Kommentar

Vollbeschäftigung für fünf Franken in der Stunde

Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des AutorsGewerkschaftsmitglied ©

Jürgmeier /  Die Welt weiss nicht mehr, wo links und wo rechts ist. Jetzt macht sogar der Mörgeli Propaganda für die Gewerkschaften.

Lieber Christoph Mörgeli

Da sehen wir, als Gewerkschafterinnen, seit Jahren mit Beklemmung, wie die Zahl unserer Mitglieder sinkt, obwohl es noch nie so viele Erwerbstätige in der Schweiz gab wie heute. Der in globalisierten Verhältnissen schwindende Einfluss der Gewerkschaften stürzt uns in diagnostizierte und nicht diagnostizierte, aber schwerste depressive Verstimmungen. Und hilflos müssen wir zusehen, dass sich an die im neusten Programm der Sozialdemokratischen Partei der Schweiz festgeschriebene «Überwindung des Kapitalismus» nur noch ein paar Satiriker erinnern, wenn ihnen nichts Besseres einfällt. Und, natürlich, Sie als ideologisches Megaphon einer 30%-Partei.

Das hätten wir wahrscheinlich beide nicht gedacht, dass Sie einmal unser angeschlagenes Selbstvertrauen aufmöbeln, indem Sie uns ein Potenzial an Macht&Einfluss zuschreiben, das unsere kühnsten Träume in unseren besten Zeiten übertrifft. «Gewerkschaften sind Störfaktoren der Marktwirtschaft», schreiben Sie in der neusten «Weltwoche» vom 20. November 2014. Dabei schien es doch, als würde der freie und globalisierte Markt sich durch unsere Aktivitäten nicht mehr beeindrucken lassen und jeden Zweifel am Kapitalismus mondial im Keim ersticken. (Mit Hilfe Ihrer Sozialismus-Keule.)

Mörgelis «Bahnsinn»
Vielleicht sollten wir unseren Mitgliedern empfehlen, Ihre Kolumne zu lesen, vor allem in trüben Tagen. Dass Sie jeden Streik als «Akt des Terrors» bezeichnen und uns damit in die Nähe des «Islamischen Staates» oder der früheren «Roten Armee Fraktion» rücken, könnten wir natürlich persönlich nehmen und Sie vor Gericht zerren. (Das sind Sie ja schon einigermassen gewohnt.) Oder als fortgeschrittene Angstpsychose interpretieren und die Kinder- beziehungsweise Erwachsenenschutz-Behörde KESB auf Sie ansetzen. (Sie selbst spielen ja mit psychotischen Kategorien, wenn Sie Ihre Kolumne mit «Gewerkschaftlicher Bahnsinn» übertiteln.)

Aber, statt den politischen Gegner mundtot zu machen, ist es manchmal hilfreicher, seine Attacken – und wer von Terror spricht, bereitet ja insgeheim Präventivschläge gröberer Art vor – für die eigene Stärkung nutzbar zu machen. Alter Judotrick. Wer solche Phantasien&Ängste weckt, hat offensichtlich mehr Power als er oder sie selbst gedacht. Wenn der öffentliche Verkehr «zu Lasten des Individualverkehrs» weiter ausgebaut werde, drohe ein «Monopol des ÖV» und dann werde «das gewerkschaftliche Erpressungspotenzial absolut».

«Alle Räder stehen still. Wenn dein starker Arm es will.»
Natürlich schreiben Sie das nicht wirklich zu unserer Ermutigung, sondern als Warnung vor Erfolgen, die wir uns selbst gar nicht mehr zugetraut haben. Es ist ja einigermassen beschämend, dass ausgerechnet Sie uns an unsere Ursprünge erinnern müssen. Dabei haben wir uns für 1.-Mai-Slogans immer mal wieder aus dem Bundeslied des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins bedient. «Alle Räder stehen still. Wenn dein starker Arm es will.» Sie aber schreiben fort, was auf einem 1863 von Georg Herwegh geschriebenen Gedicht beruht. Dies angesichts der deutschen Bahnstreiks der letzten Wochen. «Die Gewerkschaften können unser Land mit Hunger, Durst, Kälte oder Dunkelheit gefügig machen. Oder durch Lahmlegung des Verkehrs.»

In der besten Ihrer Welten gäbe es keine Gewerkschaften, dafür Vollbeschäftigung, denn: «Es gibt Arbeitslosigkeit, weil die Lohnhöhe durch Gewerkschaften und staatliche Arbeitslosenkassen über jenen Stand gedrückt wird, der bei unbehindertem Funktionieren des Marktes herrschen würde. In einem gesunden Wirtschaftssystem wären alle Hände zu gebrauchen.» Für fünf Franken in der Stunde. Diese freie Marktwirtschaft stören wir gerne noch ein wenig.

Etwas ermutigt

Ihr Jürgmeier


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3 Meinungen

  • am 21.11.2014 um 13:12 Uhr
    Permalink

    Sehr feiner Artikel ! Danke.

  • am 21.11.2014 um 14:05 Uhr
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    Neben der «Sozialismus-Keule», die offenbar Herr Mörgeli gebrauchte, gibt es – vor allem von Linken und Grünen gerne verwendet – auch die «Rassismus-Keule"; sie wird beispielsweise momentan gegen Ecopop massiv eingesetzt. Diese Keulen bringen uns aber nicht weiter. Wie Herr Meier richtig schreibt, machen sie den politischen Gegner nicht mundtot, sondern stärken ihn sogar.

  • am 22.11.2014 um 11:37 Uhr
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    Erstaunlich ist, dass der geschasste Professor mit seinen Hasstiraden gegen Links und Grün und Sozial in der Weltwochekolumne «Mörgeli» nicht wenige zustimmende Kommentare erhält. Es ist offenbar noch vielen ein Dorn im Auge, dass wenig bis schäbig Verdienende sich getrauen, menschenwürdige Arbeitsbedingungen und einen anständigen Lohn zu fordern.

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