bündnisse mit Antizionisten: Letztes Jahr lehnte die Kampagne von Kamala Harris es ab, einem palästinensisch‑amerikanischen Delegierten eine Rede auf dem Parteitag der Demokraten zu erlauben. Im Sommer 2025 entzog die Demokratisch‑Landwirtschaftliche Arbeitspartei Minnesotas dem Bürgermeisterkandidaten Omar Fateh ihre Unterstützung. Von der JVP wurde er unterstützt, obwohl er den Boykott Israels befürwortete.
Keine Hierarchie auf Basis von Rasse oder Religion
Mamdanis Erfolg zeigt, dass diese Brandmauer zu bröckeln beginnt. Mamdani präsentierte seine Positionen zu Israel‑Palästina – radikal im US-Kontext – in liberal‑universalistischer Sprache. Er begründete seine Ablehnung der jüdischen Staatlichkeit mit der Gleichheit vor dem Gesetz. In einer Debatte im Oktober sagte er, er «würde das Existenzrecht eines Staates, der ein System der Hierarchie auf Basis von Rasse oder Religion verfolgt, nicht anerkennen». Als Amerikaner glaube er an die Bedeutung von Gleichberechtigung für alle in jedem einzelnen Land. Er sehe Israel nicht als eine Ausnahme. Er lehne nicht nur die jüdische Vorherrschaft in Israel, sondern auch die hinduistische in Indien und die islamische in Pakistan und Saudi-Arabien ab.
Diese Argumente sprechen einige liberale Zionisten an, die sich immer mehr vom Handeln des jüdischen Staates entfremden. Auf ihrer Website erklärt die New York Jewish Agenda: «Wir sind stolz darauf, uns als liberale Zionisten zu bezeichnen.» Doch in einem Guardian-Bericht räumte ihre Exekutivdirektorin Phylisa Wisdom ein, dass sich viele Mitglieder im Umbruch befänden: «Viele Menschen konnten sich nie vorstellen, für einen antizionistischen Bürgermeister zu stimmen.» Viele liberale Zionisten seien mit Mamdani der Ansicht, dass «Benjamin Netanjahu ins Gefängnis sollte».
Auch die Positionen von «J Street» haben sich verändert. Noch im Januar 2024 zog «J Street» die Unterstützung für den New Yorker Abgeordneten Jamaal Bowman zurück, teils weil dieser Israel des Völkermords beschuldigt hatte.
Unterdessen hat «J Street», wie eingangs erwähnt, ihre Haltung geändert.
Einige liberale Zionisten nähern sich Mamdani nicht nur an, weil sie sich von Israel entfremden, sondern auch, weil sie sich von vielen der Verteidiger Israels entfremden. Brad Lander ist vermutlich der prominenteste jüdische liberale Zionist, der in New York ein Amt bekleidet. Er warfIsrael «Kriegsverbrechen», «ethnische Säuberung» und «erzwungene Hungersnot» in Gaza vor.
Wahlverlierer Andrew Cuomo hatte aktiv die Nähe zum israelischen Establishment gesucht und trat dem juristischen Team Netanjahus am Internationalen Strafgerichtshof bei. Zudem machte Cuomo mit offener antimuslimischer Hetze Schlagzeilen. Er nannte Mamdani einen «Terroristen-Sympathisanten» und lachte, als ein Moderator meinte, Mamdani hätte 9/11 sicher bejubelt. Das führte zu scharfen Reaktionen von «J Street» und Jerry Nadler.
Je nach Definition von Zionismus
2022 fragte die kanadische Politikwissenschaftlerin Mira Sucharov amerikanische Juden, ob sie Zionismus je nach vorgegebener Definition unterstützten. Wurde Zionismus als «Glauben an einen jüdischen und demokratischen Staat» definiert, stimmten 72 Prozent zu. Definierte man ihn als «Glauben an die Bevorzugung jüdischer Rechte über nicht-jüdische in Israel», waren es nur noch 13 Prozent.
Durch seine Nähe zu Netanjahu und Islamophobie hat Cuomo den Zionismus so definiert, dass viele liberale Zionisten sich unwohl fühlen.
Derzeit sind sowohl Antizionisten als auch liberale Zionisten weit von ihren Zielen entfernt. Weder ein dekolonisierter Einheitsstaat zwischen Mittelmeer und Jordan noch eine Teilung in jüdischen und palästinensischen Staat ist kurzfristig realistisch.
Doch gerade weil die Endziele in weiter Distanz liegen, könnte man sich über kurzfristige Ziele einig werden. Dazu gehört etwa, Israel weniger Militärhilfe zu gewähren, oder der Widerstand gegen Trumps Autoritarismus im eigenen Land.
Mamdanis Sieg könnte eine linksliberale Koalition ankündigen, analog den progressiven Bündnissen der US-Geschichte: Zwischen 1935 und 1939 unterstützte die Kommunistische Partei Amerikas den New Deal. 1967 schloss sich die New-Left-Gruppe Students for a Democratic Society den Protesten des National Mobilization Committee to End the War in Vietnam an. Dieser Zusammenschluss umfasste auch moderate Kriegsgegner. In diesen Fällen hatte die Linke die Liberalen unterstützt.
Weil Antizionismus unter US-Politikern ausgesprochen selten ist, werden Linke künftig vielleicht ebenso taktisch wie früher über Bündnisse entscheiden, während sich die Demokratische Partei dem Kampf für palästinensische Rechte anschiesst.
Angesichts der generationellen und ideologischen Trends, die Mamdanis Kampagne aufgezeigt hat, könnte sich die nationale Machtbalance langfristig nach links verschieben und liberale Zionisten könnten selbst in die unterstützende Rolle gelangen. Sollte diese Koalition zu einer echten Alternative werden – sowohl gegenüber weisser christlicher Dominanz in den USA als auch gegenüber der bedingungslosen Unterstützung jüdischer Vorherrschaft in Israel – könnte sich die Bürgermeisterwahl von New York 2025 eines Tages als ein Wendepunkt entpuppen.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine
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Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.










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