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Bundesstrafgericht in Bellinzona © bbl

Drogenfahnder beschuldigen einander der Korruption

Frank Garbely /  Der berühmteste Schweizer Drogenfahnder und Autor des Bestsellers «Deckname Tato» muss vor Gericht – wegen Irreführung der Justiz.

Am nächsten Montag beginnt vor dem Bundesstrafgericht in Bellinzona ein Prozess der besonderen Art. Auf der Anklagebank sitzt Fausto Cattaneo (72), der ehemalige Chef der Tessiner Drogenfahndung. Neben ihm der südamerikanische Polizeispitzel «Carlos» (77) sowie Christian Hochstaettler (59), hohes Kadermitglied der Waadtländer Polizei. Die Anklage: Irreführung der Justiz. Sie sollen Bundesanwälte mit Falschinformationen dazu angestiftet haben, zu Unrecht einen Bundespolizisten zu verhaften.

Dieser Bundespolizist steht am Anfang des Prozesses vom Montag. Sein Name: Sergio Azzoni (59). Er ist – wie Fausto Cattaneo – Tessiner. Und wie Cattaneo war er bei der Tessiner Polizei, ab 1982 bei der Gerichtspolizei, von 1992 -1999 bei der Drogenfahndung. Im Jahre 2001 wurde er Bundespolizist. Die beiden Tessiner verbindet eine tiefe Feindschaft. Bereits seit Ende der 80er Jahre. Damals schon hatte Sergio Azzoni seinen späteren Vorgesetzten Kommissar Fausto Cattaneo mehrfach beim Polizeikommandanten oder der Staatsanwaltschaft verpetzt – wegen Unregelmässigkeiten aller Art: Beleidigung, unkorrekte Spesenabrechnung, einmal sogar wegen Korruption. Alle Anzeigen wurden als ungerechtfertigt zurückgewiesen.

Der erfolgreichste V-Mann der Schweiz

In seinem Buch «Deckname Tato» war es Fausto Cattaneo, der Sergio Azzoni anschwärzte. Er beschuldigte ihn des Drogenhandels und der Geldwäscherei. Wegen diesen Anschuldigungen wurde Sergio Azzoni, inzwischen Bundespolizist, am 11. September 2003 verhaftet. Zu Unrecht, wie die Staatsanwaltschaft feststellte. Worauf Sergio Azzoni gegen Fausto Cattaneo eine weitere Klage einreichte, die schliesslich zum anstehenden Prozess führte.

Aber eigentlich geht es gar nicht um Cattaneo und Azzoni, sondern um alte Streitereien und peinliche Animositäten zwischen Sopra- und Sotto-Ceneri, einen Stellvertreter-Krieg zwischen den früheren Tessiner Staatsanwälten Carla Del Ponte und Dick Marty.

Doch gehen wir der Reihe nach: Fausto Cattaneo, genannt Tato, leitete in den 80er Jahren bei der Tessiner Kantonspolizei in Bellinzona eine Spezialeinheit, die besonders erfolgreich gegen Drogenhändler ermittelte. Als Untergrund-Agent oder V-Mann schlüpfte er mit Vorliebe in die Rolle eines Finanzanwaltes mit Mafiakontakten. Bis heute gilt er als der erfolgreichste V-Mann der Schweiz.

Tato, geboren 1943 in Roveredo (Misox), meldete sich mit 26 Jahren zur Polizei, war zuerst Verkehrspolizist in Locarno, 1975 wechselte er nach Bellinzona, wo damals die erste Drogenbrigade der Schweiz entstand, die mit Methoden der Nachrichtendienste arbeitete.

Dream-Team Marty-Cattaneo

Zu dieser Zeit begann in Bellinzona Dick Marty seine Karriere als Staatsanwalt. Marty spezialisierte sich auf die Bekämpfung des organisierten Verbrechens, damals noch kaum ein Thema in der Schweiz.

