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Die Bevölkerung wächst – global und national © James Crydland Flickr / Creative Commons

Wie sich Demografen täuschen können

Jürg Müller-Muralt /  Heute grassiert die Angst vor «Überbevölkerung», 1939 befürchtete man den demografischen Niedergang der Schweiz.

Wir werden immer mehr. Gleich zwei in den letzten Wochen veröffentlichte Prognosen rechnen vor, dass die Menschheit wächst, global und national. Im Juni hat das Bundesamt für Statistik (BFS) seine Szenarien zur Bevölkerungsentwicklung in der Schweiz 2015-2045 veröffentlicht. Die ständige Wohnbevölkerung der Schweiz wird gemäss dem Referenzszenario von 8,2 Millionen Personen Ende 2014 auf 10,2 Millionen Personen im Jahr 2045 ansteigen. «Dieses Wachstum dürfte grösstenteils der Migration und in geringerem Mass auch dem Geburtenüberschuss zuzuschreiben sein. Die Alterung der Bevölkerung wird sich in diesem Zeitraum stark beschleunigen», schreibt das BFS. Die Zahlen wurden im Vergleich zu früheren Schätzungen nach oben korrigiert.

Afrika wächst, Europa schrumpft

Nach oben zeigt auch die Tendenz bei den Zahlen, die die Uno Ende Juli veröffentlicht hat: Der Weltbevölkerungsfonds der Vereinten Nationen rechnet mit einem Zuwachs der Weltbevölkerung von heute 7,3 auf 11,2 Milliarden Menschen bis zum Jahr 2100. Bereits 2050 sollen es 9,7 Milliarden sein, das sind etwa 200 Millionen mehr als in bisherigen Prognosen. Grund der Korrektur nach oben: Die Fruchtbarkeitsraten sinken zwar, aber langsamer als erwartet, sagen die Forscher. Die Unterschiede zwischen den Weltregionen sind markant: Am schnellsten wächst der afrikanische Kontinent, Europa dagegen schrumpft von derzeit 738 Millionen bis ins Jahr 2100 auf 646 Millionen Menschen, wenn man den Uno-Forschern glauben darf.

Club of Rome sieht es gelassener

Doch mit dem Glauben sollte man auch und gerade bei Bevölkerungsprognosen äusserst vorsichtig sein. Die Demografie ist trotz der vielen Zahlen keine exakte Wissenschaft, besonders wenn sie so weit in die Zukunft blickt. Die Experten jedenfalls kommen zu unterschiedlichen Schlüssen. 2012 hat etwa der Club of Rome vorgerechnet, dass das Ende des Bevölkerungswachstums in Sichtweite sei: Bis etwa 2040 werde die Weltbevölkerung noch auf etwas über acht Milliarden wachsen, dann jedoch zurückgehen. Der Club of Rome begründet den Trend unter anderem damit, dass immer mehr Menschen in Städten leben – und in Megastädten seien Kinder eher ein Kostenfaktor für Eltern, statt eine willkommene Hilfskraft wie in ländlichen Gesellschaften. Zudem nehme der Bildungsstand der Frauen ebenso zu wie die Verbreitung von Verhütungsmethoden.

Die Aussagen des Club of Rome erstaunen deshalb, weil sie in einem deutlichen Widerspruch zu eigenen, früheren Prognosen stehen. Denn es war gerade diese Vereinigung, die in den Siebzigerjahren ein geradezu explosionsartiges Bevölkerungswachstum voraussagte. Verschiedene Demografie-Experten, vor allem von Seiten der Uno, kritisierten denn auch die Club-Prognose.

