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Der Europäische Gerichtshof EuGH muss Arbeitnehmerrechte künftig stärker gewichten © wikipedia

Schwenkt die SP noch auf Rahmenabkommens-Kurs ein?

Markus Mugglin /  Neue europapolitische Töne und Alternativen bei den Sozialdemokraten gegen das Alles oder Nichts der Gewerkschaften

Man wusste es, auch wenn versucht wurde, parteiinterne Spannungen möglichst kleinzureden und so zu tun, als würden nur ganz wenige – wie Nationalrat Eric Nussbaumer – aus der gewerkschaftlichen Nein-Front zum Rahmenabkommen ausscheren. Mit dem «Aufruf zur europapolitischen Diskussion» haben jüngst 26 prominente Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten den Blick auf die Vielfalt in der Partei freigemacht. Darunter sind zwar überwiegend ehemalige Exponentinnen und Exponenten zu finden, deren Einfluss nicht überschätzt werden sollte. Ihn kleinzureden, wäre trotzdem voreilig. Denn der Aufruf für eine offene Diskussion über das Abkommen und gegen ein europapolitisches Abseits ist nur das deutlichste Zeichen, dass in der Partei Positionen in Bewegung sind.  

In Kontrast zum «Alles» beim Lohnschutz oder «Nichts» für das Rahmenabkommen steht auch eine am 22. April publizierte «Gemeinsame Erklärung von Vertreter:innen der SP-Bundeshausfraktion und der S&D-Fraktion im Europäischen Parlament». Programmatisch fordert sie «Soziales Europa und Rechte der Lohnabhängigen stärken!». Unterzeichnet haben die Erklärung auf Schweizer Seite die Nationalräte Eric Nussbaumer und Fabian Molina, Nationalrätin Claudia Friedl und auch SP-Co-Präsident Cédric Wermuth. 

Neues EU-Recht und «neuer EuGH»

Auf den ersten Blick wirkt die Erklärung wenig spektakulär. Die Europäische Kommission und der Bundesrat werden aufgefordert, «eine Lösung zu finden, welche die Vertiefung der europäischen Integration der Schweiz und den Lohnschutz gleichzeitig garantieren». Zwei Passagen eröffnen aber neue Perspektiven. Die eine verweist auf das revidierte Entsendegesetz, welches das Prinzip gleicher Lohn für gleichwertige Arbeit am gleichen Ort anerkennt. Dazu stellen die Unterzeichnenden fest: Das Prinzip sei «im EU-Recht neu gerichtsfest verankert» worden. In einer anderen Passage wünschen sich die Unterzeichnenden den Beitritt der Schweiz zur Europäischen Arbeitsbehörde und zum Binnenmarkt-Informationssystem, die den Lohnschutz im neuen europarechtlichen Rahmen in ganz Europa umsetzen sollen. Den beiden Passagen ist gemeinsam, dass sie aus politisch linker Optik einen neuen Blick auf den Lohnschutz im Rahmenabkommen werfen.

«Im EU-Recht neu gerichtsfest verankert» richtet sich letztlich gegen die Pauschalkritik der Gewerkschaften am Europäischen Gerichtshof – EuGH, wie sie SGB-Präsident Yves Maillard am 28. April in der «Infrarouge»-Debatte auf Television RTS erneut wortreich geäussert hat (ab Minute 25). Er berief sich auf Urteile des Gerichts, verschwieg aber, dass diese auf der Grundlage der nicht mehr geltenden Entsenderichtlinie (96/71/EG) gefällt wurden (z.B. hier und hier). In Kraft ist nämlich jetzt die neue Richtlinie 2018/957. Im vergangenen Dezember hatte das Gericht die Klagen Ungarns und Polens abgelehnt, die sich gegen die neue Entsenderichtlinie «zur Stärkung der Rechte entsandter Arbeitnehmer» zur Wehr setzten. Die zahlreichen EuGH-Urteile, welche die Arbeitnehmerinteressen einseitig dem Prinzip des freien Dienstleistungsverkehrs untergeordnet hatten, (mit einer Ausnahme, die auf einem anderen Artikel als der Entsenderichtlinie gründete) haben folglich als Gradmesser für die Kritik an den «fremden Richtern» ausgedient. 

Der EuGH wird künftig auf der Basis der neuen Entsenderichtlinie urteilen müssen. Dass er sich dessen bewusst ist, lässt sich in der Begründung zur Rückweisung der Klagen Ungarns und Polens nachlesen: Es gelte jetzt ein Wettbewerb «unter faireren Bedingungen» im Vergleich zu den Bedingungen gemäss der Richtlinie aus dem Jahre 1996, hielt er dort fest. Das Prinzip des freien Dienstleistungsverkehrs findet neu eine Schranke bei der «Gewährleistung eines angemessenen sozialen Schutzes». Das heisst, den entsandten Arbeitnehmern sind Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen des Aufnahmemitgliedstaates «zu garantieren».