Staatsanwalt Marty und Drogenfahnder Cattaneo alias Tato wurden das Dream-Team der Schweizer Drogenfahndung. Ihr spektakulärster Fall: Die Aufdeckung der Libanon-Connection, bei der im Tessin 80 Kilo Morphinbase und 20 Kilo Heroin beschlagnahmt wurden. Die Libanon-Connection warf damals in der Schweiz hohe politische Wellen und führte zum Rücktritt von Bundesrätin Elisabeth Kopp. Für die Zerschlagung der Libanon-Connection wurden Staatsanwalt Marty und Kommissar Cattaneo vom US-Justizministerium geehrt. Vor allem Untergrund-Agent Tato erntete internationale Anerkennung.

Nach der Libanon-Connection dehnte Tato seine Ermittlungen verstärkt auf Südamerika aus. Seine letzte grosse V-Mann-Operation trug den blumigen Namen «Mato Grosso» und führte ihn nach Brasilien. Der Auftrag: Drogendealer kolumbianischer Kartelle unterwandern.

Operation «Mato Gross» in Brasilien

Mit der Operation «Mato Grosso» gelingt es Tato, ins Zentrum eines gigantischen Verbrecherringes vorzudringen. In Brasilien macht ihm der Vertreter eines kolumbianischen Drogenkartells ein unglaubliches Angebot. Er soll eine Finanzstruktur aufbauen helfen, mit der Drogengelder gewaschen und via die Schweiz und Kanada zurück nach Brasilien und Kolumbien verschoben werden. Kapazität dieser Geldwaschanlage: mindestens 20 Milliarden Dollar.


Fausto Cattaneo alias Tato (rechts im weissen Hemd) bei einer Undercover-Operation in den 80er Jahren. Im schwarzen Fass befinden sich 350 Kilo Kokain, gelagert in Ochsengalle, damit Polizeihunde nichts riechen konnten.

Schnell stellt er fest: Nicht nur Drogenhändler gehören dem Verbrecherring «Mato Grosso» an, sondern auch bestochene Informanten der amerikanischen Drogenpolizei DEA, korrupte brasilianische Polizisten ebenso wie Schweizer Anwälte und Bankiers.

Tato ist fest überzeugt, diesmal den ganz grossen Coup zu landen. Und er weiss auch schon wie: Folge der Geldspur! Es ist die berühmte Fahndungsmaxime der amerikanischen Drogenpolizei DEA, dank der er und Dick Marty ihre sensationellen Erfolge erzielt hatten. Also schickt Tato sich an, seine Ermittlungen auf die korrupten Polizeispitzel und die Schweizer Bankverbindungen der Drogenhändler auszuweiten. Doch das kommt bei der Staatsanwaltschaft im Tessin auf einmal nicht mehr gut an. Denn hier hat sich einiges geändert.

Del Ponte lässt Cattaneo im Regen stehen

Inzwischen hat Dick Marty die Staatsanwaltschaft in Bellinzona verlassen und in die Kantonsregierung gewechselt. Zur selben Zeit wurden zudem die beiden Staatsanwaltschaften Bellinzona und Lugano, Sopra- und Sotto-Ceneri, zusammengelegt. Keine Liebesheirat. Zwischen den beiden Staatsanwaltschaften bestand seit eh und je ein angespanntes Verhältnis, wo sehr oft schon läppische Eifersüchteleien in offene Feindseligkeiten ausarteten.

Nach dem Zusammenschluss der beiden Staatsanwaltschaften übernahm die junge Carla Del Ponte, Staatsanwältin in Lugano, die Aufsicht über die Drogenfahndung und wurde also auch V-Mann-Führerin von Tato. Damit trat sie Martys Nachfolge an. Ausgerechnet Carla Del Ponte. Marty und Del Ponte konnten sich nie leiden; sie waren sich spinnefeind.


Spinnefeind: Dick Marty und Carla Del Ponte

Fausto Cattaneo, Martys bester Mann, blieb Chef der Tessiner Drogenfahndung. Und er machte weiter mit V-Mann-Operationen wie bisher. Die Differenzen mit Carla Del Ponte liessen nicht lange auf sich warten. Del Ponte kritisierte nicht nur Ermittlungen ihres Vorgängers Marty, sie distanzierte sich sogar öffentlich von den unter ihm eingeführten V-Mann-Methoden. Immer häufiger liess sie ihren berühmten Undercover-Agenten Tato im Regen stehen, stoppte die meisten vom ihm eingefädelten Ermittlungen.