Kritik an Uno-Demografen

Aber auch die Uno-Prognosen sind nicht unumstritten. Im vergangenen Jahr etwa hat der Leiter des Weltbevölkerungsprogramms am International Institute for Applied Systems Analysis (IIASA), Wolfgang Lutz, der Uno vorgeworfen, sie wende «ein blindes statistisches Verfahren mit vielen methodischen Fragezeichen» an. Lutz bemängelt, dass die Uno-Prognose lediglich Daten aus der Vergangenheit in die Zukunft fortschreibt. Die IIASA hat eigene Prognosen publiziert. Im Gegensatz zu jenen der Uno zeigen die Zahlen der IIASA einen Anstieg der Weltbevölkerung auf 9,2 Milliarden bis 2050, eine Spitze von 9,4 Milliarden ungefähr 2070 und eine langsame Abnahme auf 9 Milliarden Menschen bis zum Ende des Jahrhunderts als wahrscheinlichste Variante. Die IIASA-Berechnungen basieren auf über 550 weltweiten Expertengutachten, die ihrerseits einem Peer-Review-Verfahren unterzogen wurden, einer Zweitmeinung unabhängiger Gutachter. Die Uno dagegen wende dieses Verfahren nicht mehr an und sei auf ein rein statistisches Verfahren der Fortschreibung ausgewichen. Die Uno-Prognose wie auch jene der IIASA betrachten die Bildung als zentralen Faktor zur Senkung der Geburtenrate. Nur ist dieser Faktor bei der Uno-Studie gar nicht eingebaut worden. IIASA dagegen berücksichtigt die Entwicklung des Bildungsstandes und gewichtet das Bildungsniveau zusätzlich nach Alter und Geschlecht, was dann letztlich auch zu anderen Prognosen führt (siehe Beitrag auf Infosperber).

Der Alarmismus von 1939

In einem Punkt sind sich alle Experten einig: Global und national zeigen die Bevölkerungszahlen gegenwärtig deutlich nach oben – zumindest in nächster Zeit. Schaut man allerdings weit in die Zukunft, ist es mit der Einigkeit vorbei, und auch in Sachen Datenlage wird das Eis dünner. Wie stark man danebenliegen kann, zeigt ein Beispiel aus der Schweizer Statistikgeschichte, das 76 Jahre zurückliegt. Natürlich muss man berücksichtigen, dass die politischen und demografischen Befürchtungen 1939 mit der heutigen Situation ebenso wenig vergleichbar sind wie Datenlage und Methodik. Trotzdem mag das folgende anekdotische Beispiel zeigen, wie drastisch sich der bevölkerungspolitische Alarmismus von heute von jenem wenige Wochen vor dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs unterscheidet.

«Das Mädchen aus der Fremde»

Die Zeitschrift «Schweizer Echo & Correspondenzblatt der Schweizer im Ausland» vom Juli 1939 setzt sich mit einem Werk von Carl Brüschweiler auseinander, seines Zeichens Direktor des Eidgenössischen Statistischen Amtes. Die Zeitschrift bezeichnet ihn als «bevölkerungspolitisches Gewissen der Schweiz». Brüschweiler beruhigt erst einmal, die «Verausländerung» sei keine allzu akute Gefahr. «Bei der heute von der Fremdenpolizei scharf gehandhabten Beschränkung der Zuwanderung vermindert sich die Zahl der fremden Heiratsbewerberinnen zusehends». Und dann wird der helvetische Chefstatistiker blumig: «Das Mädchen aus der Fremde, das in einem Tale bei armen Hirten mit jedem jungen Jahr erschien und dem liebenden Jüngling der Gaben beste reichte, wird uns immer seltener mit seinem freundlichen Besuch beehren …». Die definitive Entwarnung des Blattes tönt so: «Im Ganzen kann gesagt werden, dass eine Überfremdungsgefahr von der Ausländerkolonie in unserem Landes auf lange Sicht nicht mehr droht, weil sich der Vorkriegsgeburtenüberschuss (9000 pro Jahr) der Ausländer heute schon in einen Sterbeüberschuss (500 jährlich) gewandelt hat.»

Angst vor schrumpfender Schweiz

Das wäre ja alles gut und recht, wäre 1939 nicht ein genereller Geburtenrückgang zu verzeichnen gewesen. Damals lebten 4,2 Millionen Einwohner in der Schweiz (1937), doch Statistiker Brüschweiler und das «Schweizer Echo» sahen schwarz für die demografische Zukunft: «Um 1960 wird die Schweiz gegen 100’000 Einwohner weniger zählen als heute. Konsequenzen: Rückgang der Wehrkraft, indem wir heute statt 30’000 Rekruten jährlich (1900) nur noch 20’000 einkleiden können; Umstellung der Wirtschafts- und Sozialpolitik, denn um 1960 werden wir 150’000 Schulkinder weniger, dafür ebenso viele Greise und Greisinnen mehr haben als jetzt». Man sieht förmlich den Mahnfinger des «Echo»-Redaktors, wenn er seinen Beitrag mit den Worten schliesst: «Man wird gut tun, sich die Überlegungen des eidgenössischen Statistikers zu überlegen, bevor es endgültig zu spät ist. Das bevölkerungspolitische Gewissen der Schweiz hat uns gemahnt!»

