Cengiz Aktar

Mindestens die Hälfte der Gesellschaft in der Türkei trete für faschistische Parteien ein – und niemand frage nach den Gründen, sagt der türkische Wirtschaftswissenschaftler Cengiz Aktar. © Kolchis Verlag

Türkei: «Das Land ist ein völlig zerrüttetes Gemeinwesen»  

Amalia van Gent /  Über 70 Prozent der Bevölkerung wählten ultranationalistische Parteien. Nur knapp 100 Abgeordnete bekennen sich zur Demokratie.

Cengiz Aktar promovierte an der Pariser Sorbonne in den Wirtschaftswissenschaften, arbeitete für die Vereinten Nationen sowie für die Europäische Union als Ratgeber in Migrationsfragen und lehrte zuletzt an der Istanbuler Bahçeşehir Universität. Der unbequeme Analytiker hat sich eingehend mit dem Verhältnis zwischen der Türkei und Europa auseinandergesetzt, auch in seinem Buch «Die türkische Malaise: Ein kritischer Essay». Der 1955 in Istanbul geborene Aktar war mit dem türkisch-armenischen Journalisten Hrant Dink befreundet. Nach dessen Ermordung im Jahr 1999 startete Aktar mit weiteren Wissenschaftler:innen eine Kampagne, in der er um Entschuldigung für den armenischen Genozid bat. Die Petition wurde von über 32’000 Personen unterschrieben.

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Recep Tayyip Erdoğan ist einmal mehr als Sieger aus den Wahlen in der Türkei hervorgegangen. Was bedeutet eine neue Regierung Erdoğan für das Land? 

Das Wahlresultat eröffnet dem Regime einen Weg, ungehindert seine Macht zu konsolidieren und die Gesellschaft gründlich umzugestalten. Im letzten Jahrzehnt hatte Erdoğan die staatlichen Schlüsselinstitutionen unter seine völlige Kontrolle gebracht, nun soll die Gesellschaft dran kommen. Eine neue Verfassung, in der das Prinzip des Säkularismus fehlt, ist unterwegs sowie ein neues Zivilrecht, das den Regeln des Islam Priorität gewährt. Gegenüber Andersdenkenden wird das Regime repressiver. Allgemein wird angenommen, dass die politische Bewegung der Kurden in der Türkei zerschlagen und jene Demokraten, die sich gegen den neuen Trend wehren, oder etwa die Gruppe der LGBTI noch mehr unter Druck gesetzt werden. Aussenpolitisch geht es um die Sicherheit der Nachbarregion.

Auf ihrem Weg zum Totalitarismus fühlen sich Erdoğan und sein Regime dabei bestätigt. Abgesehen von der politischen Kurdenbewegung und ein paar Überbleibseln aus der rechten und linken Mitte glänzt das Land heute in unterschiedlichen Schattierungen des Ultranationalismus. Bezeichnenderweise sind von den insgesamt 600 Sitzen des Parlaments nur knapp 100 von Abgeordneten besetzt, die sich noch zur Demokratie bekennen. Die übrigen 500 sind antiwestlich und antidemokratisch eingestellt, verabscheuen Migranten, Flüchtlinge und Andersdenkende sowie Kurden und sind davon überzeugt, jedes Problem mit Gewalt lösen zu können. Die MHP, die BBP, die YRP, die HÜDAPAR, die im neuen Parlament vertreten sind, stehen offen für rassistische Ideen. Auf rechtsnationalistisches Gedankengut berufen sich mittlerweile aber auch Parteien wie die AKP von Erdoğan, die IYI-Partei sowie ein beträchtlicher Teil der oppositionellen, sozialdemokratische CHP. Ihre Wähler machen insgesamt rund 70 Prozent der Gesamtbevölkerung aus. Diese Masse, die Erdoğan als «Mehrheit», «nationalen Willen» und «heilige Nation» bezeichnet, trägt offensichtlich faschistoide Züge.

Der Gang zur Wahlurne war für die Opposition mit grossen Hoffnungen verbunden. Jetzt ist die Enttäuschung unter ihren Wählern umso grösser. Was hat die Opposition falsch gemacht?

Die Selbstüberschätzung war ihr grösster Fehler. Noch bis zur letzten Minute behauptete sie, dass «wir sowieso gewinnen werden». Dabei ignorierte sie bewusst oder unbewusst, dass spätestens seit 2013 in der Türkei der Rechtsstaat, die Justiz, überhaupt die wichtigsten demokratischen Institutionen ausgehöhlt worden waren. Sie ignorierte ferner, dass das Regime bereit war, zu aller Art Manipulation zurückzugreifen, um seinen Wahlsieg zu garantieren. Indem die Opposition die geradezu romantische Vorstellung pflegte, wonach ein Wahlwunder in der Türkei möglich sei, führte sie ihre Wähler in die Irre. 