Lohnschutz-Kontrollen europaweit statt nur schweizerisch

Damit ist die Gefahr von Verstössen noch nicht gebannt. Es braucht folglich Kontrollen. Das geschieht bisher in der Schweiz national. Den unterzeichnenden Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten genügt das nicht mehr. Sie wünschen sich den Zugang zum Binnenmarkt-Informationssystem und zur Europäischen Arbeitsbehörde. Die 2019 geschaffene Behörde soll die Kontrollen zur Einhaltung der Arbeitsbedingungen grenzüberschreitend koordinieren. Doch dieser Zugang hängt auch vom Rahmenabkommen ab, bzw. davon, ob die Schweiz die Weiterentwicklung des EU-Rechts anerkennt. Anders gesagt: Will die Schweiz im Status quo verharren, bezieht sich das geltende Personenfreizügigkeitsabkommen weiter auf die vorherige Entsenderichtlinie, die weniger Schutz für Arbeitnehmende bietet.   

So öffnet die gemeinsame Erklärung der Genossinnen und Genossen mit den Verweisen auf die international koordinierten Lohnkontrollen und dem neu gerichtsfest verankerten EU-Recht den Blick auf eine Alternative zur Blockadehaltung der Gewerkschaften. Ob die Mitunterzeichnung durch den SP-Co-Präsidenten Cédric Wermuth auch die Chance bietet, aus der Verhandlungssackgasse zu finden? Man darf gespannt sein. Eines scheint klar zu sein: Die gewerkschaftlichen Nein-Sager geben nach der gemeinsamen Erklärung und dem Aufruf prominenter Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten nicht mehr allein den europapolitischen Takt der politischen Linken vor.


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

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3 Meinungen

  • am 4.05.2021 um 11:19 Uhr
    Permalink

    Vermehrte Eingliederung in die EU resp. in Deutschland hätte unweigerlich die Einbindung der Schweiz in die wirtschaftlichen und militärischen Supermachtbestrebungen Deutschlands zur Folge. So wie es beim «neutralen» Österreich der Fall ist, welches zusammen mit anderen EU-Staaten zu den Besatzern Afghanistans gehört. Da ohnehin schon eine, die Neutralität missachtende, Nähe zur NATO besteht, kann daran nicht im Geringsten gezweifelt werden.

    Mit der Befürwortung der EU durch die Medien, Politik und Universitäten wird auch der Neoliberalismus, die zunehmenden Drohungen, die völkerrechts- und neutralitätswidrigen, menschen- und lebensverachtenden Sanktionen, Kriege, das ‘Über andere bestimmen’ gutgeheissen und damit der Barbarei anstelle von Diplomatie, Austausch, Handel, Zivilisation.

    Bezeichnend für die Wirksamkeit der EU-Propaganda und die Uneinsichtigkeit auch der «Alternativ»-Medien ist, dass das andauernde Kriegsgebaren und die Supermachtbestrebungen, des über die EU bestimmenden, Deutschland keinerlei Thema ist, ignoriert werden.

    Siehe auch das Video ‘Berlin: Waffenbereitschaft’:
    https://www.youtube.com/watch?v=FT0ByE5Jvi0

    Die EU ist ein Ausbeutungs-, Unterdrückungs-, Kriegs- und nicht, wie vorgetäuscht, ein Friedensprojekt. Daran noch mehr mitbeteiligt sein widersetzen sich alle, denen Friede, Allgemeinwohl und Solidarität (global sonst ist es keine!) glaubwürdig am Herzen liegt.

  • am 5.05.2021 um 12:22 Uhr
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    Europaweite griffige Lohnschutzkontrollen sind eine Illusion, solange das Wohlstandsgefälle innerhalb der EU so gross ist. Die Personenfreizügigkeit hat nichts zur Verminderung dieser Ungleichheit beigetragen. Eher das Gegenteil trifft zu.

  • am 5.05.2021 um 19:34 Uhr
    Permalink

    Ich teile die Meinung von Beat Wick voll und ganz. Unverständlich bleibt mir, wie sich sog. Linke für eine weitere Integration in ein Projekt engagieren können, das nachweislich gänzlich undemokratisch organisiert ist, keine Gewaltenteilung kennt, dem Parlament auf wenigen Gebieten ein blosses unverbindliches Mitentscheidungsrecht einräumt (in aussen- und sicherheitspolitischen einen Maulkorb auferlegt), der Machterweiterung der Grosskonzerne verpflichtet ist, für die Vernichtung tausender Kleinbetriebe verantwortlich ist, mit einem EUGH, das die Sozialrechtsbestimmungen kleiner Staaten übergeht, mit ihrer Austeritätspolitik die Bevölkerung ganzer Länder in die Armut getrieben hat, für gewisse Oststaaten den Beitritt zur Nato als Voraussetzung für eine Aufnahme in die EU forderte.
    Was treibt SP – Mitglieder dazu, in Verleugnung ihrer Prinzipien, sich in den Dienst einer zutiefst undemokratischen und unsozialen, den Interessen des internationalen Grosskapitals dienenden Institution zu stellen?

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