Böse Gerüchte im Tessin

Anfang 1992 kommt es zum grossen Eklat. Der international gefeierte Polizist Fausto Cattaneo wird als Chef der Tessiner Drogenfahndung abgesetzt. Als er von einem verdeckten Einsatz im Rahmen der Operation «Mato Grosso» aus Brasilien zurückkehrt, sitzt auf seinem Stuhl in der Zentrale in Bellinzona bereits sein Nachfolger.

Was war geschehen?

Bei Jörg Schild, damals bei der Bundesanwaltschaft oberster Drogenfahnder der Schweiz, hatte sich der Leiter der französischen Drogenpolizei OCRTIS gemeldet. Der OCRTIS-Chef behauptete, Tato hätte womöglich ins Lager der Drogenhändler gewechselt.

Nur wenige Tage nach OCTRIS meldeten sich bei Jörg Schild auch die Drogenfahnder der brasilianischen Bundespolizei. Sie behaupteten, Tato sei vermutlich von kolumbianischen Drogenhändlern mit einer Edelnutte geködert worden. Just jetzt machten auch im Tessin böse Gerüchte die Runde. Ein Mitarbeiter der Drogenfandung aus Lugano wollte wissen: Tato habe Geld genommen.

Das Opfer einer Intrige

Der Tessiner Polizeikommandant reagierte schnell. Er setzte Tato als Chef der Drogenfahndung ab und schickte ihn zur Weiterbildung an die Universität Lausanne. Der Korruptionsvorwurf liess Tato keine Ruhe. Schnell erkannte er, dass er das Opfer einer Intrige war. Aber warum? Seine Arbeiten für die Uni halfen ihm bei der Suche nach Antworten. Ein Jahr lang beschäftigte er sich mit dem Thema der verdeckten Ermittlung, verglich den unterschiedlichen Einsatz von V-Männern in verschiedenen Ländern.

Plötzlich fiel es ihm wie Schuppen von den Augen. In den letzten Monaten hatte er mehrmals Differenzen mit brasilianischen Kollegen und vor allem mit den Chefs der französischen Drogenpolizei OCRTIS. Er hatte ihre V-Mann-Praxis kritisiert und diese als illegal bezeichnet.

«Mato-Grosso»-Bericht war eine Bombe

In der Schweiz war die Praxis klar: Das Gesetz verbot ausdrücklich den Einsatz von Lockvögeln, das heisst Drogenfahnder oder ihre V-Männer durften nicht als Verkäufer auftreten. Die Schweizer Polizei hielt sich strikt an das Gesetz. Nicht so im Ausland. In mehreren europäischen Ländern, zum Beispiel Frankreich und Italien, durfte die Polizei ungestraft gegen dieses Gesetz verstossen und als Drogendealer auftreten.

Ausgerechnet jene Kollegen, denen Tato diese illegalen Polizeimethoden vorwarf, wollten ihm jetzt Korruption anhängen. Das konnte kein Zufall sein. Er beschloss der Sache auf den Grund zu gehen.

Im November 1992 schrieb er die Ergebnisse seiner Nachforschungen nieder. Der «Mato-Grosso»-Bericht war eine Bombe. Er enthielt schwere Vorwürfe gegen die DEA und vor allem auch gegen französische, italienische und brasilianische Drogenfahnder.

Zwar erkannten die Behörden sofort die Sprengkraft des Berichtes. Trotzdem geschah vorerst nichts. Erst vier Monate später, Mitte März 1993, gab es eine erste Reaktion. Der Staatsrat beauftragte alt-Richter Fernando Gaja mit einer Administrativuntersuchung.

Vor allem eine Frage sollte alt-Richter Gaja beantworten: Stimmen die Korruptionsvorwürfe gegen Kommissar Fausto Cattaneo, wurde er zurecht als Dienststellenleiter abgesetzt?