Bereits 1950 betrug die ständige Wohnbevölkerung in der Schweiz dann allerdings 4,7 Millionen, 1960 bereits 5,3 Millionen. In den meisten westlichen Industrieländern, auch in der Schweiz, kam es nach dem Zweiten Weltkrieg zu einem Babyboom und damit zu einem Bevölkerungsanstieg, der umso stärker ausfiel, weil gleichzeitig die Sterblichkeit deutlich zurückging. Ab den 1950er Jahren führte die wirtschaftliche Hochkonjunktur in der Schweiz zu einem weiteren Bevölkerungswachstum, vor allem auch durch die Einwanderung ausländischer Arbeitskräfte. Der Statistikchef Brüschweiler mag zwar ein aus der damaligen Zeit heraus verständliches «bevölkerungspolitisches Gewissen» gewesen sein, ein guter Prognostiker war er nicht.


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine

Zum Infosperber-Dossier:

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Eine Million mehr Menschen bei uns?

Eine Zunahme von einer weiteren Million Menschen in der Schweiz prognostiziert das Bundesamt für Statistik.

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4 Meinungen

  • Portrait_Josef_Hunkeler
    am 14.08.2015 um 09:15 Uhr
    Permalink

    Demographie ist wahrlich eine Wissenschaft mit vielen Unbekannten. Nur auf Gemeindeebene haben wir schon beträchtliche Schwierigkeiten, die Klassengrössen, bzw. den Bedarf an Klassenzimmern auf ein paar Jahre hinaus abzuschätzen und haben in den letzten paar Jahren auch prompt alle unsere Voraussagen mehrmals revidieren müssen. Kurz, wir navigieren weitgehend auf Sicht.

    Ähnlich ist es auch mit der Alterung der Bevölkerung. Ich stelle fest, dass die Steuern auf Auszahlungen der Pensionsgelder in den letzten Jahren regelmässig zunehmen, dass aqlso die Pensionierungsrate an Bedeutung gewinnt. Die durchschnittlichen Steuereinnahmen werden dadurch eher rückläufig ausfallen. Die Neuzuwanderer sind möglicherweise aber in einer Altersstufe, bei der die Kinder bereits ausgezogen, die Einkommenslage der Eltern aber so gut ist, dass für die Gemeinde steigende durchschnittliche (netto) Steuererträge erwartet werden können. Der hohe Preis für Neuwohnungen ist hier natürlich eine Schlüsselvariable für die lokale Ausprägung der demographischen, lies hier fiskalischen, Entwicklung.

    Ob Fusionen wie Einheitskassen solche Unterschiede «nützlich» ausgleichen können, bleibt unsicher. Wie gehabt, Prognosen sind schwierig, v.a. wenn sie die Zukunft betreffen.

  • am 14.08.2015 um 16:46 Uhr
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    "Navigieren auf Sicht» ist genau die richtige Antwort auf die demografischen Fehlprognosen der Vergangenheit und Gegenwart. Die AHV beispielsweise hat schon viele bevölkerungsstatistische Tode vorausgesagt bekommen, weil die Alterung überschätzt und die Migration sowie die Entwicklung von Lohn und Produktivität politisch bedingt immer unterschätzt wird. Sie müsste deshalb seit der Jahrtausendwende hoffnungslos in den roten Zahlen stecken. Das Gegenteil ist der Fall. Merci für die nüchterne Sicht auf die fragwürdigen Prognosen im ideologisch stets aufgeladenen Demografiebereich.

  • am 14.08.2015 um 19:05 Uhr
    Permalink

    Man könnte ja einmal berechnen, welchen Bevölkerungszuwachs es in den nächsten Jahrzehnten braucht, um die Bevölkerungszahl in der Schweiz zu stabilisieren.

  • am 15.08.2015 um 09:01 Uhr
    Permalink

    Nüchterne, sauber erarbeitete Diskussionsgrundlage – danke!

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