Sprachlupe: Gestatten – die Andockverträge mit der EU
Ein «Unterwerfungsvertrag» mit der Europäischen Union, so nennt es die SVP, steht bald im Parlament zur Debatte und kommt dereinst vors Volk. Der Kampfbegriff hat einen wahren, aber banalen Kern und einen sachlichen Fehler: die Einzahl. Aber gerade die hat es in sich, wie wir noch sehen werden. Das mit Brüssel ausgehandelte «Paket», wie es amtlich heisst, hat 20 Bestandteile. Drei Viertel davon sind gar keine Verträge (genannt Abkommen), sondern Protokolle.
Die meisten davon dienen der Änderung und institutionellen Ergänzung der bestehenden Abkommen über den Zugang zum EU-Binnenmarkt. «Stabilisierung» nennt das die bundesrätliche Botschaft, obwohl gerade darin auch die umstrittene Dynamisierung steckt: Übernimmt die Schweiz laufende Änderungen der entsprechenden EU-Regeln nicht, so drohen ihr Ausgleichsmassnahmen. Von «Weiterentwicklung» spricht der Bundesrat auch, aber nicht bei diesen Kernfragen (inklusive Finanzbeiträge und Forschungsprogramme), sondern bei neuen Sachbereichen, so der Elektrizität.
Einseitigkeit: keine Schande, sondern unvermeidlich
Den Bestimmungen in all diesen Papieren unterwerfen sich beide Seiten – wie bei jeder verbindlichen Abmachung, auch unter Privaten. Aber nicht diese Unterwerfungen meint die SVP, sondern eine umfassende, eben durch den Singular ausgedrückte Unterwerfung der Schweiz als angeblicher künftiger Vasall der EU. «Etat vassal» nennt es die Partei in ihren französischen Unterlagen, und wo auf Deutsch «Unterwerfung» steht, schreibt sie neuerdings «adhésion», also Beitritt – paradoxerweise dennoch mit einem schweizfressenden Monster illustriert. Das demnach drohende Schicksal gefressener Untertanen betonen SVP-Wortführer gern mit Ausdrücken wie «kolonial», «nicht auf Augenhöhe», gar «idiotisch verhandelt», «Lug und Trug», «Gaunerworte». Kurzum: Die SVP tönt und karikiert so, als hätte sie sich die schlechtesten ausländischen Vorbilder ausgesucht (vgl. Kasten KI-Bilder zur «Sprachlupe» vom 25. Oktober)
Mit der unterstellten Einseitigkeit treffen die Vertragsgegner wiederum einen wahren Kern, übersehen aber geflissentlich, dass dieser in der Sache begründet ist: Die Schweiz will am Binnenmarkt der Union teilnehmen, ohne ihr beizutreten, quasi als Passivmitglied. Wer mit eingeschränkten Rechten und Pflichten bei einem Verein mitmacht, muss dessen Statuten dennoch akzeptieren, soweit sie eben das vereinbarte Mitmachen betreffen. Die beiden Seiten sind insofern tatsächlich nicht auf gleicher Augenhöhe, und so ist auch der amtliche Ausdruck «bilateraler Weg» irreführend. Die Schweiz verhandelt zwar eins zu eins mit der EU (und nicht «multilateral» als Teil einer Gruppe wie beim 1992 abgelehnten EWR) – aber sie tut es, was den Binnenmarkt betrifft, als Bittstellerin.
Zwischen Verharmlosung und Verunglimpfung
«Bilateral» verharmlost die Einschränkungen der Souveränität, «Stabilisierung» die Dynamik im «Paket». «Unterwerfung» dagegen malt den Untergang der Eidgenossenschaft an die Wand. Gibt es einen Ausdruck, der die Gesamtheit der Abmachungen sachlich trifft, ohne ihr einen Drall pro oder kontra zu verleihen? Ich schlage «Andocken» vor. Da sehe ich die EU als Weltraumstation vor mir, mit dem Hauptmodul Binnenmarkt und diversen Nebenmodulen wie Aussenpolitik oder Raumfahrt. Das Raumschiff Schweiz dockt am Binnenmarkt an, genauer an mehreren seiner Bereiche einzeln. Dazu kommen ausgewählte weitere Politikfelder, zum Teil nur mit Verbindungsschläuchen. Die richtigen Andockschleusen sind technisch (also institutionell) alle gleich ausgestattet, lassen sich aber auch einzeln wieder abhängen – nur wird dadurch die ganze Konstruktion wackliger. Indes ist die frühere «Guillotine» weg, bei der jeder Abgang auch die anderen Zugänge gekappt hätte.

KI-Schema der Andock-Konstellation (dg mit Claude Sonnet 4.5)
Trotz der treffenden Analogien: Wie jeder als Gleichstellung gemeinte Vergleich hinkt auch dieser. Dass «Andocken» meinen Anspruch erfülle, wertneutral zu sein, könnten beide Seiten bestreiten: die Gegner, weil ihnen das mitschwingende Prestige der Raumfahrt missfällt, die Befürworter, weil ihnen die dargestellte Konstruktion zu nah an einem Vasallenverhältnis ist. Wenn aber niemand «Andockverträge» als Kampfbegriff aufgreift, dann ist für mich die Neutralität des Ausdrucks erhärtet. Schwingt niemand das Wort als Waffe, so könnte es allerdings auch deshalb sein, weil keine Seite meinen Vorschlag überhaupt zur Kenntnis nimmt. Aber an diesen Verdacht will ich gar nicht erst denken.
Weiterführende Informationen
- Für KI-Interessierte: Entstehungsgeschichte des Schemas mit Varianten von anderen Anbietern
(Anhang 12 im laufenden Sprachlupen-Sammelband, dazu Gemini-Protokoll) - Indexeintrag «Politik» in den «Sprachlupen»-Sammlungen: tiny.cc/lupen1 bzw. /lupen2, /lupen3. In den Bänden 1 und 2 (Nationalbibliothek) funktionieren Stichwortsuche und Links nur im heruntergeladenen PDF.
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Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
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