Kommentar

Die Lega bleibt im Tessin stärkste Kraft trotz Verlusten

Beat Allenbach © zvg

Beat Allenbach /  Bei den Wahlen im Tessin verdrängte Raffaele De Rosa den CVP-Staatsrat Paolo Beltraminelli. Im Parlament gibt's ein grünes Säuseln.

Die zwei bisherigen Staatsräte (Regierungsräte) der Protestbewegung «Lega dei ticinesi» wurden am Sonntag wiedergewählt: Norman Gobbi mit der höchsten Stimmenzahl. Sein Parteikollege Claudio Zali, vor vier Jahren Nummer eins, rutschte auf Platz drei ab, denn Christian Vitta von der FDP erzielte mehr Stimmen. Wiedergewählt wurde auch Manuele Bertoli von der SP, deren Sitz als unsicher galt. Die Stimmbeteiligung betrug 60 Prozent. Das ist ein ausgezeichnetes Resultat im Vergleich zu anderen Kantonen; fürs Tessin ein wiederholter, aber bescheidener Rückgang.

Am späteren Montagabend stand endlich auch die Sitzverteilung im 90-köpfigen Grossen Rat fest. Das Parlament ist stärker zersplittert: Verliererin ist die Lega (18 Sitze, minus 4), Gewinnerin ist die SVP (7, plus 2). Für die Grünen, die sich vor zwei Jahren spalteten und neu starten mussten, ist der Erhalt von 6 Sitzen ein Erfolg. Stärkste Fraktion bleibt mit 23 Sitzen (–1) die FDP, die CVP erzielt 16 Sitze (–1), die SP 13 (unverändert), die Bewegung für den Sozialismus 3 (plus 2), die Frauenliste überraschend neu 2 Sitze und die Kommunisten ebenfalls 2 (plus 1). Es wird noch komplizierter werden als bisher, Mehrheiten im Grossen Rat zu erreichen.

FDP: zum dritten Mal die Mehrheit verfehlt

Der während Jahrzehnten im Tessin dominierenden FDP gelang es auch diesmal nicht, den vor acht Jahren verlorenen zweiten Sitz im fünfköpfigen Staatsrat zurückzuerobern. Sie wollte offenbar nicht mehr der Lega den zweiten Sitz entreissen, sondern hatte es darauf abgesehen, der SP, die seit bald hundert Jahren in der Regierung vertreten ist, den Sitz streitig zu machen.
Das war unklug, denn sogar innerhalb der FDP meldeten sich Stimmen, die daran erinnerten, dass in der Kollegialregierung auch das soziale Gewissen vertreten sein sollte. So konnte die SP entgegen den Umfragen gegenüber den Wahlen von 2015 gut zwei Prozent Stimmen zulegen. Die CVP, der Verluste prognostiziert wurden, konnte sich ebenfalls leicht verbessern; dies auch dank der harten Konkurrenz zwischen De Rosa und Beltraminelli.
Die Lega, welche mit der im Tessin schwachen SVP zum Teil widerwillig eine gemeinsame Wahlliste erstellt hatte, um die beiden Regierungssitze zu sichern, büsste gut vier Prozent ein. Offenbar konnte sie nur dank der gemeinsamen Liste die relative Mehrheit in der Regierung bewahren. Entgegen den Erwartungen verlor die FDP ebenfalls, allerdings nur leicht.

Das Ziel: Regierungssessel verteidigen

Es war ein seltsamer Wahlkampf, der vor allem in den Medien – im redaktionellen Teil und mit Inseraten – geführt wurde. Zwar trafen sich viele Wähler und Kandidaten an zahlreichen Apéros und Staatsräte sowie viele Kandidaten besuchten Wähler in den Gemeinden. Doch keine einzige grosse Veranstaltung mit Fragen an alle bisherigen Staatsräte fand statt. Die Frage, weshalb man diese oder jene Partei wählen sollte, blieb unbeantwortet; es wurde wenig über Ideen und Projekte gesprochen: Alle wollten den Besitzstand wahren und ihre Arbeit fortführen.

Die vor bald 30 Jahren vom verstorbenen Giuliano Bignasca gegründete Protestbewegung Lega konnte im Tessiner Staatsrat die relative Mehrheit verteidigen. Das ist möglich, da im Tessin nicht allein das Parlament, sondern auch die Regierung nach Proporz – das heisst im Verhältnis der Parteienstärke – gewählt wird. Zudem hat die Lega keine Parteimitglieder. Ihre Wähler sind Fans, so wie sie die Fussballclubs kennen, und ob die Lega etwas richtig macht oder scheitert, spielt keine Rolle – die Fans bleiben ihr treu. So erklärt auch ein Spitzenpolitiker der Lega deren Erfolg.
Kein Wahlprogramm, kein Parteivorstand
Ein Parteiprogramm sucht man vergeblich auf der Internetseite der Lega oder in der Gratis-Sonntagszeitung «Il Mattino della Domenica», welche den Unmut über Tessiner Ereignisse, über «Bern», Italien und Europa mit ihren groben, oft vulgären Verunglimpfungen befeuert. Die Lega kennt zudem keinen Vorstand oder ein Gremium, das die Linie festlegt und Beschlüsse fasst. Das geschieht informell in verschiedenen Gruppen, seit Bignasca, der Präsident auf Lebenszeit, der stets den Weg wies, gestorben ist.
Der «Mattino» schimpft auch heute oft über das «governichio», das «Regierunglein», obschon die Lega dort über die relative Mehrheit verfügt. Das ärgert manchmal auch die Leute in der Regierung und viele andere, aber die Heckenschüsse des von Nationalrat Lorenzo Quadri geleiteten «Mattino» verstummen nicht. Lega-Gründer Bignasca sowie manche seiner Anhänger und der «Mattino» haben die politische Kultur im Tessin erschüttert: Heute werden Schimpfwörter und Unterstellungen allgemein hingenommen, was früher nicht toleriert worden wäre.

