snapshot

Abdullah Öcalan in den 1980er-Jahren in einem Ausbildungslager für kurdische Kämpfer im Irak. Sein Einfluss auf die PKK ist noch immer gross. © SRF

Türkei: Die Wende in der Kurdenfrage ist nun unumkehrbar

Amalia van Gent /  Die Selbstauflösung der PKK hat das Potenzial, die Geschichte der Türkei neu zu schreiben. Wenn Ankara den nächsten Schritt wagt.

«Der Kampf der PKK hat die Politik der Verleugnung und der Vernichtung unseres Volkes zerschlagen und die kurdische Frage an einen Punkt gebracht, an dem sie durch demokratische Politik gelöst werden kann. In dieser Hinsicht hat die PKK ihre historische Mission erfüllt.»

Mit diesen Worten verkündete die Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) auf ihrem 12. Kongress das Ende ihres mehr als vier Jahrzehnte währenden bewaffneten Kampfes gegen den türkischen Staat. Die Organisation werde aufgelöst und der bewaffnete Kampf beendet; die Bewegung schlage einen neuen Weg ein, hiess es in den Beschlüssen. In der Türkei war von einer Zeitenwende in der Kurdenpolitik die Rede.

Öcalans ungebrochener Einfluss auf die Bewegung

Am Montag strahlte der PKK-nahe Nachrichtensender ANF erstmals Bilder des Kongresses aus, der zwischen dem 5. und dem 7. Mai im nordirakischen Kandil-Gebirge stattfand – offenbar unter ständigem schwerem Beschuss der türkischen Luftwaffe. Auf dem Podium sassen eine Reihe von Kommandeuren aus der Gründergeneration, die, inzwischen ergraut, ihrem Idol Abdullah Öcalan schworen, seinem neuen Kurs Folge zu leisten. «Wir schreiben eine neue Geschichte», beschwor die einflussreiche Besê Hozat ihre Zuhörer: «Dies ist nicht das Ende, sondern ein bewusster Neuanfang.»

Der Oberkommandierende der PKK-Kämpfer Murat Karayilan gedachte vor allem der Gefallenen: «Die PKK trat in einer Zeit auf, in der schon ihr Name verboten war. Alles wurde mit Leben, Blut und Widerstand aufgebaut.» Karayilan forderte Ankara auf, auf den ersten Schritt der PKK mit rechtlichen Rahmenbedingungen und einem Ende der militärischen Gewalt zu antworten: «Wir vertrauen Rêber Apo (Abdullah Öcalan, die Red.). Aber damit wir die Waffen wirklich niederlegen können, muss der Staat Vertrauen schaffen.».

Über ein Jahr lang führte der PKK-Gründer Abdullah Öcalan aus seiner Zelle auf Imrali Geheimgespräche mit der Regierung des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan, um den bewaffneten Flügel der PKK zur Niederlegung ihrer Waffen zu bewegen und eine «Türkei ohne Terror» zu schaffen. Der 12. Kongress, der seinem Aufruf vom 27. Februar folgte, hat einmal mehr bewiesen, dass dieser Mann auch nach 26 Jahren Isolationshaft die PKK-Mitglieder in seinen Bann ziehen kann und über einen ungebrochenen Einfluss selbst auf den militärischen Teil seiner PKK verfügt. Er kontrolliert die kurdische Nationalbewegung der Türkei.

Politik der Leugnung

Die PKK machte in der Türkei erstmals Schlagzeilen, als im August 1984 ein Dutzend bewaffnete Männer in die Moscheen der beiden abgelegenen Dörfer Eruh und Şemdinli im Südosten der Türkei eindrangen und von den Minaretten den Beginn ihres Freiheitskampfes verkündeten.

Die Türkei der 1980er Jahre war eine «andere» Türkei: Der kurdisch besiedelte Südosten galt im Westen des Landes als das Armenhaus der damals gesamthaft sehr armen Türkei. Die westlichen Eliten wagten selten eine Reise weiter nach Osten als Ankara, und sie belächelten den Osten allgemein als rückständige Heimat der Aghas (Grossgrundbesitzer) und der Scheichs (religiöse Führer). Wirtschaftliche Not und Perspektivlosigkeit kennzeichneten die Strassen von Diyarbakir, der schon damals grössten Stadt im Osten.

Die türkischen Generäle putschten im September 1980 im Namen der Rettung der «kemalistischen Prinzipien», liessen politische Parteien verbieten und Abertausende verhaften und foltern. Das Gefängnis von Diyarbakir wurde zum wohl gefürchtetsten Folterzentrum des Landes. Die Generäle glaubten, im Osten der Türkei auch das kemalistische Prinzip des Einheitsstaates verteidigen zu müssen. «Es gibt keine Kurden in der Türkei, Kurden sind Bergtürken», so lautete die Staatsräson, die ihre Wurzeln im Vertrag von Lausanne 1923, der eigentlichen Staatsurkunde der Republik Türkei hatte.

