Kommentar

Ich & Du & «die Schweiz» gehen k.o.

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Jürgmeier /  «Die Affäre um eine Zuger Kantonsrätin hält die Schweiz in Atem.» (Tages-Anzeiger) «Die Schweiz» – eine Allerweltsformel.

Waren Sie vor Ort (in welcher Reihe?) oder sassen Sie wenigstens vor dem Fernseher, als eine oder einer dieser gepuderten ModeratorInnen gut ausgeleuchtet und vor laufenden Kameras in irgendeinen Saal rief «Guten Abend, Schweiz»? Sind Sie tatsächlich pausenlos mit dieser Sexaffäre im Zugerkirsch Parlament beschäftigt? So umschreibt das Deutsche Universalwörterbuch des Duden-Verlags die Formulierung «jemanden in Atem halten».

Und das behauptet der Journalist Philippe Zweifel am 4. März 2015 im Tages-Anzeiger: «Die Affäre um eine Zuger Kantonsrätin hält die Schweiz in Atem.» An der erotischen Episode ist übrigens – das liegt in der Natur der Sache – noch mindestens eine zweite Person, ein SVP-Kantonsrat, beteiligt. Und K.-o.-Tropfen. Oder auch nicht. Aber die Geschichte kennt nun wirklich die ganze Schweiz. Denn, trotz der beliebten Klage alternder KulturpessimistInnen, es werde nicht mehr gelesen, weiss www.buchjournal.de: «Die Schweiz liest». Inklusive Säuglinge? Oder nur mündige Personen mit Schweizer Pass?

Wer fischt, wenn «Die Schweiz kapituliert»?
Wer genau ist gemeint, wenn Medien, PolitikerInnen oder auch ganz kommune BürgerInnen einer (kleinen) Sache oder sich selbst mit der Formel «die Schweiz» oder gar «die Welt» Beachtung&Bedeutung zu verleihen suchen? Wer fischt, wenn www.welsangelsport.ch verkündet: «Die Schweiz fischt»? Wo haben Sie Ihre Waffen abgegeben, als der unabhängige EU-Blog aus Brüssel Lost in EUrope bloggerte: «Die Schweiz kapituliert»? Weil das Präsidium der Nationalbank die Eurobindung aufgab.

«Die Schweiz jubelt!!!» Haben Sie mitgejubelt? Oder jubelte der leicht narzisstische Twitterer Christian Leu ganz allein? Konnte&wollte sich einfach nicht vorstellen, dass wir uns nicht alle mit ihm freuten: «Die Schweiz jubelt!!! Endlich gibt es neue Kappa Koffer im Coop!» Wie viele Tränen haben Sie geweint, als der Blick titelte: «So trauert die Schweiz um den King»? Im Artikel waren es in der republikanischen Eidgenossenschaft dann doch nur «hunderte von Schweizer Jacko-Anhängern», die sich «zum Kollektiv-Trauern getroffen» haben. Zündeten die restlichen Millionen ihr Kerzlein in einem versteckten Kämmerchen an?

«Die Schweiz feiert 150 Jahre Wintertourismus», berichtete www.presseportal.de im letzten Oktober. Wenn die Klagen der Tourismusbranche nicht nur ökonomische Hypochondrie sind, dann feiern die SchweizerInnen im Ausland. Zum Beispiel in Österreich.

Obwohl, ausgerechnet, einer der bekannteren Österreicher mit «Lebensmittelpunkt» Arbon lieber Schweizer wäre. Hierzulande spüre er «den Respekt und die Wertschätzung, die mein Stratosphären-Sprung durchaus verdient.» Der Baumgartner Felix glaubt, nein, weiss ja, die «ganze Welt» habe auf ihn geschaut, als er sich aus 39 Kilometern Höhe wieder auf die Erde fallen liess. Zugegeben, ich hab’s beim Znacht gesehen. Aber hatten die Millionen&Abermillionen dieser Welt – die keine Ahnung haben, was sie morgen essen sollen, wann sie wieder um ihr Leben laufen müssen oder ob der beziehungsweise die Geliebte ihre Gefühle erwidert – tatsächlich nichts Besseres zu tun und erinnern sich heute noch, «wo sie waren, als es passierte» (Blick online, 5.3.2015)?

Und wenn die Tiroler Tageszeitung schreibt: «Hitler-Portrait auf Kaffeeobersdeckel empört die Schweiz» – haben die auch nur einen Moment überlegt, wie viele SchweizerInnen (nicht) wissen, was Kaffeeobers ist?

Die Schweiz – das bin ich
Aber zurück auf vertrauten Boden – welche Schweiz rettet eigentlich das Duo infernale, das behauptet, es würde gebraucht, weil «die Schweiz» am Abgrund stehe? Die Steigerungs- und Dramatisierungsformel macht aus zwei oder drei, die im Namen des weissen Kreuzes im roten Feld irgendwo herumstehen, «die Schweiz». Jedem&jeder ein eigenes Schweizlein.

Wenn «die Schweiz» tanzt, tanze auch ich. Wenn ich k.o. gehe, geht «die Schweiz», nicht nur im Zugerland, zu Boden. Denn die Schweiz, das bin ich. Nur, wer ist eigentlich gestorben, wenn morgen in der Zeitung steht «Die Schweiz ist tot», und Sie sind ebenso putzmunter wie jene, die das SchwarzaufWeiss schweizweit in Briefkästen verteilt haben?


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2 Meinungen

  • am 7.03.2015 um 10:28 Uhr
    Permalink

    "Nur, wer ist eigentlich gestorben, wenn morgen in der Zeitung steht «Die Schweiz ist tot»"
    Gestorben ist der gute Journalismus – wer alles immer das auch sein mag.
    Er ruhe in Frieden.

  • am 9.03.2015 um 06:24 Uhr
    Permalink

    Und noch einmal: Lieber Infosperber, bitte hör auf, deinen Autoren diese «&-statt-und"-Saumode auszuleben. Ich komme hierher, um Artikel zu lesen, nicht SMS.

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