Kommentar

Digitale Demokratie ersetzt direkte Demokratie

Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des AutorsKeine. Oswald Sigg war Bundesratssprecher, Informationschef verschiedener Departemente und der SRG sowie Chefredaktor der SDA. ©

Oswald Sigg /  Wählen per Mausklick: Das soll die Zukunft sein. Doch ein Stück gelebte Demokratie geht dadurch verloren.

Unsere direkte Demokratie lebt. Sie ist hausgemacht und handgefertigt. Jede und jeder füllt den Stimm- oder Wahlzettel eigenhändig aus. Bringt ihn zur Urne oder schickt ihn per Post an die Gemeindekanzlei. Dort wird geprüft, ob die Stimmrechtsausweise mit den Stimmregistern übereinstimmen. Die Stimm- oder Wahlzettel werden am Abstimmungswochenende ausgezählt. Je nach Grösse der Gemeinde durch wenige freiwillige Bürgerinnen und Bürger, in Städten durch Hunderte, in der ganzen Schweiz sind es Tausende. Sie werden eigens auf ihre Kontrollaufgabe vorbereitet. Jeder einzelne Stimm- oder Wahlzettel geht durch ihre Hände. Nur in den Staatskanzleien sind es Kantons- und in der Bundeskanzlei sind es Bundesangestellte, welche die Abstimmungsprotokolle aller Gemeinden zum Resultat des Urnengangs auf eidgenössischer Ebene zusammenstellen. Es entsteht ein x-fach und auf allen Stufen kontrolliertes Resultat – das bürgerliche Handwerk der direkten Demokratie. Dessen oberstes Gebot lautet: Sicherheit. Stimmende und Wählende sollen ein über jeden Zweifel erhabenes Ergebnis hervorbringen können. Die bald 170-jährige Geschichte der Volksabstimmungen zeigt, dass unser politisches System praktisch fälschungssicher ist. Die aktiven Stimmbürgerinnen und Stimmbürger vertrauen ihm.  
Mausklick statt Stimmzettel
Damit soll nun Schluss sein. Kürzlich erklärte der Bundesrat, bis zu den nächsten eidgenössischen Wahlen am 20. Oktober 2019 würden bereits zwei Drittel der Kantone die elektronische Stimmabgabe anbieten. 
Vermutlich wird bald das Internet die direkte durch die digitale Demokratie ersetzen. Wir werden per Mausklick auf einer mobilen Applikation die Bürgerpflicht erfüllen. Dort werden auch die Empfehlungen der Behörden und Parteien zu den einzelnen Vorlagen zu lesen sein. Die Urnen, die Stimm- und Wahlzettel, die Tausenden von Freiwilligen: Ihr Ersatz wird eine intelligente Software sein. Statt den spannenden Abstimmungssonntagen figurieren dann auf dem Bundeskalender noch vier Eingabefristen. Die Abstimmungs- beziehungsweise Wahlbeschwerden und die Erwahrung der Resultate durch die Eidgenössischen Räte sind in Zukunft Schnee von gestern.
Facebook statt Demokratie
Die digitale Demokratie wird nicht mehr sicher sein. Im Internet ist alles möglich. Gerade ein äusserst knappes Abstimmungsresultat könnte durch Hacker ins Gegenteil gekehrt werden. Laut der Daten-Vertrauensstudie 2017 von Comparis misstraut über die Hälfte der Schweizerinnen und Schweizer den grossen Playern im Netz, wie Google und Facebook. Vielleicht wird dereinst Facebook zum System für die Austragung unserer Demokratie. Freunde statt Stimmbürger. Das deutsche Handelsblatt berichtete vor ein paar Wochen, Mark Zuckerberg, der Besitzer von Facebook, lasse Sensoren entwickeln, womit das Gehirn Worte, Gedanken oder Entscheide direkt dem Computer diktieren könne. So brauchten wir nicht einmal mehr unsere Hände für die wenigen Stimm-Klicks. Aber immer noch den Kopf. Nur: Die neurologische Demokratie wäre dann jene Krankheit, die zu ihrem Tod führen müsste.

Dieser Text erschien in leicht abgeänderter Form am 2. Juni 2017 im «Frutigländer».


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Keine. Oswald Sigg war Bundesratssprecher, Informationschef verschiedener Departemente und der SRG sowie Chefredaktor der SDA.