Hundert Jahre nach der Gründung der Republik ist das Land heute ein völlig zerrüttetes Gemeinwesen. Sechs Oppositionsparteien vereinigten sich mit dem einzigen Ziel, «Recep Tayyip Erdoğan in die Wüste zu schicken». Keine der sechs war aber bereit, zu hinterfragen, was die Türkei so weit gebracht hatte. Niemand sprach über eine Lösung der kurdischen Frage, niemand über die unwiderruflich verlorene Chance eines EU-Beitritts, über die enorme Unterdrückung und Zerstörung von Natur-Mensch-Tier-Stadtkultur. Niemand fragte sich auch, warum mindestens die Hälfte der Gesellschaft für faschistische Parteien eintritt. 

Was werden die Folgen seines Wahlsiegs für Europa sein?

Die Europäer werden wie immer versuchen, mit dem Regime zu leben, und dessen totalitäre Auswüchse weitgehend ignorieren, vorausgesetzt, die Türkei bleibt in der NATO und macht ihre Grenzen dicht für die schätzungsweise fünf Millionen Flüchtlinge und Asylbewerber, die heute in der Türkei leben. Und hält fortan seine Grenzen auch für die eigenen Bürger dicht, die nach diesen Wahlen verzweifelt versuchen werden, das unerträgliche innenpolitische Umfeld zu verlassen. 

Und welche Folgen hat der Wahlsieg für die Militärallianz NATO?

Im Ausland ist man wie gesagt damit beschäftigt, die Wahlergebnisse «realpolitisch» zu verdauen. Das westliche Bündnis geht davon aus, dass Erdoğan letztlich nicht in der Lage sein werde, sich von der NATO zu lösen. Erdoğan seinerseits weiss, dass die Türkei für die NATO von besonderer geostrategischer Bedeutung ist, und missbraucht diese Machtposition in höchstem Mass: Er hat seit 2016 bekanntlich eine neue «besondere Beziehung» zu Putins Russland aufgebaut und Waffenkäufe in Moskau getätigt, was sich direkt gegen die Interessen der NATO richtet. Seine neue Regierung wird diesen Kurs, den er als Balanceakt bezeichnet, höchstwahrscheinlich fortsetzen. 

Es ist bemerkenswert, dass Erdoğan international noch immer kein Paria ist. Trotz allen gepredigten Werten scheinen westliche Demokratien heute wieder bereit, mit Ländern zu leben, die keine Demokratien, oft gar Feinde von Demokratien sind. Der deutsche Bundeskanzler Scholz hat erst kürzlich mit Erdoğan telefoniert und über eine Vertiefung des Austauschs zu verschiedenen Fragen der Kooperation gesprochen. 

Dabei hatte Erdoğan nach seinem ersten Wahlsieg bahnbrechende demokratische Reformen eingeleitet, um einen EU-Beitritt der Türkei zu ermöglichen. Wie erklären Sie seinen Wandel von einem Demokraten zu einem leidenschaftlichen Autokraten?

Zwischen 1999 und 2005 tat sich tatsächlich viel Gutes für das Land: Die Zivilgesellschaft war zum Wandel entschlossen, und diese Eigendynamik der Gesellschaft in Verbindung mit der EU-Bewerbung führte dazu, dass erstmals eiserne Tabus der Republik abgebaut und einmalige soziale und wirtschaftliche Reformen eingeführt werden konnten. Damals wurde der politische Islam durch die AKP-Regierung legitimiert. Gleichzeitig durfte die kurdische Bewegung der Türkei ihre legale Partei gründen, Lokalverwaltungen übernehmen und sicht- und hörbar werden. In dieser Zeit herrschte im Land Frieden, Wohlstand und Selbstvertrauen wie nie zuvor.

Warum endete dieser positive Wandel so rasch?

Anfangs hat der Westen sein Bestes getan, um die Türkei herumzuschubsen und auszugrenzen. Die EU hat wohl nie ernsthaft an eine Mitgliedschaft der Türkei geglaubt. Anstatt einer echten Beitrittsperspektive für das Land bevorzugte Brüssel eine transaktionale Beziehung wie den «Refugee Deal» von 2016. Und so geschah es, dass Ankara der EU Abertausende von Flüchtlinge vom Leibe hielt. Im Gegenzug dafür sah Brüssel über den immer stärker werdenden Autoritarismus der Türkei hinweg und gab sich mit einem zunehmend repressiven Erdoğan und seinem Regime zufrieden. Damit wurde eine historische Chance vertan, die zu einer friedlichen Koexistenz der Menschen in der Türkei in ihrer Unterschiedlichkeit und Vielfalt geführt hätte, sowie zur Stärkung und zur Beständigkeit einer demokratischen Türkei im Osten des europäischen Kontinents.

Im Vorwort zur aktualisierten türkischen Fassung Ihres Buches sprechen Sie von einem Grundübel der türkischen Nationsbildung, das totalitäre Strömungen geradezu hervorbringt. Was meinen Sie damit?

