Lula Wahl 2022

Mit einem hauchdünnen Vorsprung erkämpft sich Lula da Silva eine dritte Amtszeit. © YouTube/SBT News

Süd- und Mittelamerika: Zeitenwende in Brasilien

Romeo Rey /  Die Präsidentschaftswahl hat Lula zwar gewonnen, doch die ultrarechte Bewegung in Brasilien ist noch lange nicht besiegt.

Brasilien hat gewählt: Mit einem Zittersieg kehrt Luiz Inácio «Lula» da Silva an die Schalthebel der Macht zurück. Als erster Präsident aus der Arbeiterklasse regierte Lula den grössten Staat Lateinamerikas bereits von 2003 bis 2010.

Lula da Silva wird in den kommenden vier Jahren mit einem ähnlichen Problem konfrontiert sein wie bei seinen beiden ersten Mandaten als Staats- und Regierungschef. Die Neuwahlen zur Besetzung der beiden Kammern des Parlaments hatten vor vier Wochen ergeben, dass die Arbeiterpartei PT von einer Mehrheit der Sitze weit entfernt ist und deshalb mühsame Verhandlungen mit einem Schwarm von kleinen Parteien wird führen müssen. Das hängt damit zusammen, dass das Wahlgesetz viel eher eine Zersplitterung der politischen Kräfte begünstigt, als die Bildung einer regierungsfähigen Koalition.

Romeo Rey
Romeo Rey, früher Lateinamerika-Korrespondent von «Tages-Anzeiger» und «Frankfurter Rundschau», fasst die jüngste Entwicklung zusammen.

Dieses Schicksal teilt der wiedergewählte Präsident mit Amtskollegen in einigen anderen Ländern Lateinamerikas, vor allem Peru. Zwar wird nun auch Brasilien wieder von einer gemässigten Linken regiert, doch gerade diese Minderheitssituation in der Legislative zwang die sozialdemokratisch orientierte PT in der Vergangenheit zu peinlichen und staatsrechtlich fragwürdigen Kompromisslösungen.

Gleichzeitig muss man sich bewusst sein, dass Bolsonaros Bewegung nach dieser Niederlage nicht ausser Gefecht gesetzt ist. Ihre Wurzeln sind zu einem grossen Teil religiöser Natur und sie ist dabei mit politischen Argumenten nur schwer angreifbar. Die evangelikalen Kirchen, die hinter ihr stehen, sind vorwiegend US-amerikanischer Herkunft, sie finanzieren sich – wie einst andere kirchliche und weltliche Mächte – mit dem Eintreiben eines Zehnten zulasten der Gläubigen und dem Zugriff auf mächtige Massenmedien, vor allem finanzstarke eigene Unternehmen in Fernsehen und Rundfunk. In einer profunden Analyse sehen darin die «Blätter für deutsche und internationale Politik» eine gespenstische Entwicklung.

Es ist gewiss nicht verwegen, im Entstehen einer starken rechtspopulistischen Bewegung Indizien einer tiefen Spaltung in Brasilien zu sehen. Noch ist abzuwarten, wie sich Jair Bolsonaro und seine Gefolgschaft mit dem knappen Verdikt der Stimmberechtigten abfinden werden. Der aggressive Ton und die perfiden Attacken gegen Lula da Silva lassen eine hitzige Auseinandersetzung in der politischen Arena dieses Landes befürchten.

Es lohnt sich, die Rede zu analysieren, die der Präsident von Kolumbien, Gustavo Petro, vor der jährlichen Vollversammlung der Vereinten Nationen gehalten hat. Er nutzte die einmalige Möglichkeit, wenige Wochen nach seiner Einsetzung ins Amt vor einem weltweit repräsentativen Auditorium als früherer Guerillakommandant die Pläne seiner Regierung auszubreiten. Dabei geht es vor allem um die Rolle seines Staates im weltweiten Kokainhandel – und um die Rolle des reichen Nordens als gieriger Konsument dieses Rauschgifts.

Petro sprach nicht nur als Anwalt für die eigene Nation, die als wichtigstes Scharnier im illegalen Drogengeschäft gilt, sondern de facto auch für dessen hauptsächliche Zulieferer, Bolivien und Peru. Die drei Länder stehen ein für die Suche nach neuen Wegen, anstelle von Repression und Prohibition unter Anleitung Washingtons, das mit diesem Vorwand in Kolumbien zahlreiche Militärbasen errichtet und eigene Truppen stationiert hat, die jedoch kaum Fortschritte im Kampf gegen die Rauschgiftkartelle vorweisen können.

Eine erste Kraftprobe steht dem neugewählten Präsidenten mit einer Gesetzesvorlage bevor, die grosse Einkommen und Vermögen höher besteuern will. Die «Deutsche Welle», die als weit herum einziges Medium auf dieses Vorhaben eingeht, publiziert zum Vergleich Daten einer spanischen Bank aus ganz Lateinamerika, welche die Höchststeuersätze auf Einkommen (IPRF) und die Höhe der Konsumsteuer (IVA) zeigen.