Tatsächlich machen die Kurden rund 20 Prozent der türkischen Bevölkerung aus. Millionen sahen sich ihrer Sprache, ihrer Lieder und ihrer Identität beraubt. Wer sich dieser Politik der Leugnung widersetzte, landete im Folterzentrum von Diyarbakir. Doch das verschaffte der PKK nach 1984 neuen Zulauf.

Selbstbewusste kurdische Nationalisten

In den 1990er-Jahren lebte Abdullah Öcalan unter dem Schutz des syrischen Machthabers Hafiz al-Assad in einem Vorort von Damaskus. Seine jungen Kämpfer wurden in der Bekaa-Ebene von linksgerichteten Palästinensern im Guerillakampf ausgebildet und wieder in die Türkei eingeschleust.

Als selbstbewusste kurdische Nationalisten kehrten sie in den urbanen Zentren die jahrzehntelange Demütigung ihres Volks durch den Staat in ihr Gegenteil um: «Kurdisch ist schön.» Kurden in der Türkei, in Syrien oder im Iran fühlten sich von dieser Parole angesprochen und schlossen sich der PKK an. Ende der 1990er-Jahre war die PKK eine der einflussreichsten Bewegungen im Nahen Osten.

Nach der Festnahme Öcalans 1999 hat die Bewegung viel von ihrer anfänglichen Dynamik verloren. Dazu kostete der massive Einsatz der berüchtigten Killerdrohnen unzähligen hochrangigen Kadern das Leben – die PKK wurde geschwächt, besiegt wurde sie aber nicht.

Neue Erkenntnisse und Friedensbemühungen

Spätestens zu Beginn der 2010er-Jahre war der türkischen Führung und der PKK bewusst, dass eine militärische Lösung der Kurdenfrage in der Türkei nicht möglich war. Keine der beiden Seiten konnte den alleinigen militärischen Sieg erringen. Beide Seiten waren sich ferner auch einig, dass die Verfassung der Kemalisten von 1924 längst überholt war: Die darin verankerten Prinzipien einer einzigen, türkischen Nation und des strikten Säkularismus hatten mit der Realität der Türkei nichts mehr zu tun.

Der kurdischstämmige Hakan Fidan, heute türkischer Aussenminister und ehemals Chef des mächtigen türkischen Nachrichtendienstes (MIT) nahm 2009 in Oslo Gespräche mit der PKK und in Imrali mit Öcalan auf. Ein detailliertes Friedensabkommen wurde 2013 ausgearbeitet und öffentlich verkündet. Dies scheiterte 2015 jedoch vor allem an kleinlicher Machtpolitik in Ankara: Erdoğan wollte damals durch eine Verfassungsänderung die Macht in seinen Händen konzentrieren und war auf die Unterstützung der pro-kurdischen Partei angewiesen. Der junge, charismatische kurdische Politiker Selahaddin Demirtaş verweigerte Erdoğan die Unterstützung.

Ankaras Rache war gnadenlos: Im Krieg, der kurz danach folgte, wurden kurdische Dörfer und Kleinstädte dem Erdboden gleichgemacht, Menschen bei lebendigem Leibe in Brand gesetzt. Demirtaş und weitere führende Persönlichkeiten der prokudischen Partei landeten hinter Gitter.

Wie stehen Chancen des jüngsten Friedensabkommens?

Sind die Chancen für eine politische Lösung heute besser als 2015? Der türkische Präsident Erdoğan ist wie 2015 auf die Unterstützung der pro-kurdischen Partei DEM angewiesen: Er beansprucht für sich eine dritte Amtszeit, was die türkische Verfassung verbietet, und kann nur mit Hilfe der DEM die Verfassung entsprechend ändern. Die DEM-Führung hat in den letzten Monaten zwischen Öcalan auf Imrali, den PKK-Kadern im Nordirak und der Regierung vermittelt. Um eine Wiederholung des traumatischen Krieges von 2015 von vornherein auszuschliessen, soll sie Kennern zufolge Erdoğan bereits ihre Unterstützung für eine Verfassungsänderung zugesichert haben.

Im Gegenzug fordert sie nun mit Nachdruck die Freilassung der politischen kurdischen Gefangenen. Neben dem charismatischen Selahaddin Demirtaş kamen im Laufe des letzten dunklen Jahrzehnts rund 50’000 kurdische Politiker hinter Gitter. In Freiheit könnten sie nun die Speerspitze der politischen Lösung bilden.