Ende Mai 1994 schloss alt-Richter Fernando Gaja seine Untersuchung ab. Resultat: Die Untersuchung habe ergeben, dass sich Tato bei seinen Ermittlungen jeweils im vom Gesetz vorgeschriebenen Rahmen bewegt habe. Trotz des positiven Ausgangs der Untersuchung kehrte Tato nicht in den Polizeidienst zurück, er wurde auf Ende Jahr vorzeitig pensioniert und für invalid erklärt. Für ein paar Jahre kehrte Ruhe ein im endlosen Rosenkrieg der Tessiner Drogenfahnder und Staatsanwälte.

Tatos Buch wird zum Knüller

Sieben Jahre später, 2001, geht es wieder los. In Paris erscheint Tatos Buch «Comment j’ai infiltré les cartels de la drogue», das später unter dem Titel «Deckname Tato» auch auf Deutsch herauskommt. Das Buch stützt sich auf zahlreiche Belege der Tessiner Polizei. Autor Tato brüstet sich sogar, dass er sich diese Dokumente unerlaubterweise aus dem Polizeiarchiv geholt hatte. Und natürlich wiederholt er die Kritik an seinen Ex-Kollegen, beschuldigt sie, in Frankreich und Italien bei illegalen Polizeimethoden mitgewirkt zu haben. Nur einen Ex-Kollegen nennt er namentlich: Sergio Azzoni. Eine Provokation, die nicht unbeantwortet bleibt. Sergio Azzoni reicht Klage ein, das Prozess-Karussell dreht sich wieder.

Das Buch wird zum Knüller, erklettert die Bestsellerlisten in Frankreich, der Schweiz und Deutschland. Tato tingelt durch die Lande, reist von Lesung zu Lesung; er geniesst den Erfolg, dabei hat er enorme Probleme. Der Kanton hat ihm zwar eine Pension in der Höhe von rund 7 000 Franken zugestanden, doch ein grosser Teil des Geldes wird zurückbehalten, denn noch immer sind Verfahren hängig. Und er hat enorme Schulden.

Lockvogel Carlos weiss Brisantes

Unverhofft meldet sich bei Tato ein Zeuge: Carlos, mit bürgerlichem Namen Guillermo Segundo Villacorta Bravo, einer der drei Angeklagten im Prozess vom nächsten Montag. Carlos ist gebürtiger Chilene, der in Brasilien lebt. Wegen der platten Nase und seiner Hautfarbe bekam er den Spitznamen «Indianer».


Der südamerikanische Polizeispitzel Carlos

Carlos arbeitet seit 1989 als Polizeispitzel und Undercover-Agent für die amerikanische Drogenpolizei DEA, die brasilianische Bundespolizei, in Europa vor allem für die französische Drogenpolizei OCRTIS und gelegentlich auch für italienische Polizeidienste.

Carlos hat als Lockvogel für die OCRTIS Drogen verkauft, was illegal war. Und er kann bezeugen, dass bei zwei Operationen, genannt Nizza I und Nizza II, auch Tessiner Polizisten im Einsatz standen.

Tato holt Carlos in die Schweiz. Carlos schildert ihm, wie er für die Franzosen als Drogenverkäufer auftrat. Die Drogen (Kokain) stammten nicht etwa von einem kolumbianischen Kartell, sondern aus den Depots der brasilianischen Bundespolizei. Das Kokain wurde unter Polizeischutz und als Diplomatengepäck von Brasilien nach Paris geflogen. In Frankreich schickte OCRTIS Polizeispitzel oder V-Männer los, um Käufer zu finden.

Einen dieser Transporte hatte Carlos begleitet. Carlos besitzt sogar Fotos, die zeigen, wie er und Agenten der OCTRIS einen Koffer mit 60 Kilo Kokain von Sao Paolo nach Paris und später nach Nizza bringen.