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4 Meinungen

  • am 11.06.2017 um 16:03 Uhr
    Permalink

    Oswald Sigg sieht die digitale Demokratie negativ. Sein Zukunftsszenario ist leider sehr realistisch, wird dem Digitalisierungs-Humbug wirklich nachgelebt. Schon die Briefstimme hat die Demokratie nicht gestärkt. Sie ist zwar bequem, gestimmt wird aber oft vor der breiten demokratischen Debatte, weil Abstimmungskämpfe über mehrere Wochen Millionen kosten. Die Demokratie per Mausklick wäre ein weiterer Rückschritt: Die korrekte Stimmabgabe wäre unsicher, physisch nicht nachprüfbar, nur Experten könnten ihre Sicherheit beurteilen. Hacker wetzen wohl schon ihre Messer. Das Stimmlokal wäre das Internet, wo auch die Propaganda und die Diskussion stattfindet. Raum für Missbräuche noch und noch. – Was ist denn so falsch daran, an einem bestimmten Tag an der von Menschen kontrollierten Urne abzustimmen oder zu wählen oder wenns sein muss halt per Brief? Frankreich macht es an diesem Wochenende gerade wieder vor, wie unkompliziert das funktioniert. In allen stabilen Demokratien geht das so und hat eine grosse Symbolkraft. Aber in der behaupteten «ältestens Demokratie der Welt» will die Bundeskanzlei die Demokratie koste es was es wolle in die Computer-Blackbox verbannen. Zur Intransparenz der Abstimmungskampagnen soll sich auch noch ein undurchsichtiger Stimmvorgang gesellen. Es ist noch nichts definitiv entschieden. Wehren wir uns dagegen!

  • am 12.06.2017 um 11:47 Uhr
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    Meines Erachtens ein Infosperber-unwürdiger Artikel, der schon fast an Panikmache grenzt. Die Schlussfolgerungen (insbesondere der Hupf über zeitgemässe AI Forschung bis hin zum Begriff «neurologische Demokratie") sind ungewohnt unausgereift und oberflächlich.

    Die Digitalisierung (momentan ein sehr modernes Wort aber wir befinden uns bereits seit über 40 Jahren in diesem Zeitabschnitt) lässt sich nicht stoppen, weil sie einfach Sinn macht und die Menschen sie fordern. Es gehört zur Aufgabe der Regierung die beteiligten System hochverfügbar und sicher zu gestalten und ob man das nun glauben mag oder nicht: Das ist durchaus möglich.

    Wann wurden das letzte Mal ZKB-Konten gehackt und geplündert? Wann gelang es Hackern die Wasserversorgung von Zürich lahmzulegen? Wann wurde das letzt AKW via Internet heruntergefahren? Wann wurden jemals SBB Bahnweichen fremdgesteuert? Wann der Kontrollturm in Kloten übernommen?

    Es ist eben NICHT alles möglich Herr Sigg.

  • siggSWWeb
    am 12.06.2017 um 13:15 Uhr
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    À propos ‹Panikmache›, ‹unausgereift und oberflächlich›, Herr Wilhelm:
    "KI könnte die Kontrolle über Regierungen und internationale Unternehmen erlangen. Sie könnte die Menschheit versklaven und in Konzentrationslager stecken. Sie könnte die Erde zerstören, das Sonnensystem, ja sogar das Universum.»
    Unter dem Titel ‹Wer schaltet sie aus?!› von Dominik Imseng zu lesen in der NZZ am Sonntag vom 11. Juni 2017.

  • am 12.06.2017 um 14:49 Uhr
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    Nach den ersten Kurzweil Lektüren kamen mir auch ganz dramatisch trübe Gedanken aber unterdessen bin ich entspannter.

    Ja die Singularität bedroht uns tatsächlich. Sie bedroht unseren unvolkommenen Körper, unsere unscharfe Wahrnehmung, unsere Befangenheit, unsere Vorurteile, unser Unwissen und unsere Religionen und Aberglauben.

    "Die AI» wird uns aber wohl kaum als wahrnehmbare, von aussen wirkende Übermacht in KZ internieren. Da zeigt sich das Unvermögen von uns Jetzt-Menschen in die Zukunft und über den Horizont zu blicken oder wie Schopenhauer formuliert hat: «Jeder hält die Grenzen des eigenen Gesichtsfeldes für die Grenzen der Welt."

    "Die AI» (und die Seed AI im Besonderen) wird ja nicht von heute auf morgen superintelligent und uns überholen. Erst wird unser Leben «augmented» (da stecken wir bereits in den Anfängen), d.h. unsere analoge Realität wird um digitale Funktionen erweitert und so nähern wir uns Schritt für Schritt dem Transhumanismus. Und evtl. existieren unsere Ur-Ur-Ur-Urenkel tatsächlich nur noch als virtuelles irgendetwas «in der Matrix».

    Ich befürchte aber, dass sich die Menschheit schon vor dem Erreichen der Singularität «in die Luft sprengt» und so sehe ich andere Probleme als viel dringlicher. Zum Beispiel müssten endlich alle meine Freunde und Bekannten Grün wählen. Und überhaupt wählen… und darum wäre es doch einfach toll, wenn Abstimmen und Wählen supereasy per Smartphone möglich wäre.

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