Wie hartnäckig sich Machtverhältnisse in lateinamerikanischen Ländern erhalten und sogar erneuern können, auch wenn Urnengänge gelegentlich auf Veränderungen hinzuweisen scheinen, zeigt sich im Fall von Peru. In der Einöde von endlosen Querelen zwischen Parlament und Regierung hat in der Hauptstadt Lima die Wahl eines neuen Bürgermeisters stattgefunden. Einer der reichsten und politisch konservativsten Männer des Andenstaats, Rafael López, setzte sich mit 26 Prozent der Stimmen durch. Bemerkenswert ist, dass mit ihm wieder einmal ein Unternehmer in eine Schlüsselposition gehievt wird, der als zuverlässiges und eifriges Mitglied des rechtskatholischen Opus Dei bekannt ist. Seit Jahrzehnten und Generationen übt diese Institution mächtigen Einfluss auf das Geschehen in Peru aus, ohne dabei direkte Verantwortung zu übernehmen.

BBC News Mundo verfolgt die wirtschaftliche Entwicklung in Chile aufmerksam und kommt dabei zum Schluss, dass dieses Land nun als (vorläufig) einziges der Region in eine Rezession abrutscht. Der 36-jährige Staatspräsident Gabriel Boric sieht gut ein halbes Jahr nach der Amtsübernahme, dass der Preis von Kupfer, dem mit Abstand wichtigsten Exportgut der Nation, infolge weltweiter Wachstumsschwäche stagniert, während gleichzeitig die Inflation in Chile mit derzeit 14 Prozent den höchsten Stand seit mehreren Jahrzehnten erreicht. Das sind Fakten, die in fataler Weise an die Situation von 1971 erinnern, als es der damaligen Volksfrontregierung unter Salvador Allende nicht gelang, eine Teuerung ähnlichen Ausmasses unter Kontrolle zu bringen. Die Folge war eine lawinenartig steigende Inflation mit wachsenden Versorgungsengpässen, was von der internen und externen Opposition politisch gnadenlos ausgenutzt wurde – bis zum bitteren Ende.

Davon kann man auch jenseits der Anden in Argentinien ein Lied singen. Nur kennt man dort, anders als in Chile, seit schier unendlicher Zeit nichts anderes als wilden Preisauftrieb, galoppierende Abwertung, wirtschaftlichen Zickzackkurs, überbordende Verschuldung, mindestens einen Staatsbankrott pro Generation und dramatische Verarmung der Mehrheit. Ein beredtes Bild von der Stimmung in diesem potentiell reichsten Land des Subkontinents zeichnet ein Beitrag der deutschen Monatszeitschrift «Lateinamerika Nachrichten».

Wie ein deus ex machina kommt jetzt aber aus der feuchten Pampa die Kunde von einer Rekordernte: Rund 55 Milliarden Dollar, so viel wie noch nie, sollen Soja, Weizen, Mais und manch andere Landwirtschaftserzeugnisse dieses Jahr an Exporteinkünften erbringen. Zwar unterliegt die Verbuchung dieser Devisenflut noch klimatischen Faktoren, die laut Meteorologie wegen möglicher Dürre in den bevorstehenden Monaten beträchtliche Abstriche verursachen könnten. Zudem hatten solche Rekorde in der Vergangenheit oft den Effekt, dass Argentinien in der Gewissheit schwelgte, dass damit auch die zahlreichen strukturellen Probleme des Landes gelöst seien. Schon klopft man sich, wie hier berichtet wird, in einem der grossen landwirtschaftlichen Verbände auf die Schultern darob, dass die Rekordernte von der «Resilienz» (Widerstandskraft) der argentinischen Wirtschaft in global schwierigen Zeiten zeuge.

Anzeichen eines erstaunlichen Durchhaltevermögens liefert eher ein anderer Sektor, nämlich das Justizwesen, zumindest was die Bewältigung der Vergangenheit betrifft, wo auch kaum eine andere Nation des Erdteils so schwer belastet ist wie Argentinien. Seit nunmehr vier Jahrzehnten befassen sich Gerichte in Buenos Aires und Städten des Landesinnern mit der Untersuchung und Aburteilung von Angehörigen der Polizei und des Militärs wegen Menschenrechtsvergehen verschiedenster Art und Grade während der letzten Diktatur. In diesem Fall geht es um die unrühmliche Kooperation zwischen einem deutschen Automobilwerk und den Schergen der damaligen Junta.

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Cover_Rey_Lateinamerika
Romeo Rey, Die Geschichte Lateinamerikas vom 20. Jahrhundert bis zur Gegenwart, 284 Seiten, 3. Auflage, C.H.Beck 2015, CHF 22.30

Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine. Der Autor war 33 Jahre lang Korrespondent in Südamerika, unter anderem für den «Tages-Anzeiger»
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Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.

Zum Infosperber-Dossier:

Lateinamerika Karte

Politik in Süd- und Mittelamerika: Was in vielen Medien untergeht

Der frühere Lateinamerika-Korrespondent Romeo Rey fasst die Entwicklung regelmässig zusammen und verlinkt zu Quellen. Zudem Beiträge von anderen Autorinnen und Autoren.

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2 Meinungen

  • am 1.11.2022 um 21:09 Uhr
    Permalink

    Ich denke, wenn sich Lula jetzt nicht Waffengewalt, die Loyalität der Armee oder anderer Ordnungskräfte, verschaffen kann, wird ihm wohl das Schicksal Allendes ereilen.

  • am 3.11.2022 um 15:11 Uhr
    Permalink

    Der Autor will, dass Bolsonaros Bewegung besiegt wird, will aber frei sein von themenbezogener Interessenbindung? Haben wir doch schon zur Genüge in den Mainstreammedien, dass linkslastige Journalisten sich als neutral, unabhängig und unparteiisch verkaufen. Dort wird schon genug auf Bolsonaro herumgehackt. Infosperber brauchts da nicht auch noch.

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