Alle Prozesse der Nationenbildung sind blutig, schmerzhaft und gewalttätig, und der Prozess der türkischen Nationsbildung gehört mit Sicherheit zu den schlimmsten Beispielen dafür. Der Gründungswille, der sich mit dem Satz «dieser Staat braucht eine Nation» auf den Weg machte, ging mit einer gewaltigen ethnisch-religiösen Säuberung einher. Dreissig Jahre lang, zwischen 1894 und 1924, wurden im Osmanischen Reich etwa drei Millionen Bürger, also ein Fünftel der Gesamtbevölkerung, vernichtet und deren Eigentum beschlagnahmt. Für dieses gigantische Ausmass an Blut, Schmerz, Brutalität und Gewalt musste auch 100 Jahre später noch niemand Rechenschaft ablegen. Statt auf Aufarbeitung setzt der Staat immer noch auf strikte Leugnung und will diese Verbrechen vergessen und vergessen machen. 

Diese Politik ist aber ein Feind der Geschichte. Nationen, die nicht fähig sind, Verbrechen von solch gewaltigem Ausmass zu hinterfragen und zu bedauern, verklären bösartige Eigenschaften aus der Zeit des Aufbaus, entziehen sich jeglicher Verantwortung für alles, was nicht richtig gelaufen ist, und bevorzugen autoritäre Herrscher. Das ist der Preis, den die türkische Gesellschaft heute für das geleugnete nationale Grundübel kollektiv zu zahlen hat.


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine
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Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.

Weiterführende Informationen

Zum Infosperber-Dossier:

TrkeiFlagge

Türkei: Innen- und Aussenpolitik

Recep Tayyip Erdoğan brachte nicht nur Städten, auch ländlichen Gebieten Wohlstand. Zu welchem Preis?

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4 Meinungen

  • Portrait_Josef_Hunkeler
    am 9.07.2023 um 15:44 Uhr
    Permalink

    Klingt für mich nach grotesker «Western-Werte» Interpretation. Die Türkei hat eine lange und grosse Geschichte und sollte in diesem Kontext diskutiert werden.
    Meine lokalen Erfahrungen zeigen seit den 70er Jahren eine enorme sozio-politische Entwicklung, welche von Europa schlicht ignoriert wird.
    Das historische Erbe Europas in Bezug auf das osmanische Reich ist erbärmlich. «le retour du pendule» wohl unausweichlich.

  • am 9.07.2023 um 16:35 Uhr
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    Nein. So dramatisch finde ich die Situation in der Türkei nicht. Seit 1999 ist die Türkei Beitrittskandidat der EU. Das heisst, 24 Jahre in der Warteschleife, weil die EU und die USA immer etwas zu meckern finden. Z. B. Zypern, Syrien, Kurden-und Flüchtlingspolitik (seit 10 Jahren und kein Ende in Sicht) Russland und Ugraine (auch noch kein Lichtblick) Kopftuch ja oder nein, oder welche Rebellen jetzt die Guten oder die Bösen sein müssen. Da kann einem die Lust auf Demokratie schon vergehen. Und ein Regimewechsel in diesen Krisenzeiten hätte die Türkei viel schlimmer getroffen. Schon deswegen weil die 6 Parteien auch keinen Masterplan hatten. Wird ja auch im Bericht erwähnt. Deshalb lieber einen Autokraten den man kennt, als einen, den man erst kennenlernen muss.

  • am 10.07.2023 um 16:01 Uhr
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    Die Türkei hat durch die Erdbeben, Inflation, Flüchtlingskrise, unkontrollierte Verstädterung usw. riesige Probleme, die auch ein Erdogan nicht in Luft auflösen kann; seine Position ist nicht so machtvollkommen, wie der Artikel suggeriert. Viele Regionen werden nicht durch die AKP kontrolliert. In Instanbul, der mit Abstand allergrößten Agglomeration der Türkei, regiert trotz massiver Intervention ein CHP-Bürgermeister. Auch traditionelle Erdogan-Wähler sehen seinen Nepotismus und seine Allmachtsphantasien, seine Verantwortung für vielerlei Mißwirtschaft durchaus kritisch. Vermutlich wird der gesundheitlich angeschlagene Erdogan, der wie Putin das Problem eines fehlenden Nachfolgers hat, durch eine sehr schwierige Amtszeit gehen. Der unabhängige Kurs der Türkei zwischen Russland, EU, NATO, Iran und arabischem Raum irritiert besonders eine völlig USA-hörige EU, wo kein Außenpolitiker sich Gedanken über nationale Außenpolitik macht: was nützt den Interessen meines Landes am meisten.

  • am 10.07.2023 um 20:22 Uhr
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    Erdogan ist sicher kein einfacher Gesprächspartner und immer wieder für eine Überraschung gut doch auch hier sollten wir endlich aufhören unseren mitteleuropäischen „Demokratiestandard“ anzuwenden. Zudem finde ich es erfrischend dass die Türkei zu den wenigen europäischen Staaten gehört die nicht einfach die Vorgaben aus Washington erfüllen.

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