Bei der Lieferung spielte sich jeweils dasselbe Szenario ab, erzählt Carlos. Kurz nach der Übergabe schlug die Polizei zu, verhaftete die Käufer und beschlagnahmte das Kokain. Am nächsten Tag feierten die OCRTIS-Chefs vor versammelter Presse den grossen Fahndungserfolg und präsentierten werbewirksam die beschlagnahmte Rekordmenge Drogen. Von den V-Männern dagegen erfuhr niemand etwas. Sie konnten sich unbehelligt aus dem Staub machen. Und das Geld, das sie für das Kokain eingesteckt hatten, durften sie als Lohn für ihre Lockspitzel-Tätigkeit behalten.

Carlos berichtet nicht nur von Lockspitzel-Einsätzen in Frankreich, ebenso detailliert erzählt er von Aktionen in Rom, Mailand und Varese. Auch da waren Tessiner Drogenfahnder dabei. Ganz speziell Sergio Azzoni. Laut Carlos war es Sergio Azzoni, der die Kontakte zur italienischen Polizei herstellte.

Bundespolizist Azzoni verhaftet

Zwischen den illegalen Einsätzen in Frankreich und Italien gab es einen gewichtigen Unterschied. Die Drogen für Italien stammten nicht aus dem Depot der brasilianischen Drogenpolizei, sie kamen von einem Polizeispitzel, der diese bei einem kolumbianischen Kartell eingekauft hatte, so Carlos. Aussergewöhnlich auch bei den Lockvogeleinsätzen in Italien: Laut Carlos hatte der Schweizer Polizist Sergio Azzoni mehrmals Drogengelder gewaschen.

Die Aussagen Carlos nimmt Tato auf Tonband auf, danach erstellt er zusammen mit Carlos ein Protokoll, das die wichtigsten Punkte der Zeugenaussage enthält.

Nun tritt ein anderer alter Freund von Tato auf den Plan, Christian Hochstaettler (59), von der Waadtländer Sicherheitspolizei. Er informiert Bundesanwalt Edmond Ottinger über Carlos‘ Zeugenaussagen. Prompt leitet Bundesanwalt Ottinger daraufhin eine Untersuchung ein – gegen unbekannt, gemeint aber ist Sergio Azzoni. Edmond Ottinger hört Tato an, auch mehrmals Carlos, und er fliegt für weitere Einvernahmen mehrmals nach Brasilien.

Die Untersuchung Ottinger endet mit einem Paukenschlag: Am 11. September 2003 lässt er den Bundespolizisten Sergio Azzoni verhaften. Grund: Drogenhandel und Geldwäscherei. Doch nur ein Monat später wird das Verfahren gegen Sergio Azzoni eingestellt.

Carlos zieht seine Aussagen zurück

Wiederum gehen ein paar Monate ins Land, bevor das Prozess-Karussell wieder Fahrt aufnimmt. Ja, die Ereignisse überstürzen sich geradezu.

Es wird zwar noch immer ermittelt, aber nicht mehr gegen Sergio Azzoni, sondern neu gegen Cattaneo, Hochstaettler und Carlos. Allerdings, die Betroffenen wissen noch nichts von ihrem Unglück. Es ist Bundesanwalt Félix Reinmann, der jetzt ermittelt.

Zuerst kommt die Meldung aus Brasilien, Carlos hätte sich spontan beim Schweizer Verbindungsoffizier in Brasilien gemeldet: Er möchte alles zurücknehmen, was er bisher über illegale Polizeimethoden oder gegen Sergio Azzoni ausgesagt habe.

Anfang März 2006 kommt nochmals richtig Bewegung in die ohnehin turbulente Geschichte. Bundesanwalt Félix Reinmann lässt Cattaneo verhaften. Bevor er in ein Untersuchungsgefängnis nach Bern überführt wird, durchsuchen sechs Polizisten Tatos Privatwohnung, beschlagnahmen einen PC sowie zahlreiche Dokumente. Eine Woche später ist Tato wieder frei, aber noch immer schwer geschockt. Er beklagt sich, man hätte ihn angeschrien und behandelt wie einen gemeingefährlichen Verbrecher.