Erstaunliche Rhetorik der Regierung

Mehmet Uçum, Chefberater des türkischen Präsidenten, reagierte unerwartet euphorisch auf die Beschlüsse des 12. PKK-Kongresses: «Die Kurden sind ein untrennbarer Bestandteil der Nation und Mitbegründer der Republik. Der türkische Staat ist auch der Nationalstaat der Kurden», sagte er und bezeichnete das laufende Jahrhundert als das «türkisch-kurdische Jahrhundert». So etwas hatte man seit 1923 aus der Regierungsetage in Ankara nicht gehört.

Die neue Rhetorik machte auch vor der rechtsextremen Partei MHP nicht halt: «Der Sumpf der Vorurteile muss trockengelegt und die künstlichen Spannungen zwischen Türken und Kurden müssen ausgeklammert werden», erklärte der MHP-Vorsitzende Devlet Bahçeli. Bahçeli hatte letzten Oktober als erster die jüngste Friedensinitiative mit der PKK der Öffentlichkeit vorgestellt und damit Zuhörer und Parteigenossen in völlige Verwirrung gestürzt. Hatte doch seine rassistisch geprägte Partei bis dahin die Staatsräson «Staat, eine Nation und eine Fahne» oft mit brutaler Gewalt verteidigt.

Ankara braucht ein neues Narrativ, um der türkischen Bevölkerung die Kehrtwende der Regierung zu vermitteln. «Die Republik Türkei hat sich nie durch Verleugnung, Zerstörung, Assimilation oder Völkermord befleckt», behauptete Bahçeli. Dabei führte er den Krieg der letzten 40 Jahre nur auf die Machenschaften böser ausländischer Kräfte zurück – eine offensichtliche historische Lüge.

40 Jahre lang bekämpften sich der türkische Staat auf der einen Seite und die Anhänger der kurdischen Nationalbewegung auf der anderen unerbittlich. Wie viele Opfer dieser offiziell nie erklärte Krieg gefordert hat, kann niemand genau sagen. Die offizielle Zahl verharrt seit mehr als einem Jahrzehnt bei 40’000 Toten, inoffiziell hat sie die 50’000 längst überschritten.

Unklar ist auch, wie viele Dörfer und Kleinstädte dem Erdboden gleichgemacht wurden, wie viele Arbeitsplätze und wie viel Anbaufläche verloren gingen. Unumstritten ist hingegen, dass der Krieg um die Anerkennung der kurdischen Identität in der Türkei auf beiden Seiten viel Leid und unsäglichen Schmerz verursacht hat. Allein die Aussicht, dass die Waffen schweigen könnten, hat im kurdischen Süden deshalb eine Aufbruchstimmung ausgelöst.

Ob der türkische Präsident Erdoğan und sein Verbündeter Bahçeli die türkische Öffentlichkeit für ihr neues Narrativ und damit für die Friedensinitiative gewinnen können, bleibt abzuwarten. Erdoğans Popularität hat nach der Festnahme des Istanbuler Bürgermeisters Ekrem Imamoglu und den grossen Strassenprotesten im Westen der Türkei arg gelitten. Sollte es dem türkischen Präsidenten wider Erwarten doch noch gelingen, die breite Öffentlichkeit für seine Friedensinitiative zu gewinnen, wäre dies ein Beginn dafür, dass die Republik die Kurden erstmals nach über 100 Jahren als gleichberechtigte Bürger akzeptieren und die Geschichte der Türkei neu geschrieben würde. Aber nur dann.


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine
_____________________
➔ Solche Artikel sind nur dank Ihren SPENDEN möglich. Spenden an unsere Stiftung können Sie bei den Steuern abziehen.

Mit Twint oder Bank-App auch gleich hier:



_____________________
Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.

Zum Infosperber-Dossier:

TrkeiFlagge

Türkei: Innen- und Aussenpolitik

Recep Tayyip Erdoğan brachte nicht nur Städten, auch ländlichen Gebieten Wohlstand. Zu welchem Preis?

War dieser Artikel nützlich?
Ja:
Nein:


Infosperber gibt es nur dank unbezahlter Arbeit und Spenden.
Spenden kann man bei den Steuern in Abzug bringen.

Direkt mit Twint oder Bank-App



Spenden

Eine Meinung zu

  • am 16.05.2025 um 12:05 Uhr
    Permalink

    Betreffend Wertebasierender Weltordnung des Westens, auch hier wird das «Selbstbestimmungsrecht der Völker» mit Füssen getreten. Die Kurden haben niemanden, der sich für sie einsetzt, so wie sich Russland für den russischsprachigen Teil der Ukraine.einsetzt.

Ihre Meinung

Lade Eingabefeld...