Bundesanwalt Beyeler stellt das Verfahren ein

Tato sitzt noch im Berner Untersuchungsgefängnis, als Bundsanwalt Félix Reinmann bereits den nächsten Haftbefehl ausstellt. Diesmal einen internationalen Haftbefehl gegen den Polizeispitzel Carlos, genannt der «Indianer». Die brasilianische Polizei macht Carlos Aufenthalt ausfindig. Daraufhin reist Félix Reinmann nach Brasilien, um Carlos als Zeugen einzuvernehmen. Wie angekündigt, nimmt Carlos tatsächlich sämtliche Anschuldigungen zurück: Tato hätte ihn missverstanden oder falsch ausgelegt.

Nur, Carlos hatte sich nicht nur gegenüber Tato geäussert. Er war auch mehrmals von Bundesanwalt Edmond Ottinger befragt worden. Doch niemand scheint sich über den Meinungswandel von Carlos zu wundern.

Herbst 2008. Endlich sind die Ermittlungen abgeschlossen, Bundesanwalt Félix Reinmann beginnt mit der Redaktion des Schlussberichtes.

Für die nächste Überraschung sorgt der damalige Bundesanwalt Erwin Beyeler: Er ordnet die Einstellung des Verfahrens an. Die Einstellung des Verfahrens gegen Cattaneo, Hochstaettler & Villacorta Bravo ist wohl eine seiner letzten Amtshandlungen: Bundesanwalt Beyeler war im Juni 2011 abgewählt worden.

Mit der schriftlichen Begründung beauftragt er den Bundesanwalt Jürg Blaser: Die nötigen materiellen Beweise konnten nicht erbracht werden, hauptsächlich weil alles nur auf Gerüchten basiere oder vom Hören-sagen («sur des oui-dire») stamme. Es sei heute nicht mehr möglich, ein strafbares Vergehen nachzuweisen, schreibt Blaser. Und an anderer Stelle: nach so langer Zeit sei es absolut unmöglich festzustellen, was tatsächlich geschehen war. Auf die Einstellung des Verfahrens antwortet Sergio Azzoni erneut mit einem Rekurs, und bekommt Recht.

Schlussbericht verspricht einige Überraschungen

Am 24. Oktober 2013, also vor fast zwei Jahren, wird schliesslich Anklage erhoben gegen den Ex-Drogenfahnder Fausto Cattaneo, den Waadtländer Polizeikader Christian Hochstaettler und den chilenisch-brasilianischen Polizeispitzel Guillermo Segundo Villacorta Bravo.

Zuerst sollte der Prozess im vergangenen Juni stattfinden. Als Ankläger vorgesehen: Félix Reinmann. Doch der Prozess musste verschoben werden, denn Félix Reinmann ist inzwischen von Bundesanwalt Michael Lauber wegen ungenügender Leistung entlassen worden. Jetzt hat Bundesanwalt Lauber einen neuen Ankläger bestimmt: Jürg Blaser, ausgerechnet jenen Mann, der im Jahre 2011 die Begründung für die Einstellung des Verfahrens verfasste.

Zwölf Jahre lang wurde ermittelt. Entsprechend gewaltige Ausmasse nehmen die Gerichtsunterlagen an. Und allein schon der Schlussbericht verspricht einige Überraschungen im Rosenkrieg der Tessiner Drogenfahnder: Betroffen nicht nur die früheren Tessiner Staatsanwälte Dick Marty und Carla Del Ponte, sondern vor allem auch die Bundesanwaltschaft in Bern und ihre gar eigenwillige Ermittlungskultur.
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Fortsetzung folgt: Frank Garbely berichtet für Infosperber über den Prozess vor Bundesstrafgericht, der am Montag beginnt.


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Frank Garbely war Redaktor beim Schweizer Fernsehen (1988 – 1997) und Mitarbeiter des Politmagazins «Mise au point» der Télévision Suisse Romande. Seit 1998 ist er freier Fernsehjournalist und Filmemacher. Er hat immer über das Wirken der Geheimdienste berichtet. 1997 drehte er für das Schweizer Fernsehen den Dokumentarfilm «V-Mann Tato – Der gejagte Jäger».

Zum Infosperber-Dossier:

Polizei1

Justiz, Polizei, Rechtsstaat

Wehret den Anfängen, denn funktionierende Rechtssysteme geraten immer wieder in Gefahr.

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