Die zwei Gesichter der Lega

Seit wenigen Jahren nach ihrer Gründung ist die Lega nicht ausschliesslich eine laute, polternde Protestpartei, welche «prima i nostri» (zuerst die Tessiner ) als Kampfruf führt. Sie verfügte auch über leutselige, gesittete Leute in Exekutivämtern: Marco Borradori ist seit Langem das entsprechende Aushängeschild. Er hat sich jeweils von unflätigen Verunglimpfungen durch Lega-Gründer Bignasca distanziert, doch das blieb ohne Folgen, im Gegenteil: Jene, die anprangerten und kritisierten, erhielten Stimmen, aber auch jene, die gesittet politisierten. Borradori, heute Stadtpräsident von Lugano, erhält jeweils Vorzugsstimmen von Wählern aller Parteien, auch von jenen der SP.
Claudio Zali, der gegenwärtige Regierungspräsident, hat mit seiner Förderung des öffentlichen Verkehrs Sympathien auch bei Linken erworben. Im Vorfeld der Wahlen hat er sich allerdings geweigert, der Sonntagszeitung «il caffè» ein Interview zu geben, die zuvor die vier andern Staatsräte zu Wort hatte kommen lassen. Solange das Blatt die Haltung ihm gegenüber nicht ändere, gebe er kein Interview, betonte der Regierungspräsident, der zuvor Richter war. Diese Weigerung, mit der unabhängigen Sonntagszeitung zu sprechen, hat in der Öffentlichkeit keinerlei Entrüstung hervorgerufen.

Der zweigeteilte Gobbi: Staatsrat und Legist

Bezeichnend ist, dass Norman Gobbi jetzt das beste Wahlresultat erzielte. Er hat die Polizei grosszügig gestärkt und die Kriminalität sinkt seit mehreren Jahren – eine Entwicklung, die in der ganzen Schweiz festgestellt wird. Als Staatsrat ist der Vorsteher des Justiz- und Polizeidepartements zu vielen Reden und Grussbotschaften verpflichtet. Am kantonalen Tag der Integration vor zwei Jahren betonte er, wie wichtig es sei, die gegenseitige Toleranz der einheimischen und der ausländischen Bevölkerung zu fördern sowie den Ausländern gleiche Rechte in der Arbeitswelt und im sozialen wie kulturellen Bereich zu gewähren.
Das sind Aussagen, die man in der Lega-Zeitung «Mattino» nie lesen kann und welche Gobbi nie an Lega-Anlässen wiederholt. Sonst scheint der Polizeidirektor Einwanderer und Asylsuchende nämlich nicht zu mögen. Er führt eine äusserst restriktive Politik beim Erteilen von Aufenthaltsbewilligungen für Asylsuchende und in einem Interview sagte er: «Ich gebe zu, dass ich in gewissen Bereichen der Migration sicher strenger wäre, wenn ich nicht die Anweisungen des Bundes befolgen müsste.»
An einer Veranstaltung im Zusammenhang mit «Lugano – eine offene Stadt» Anfang dieses Jahres erinnerte Gobbi an den Irrsinn des Nationalsozialismus, der unendliches Leid verursacht habe; das dürfe nicht vergessen werden, betonte er. Drei Jahre zuvor hatte ein Kantonspolizist auf Facebook wiederholt seine Bewunderung für Hitler und Mussolini ausgedrückt und Ausländer als Schweine bezeichnet. Die Justiz befasste sich mit dem rechtsextremen Polizisten und verurteilte ihn mittels Strafbefehl zu einer bedingten Strafe mit zweijähriger Bewährungsfrist. Das verhinderte nicht die Beförderung des hitlerfreundlichen und ausländerfeindlichen Polizisten zum Oberfeldweibel. Der Staatsrat rechtfertige die Beförderung mit den beruflichen Qualitäten des umstrittenen Polizisten; die Bewährungsfrist sei inzwischen schliesslich abgelaufen.
Diese fragwürdige Beförderung hat im Grossen Rat bloss die Linke gestört; im bürgerlichen Tessin war sie kaum ein Thema. Dem ehemaligen Staatsarchivar Andrea Ghiringhelli verschlug es die Stimme, er sagte schliesslich, die Tessiner hätten die Fähigkeit verloren, sich zu schämen. Norman Gobbi hat diese Affäre nicht geschadet, wie sein Spitzenresultat beweist.


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2 Meinungen

  • am 10.04.2019 um 13:41 Uhr
    Permalink

    Mal sehen, wie lange vorrangiges Besitzstandswahrungs- u. blosses Eigennutz-Denken eine immer heterogenere Gesellschaft noch trägt, die immer mehr von Interessenkonflikten zerrissen wird. Ob nationale CH-Gefühle ausreichend sind, um diese Zentrifugalkräfte noch zu beherrschen wird immer fraglicher. Überhaupt, warum ist das Föderale so bedeutend, wenn es ein homogenes nationale Schweizer Volk geben würde ?

  • am 13.04.2019 um 14:34 Uhr
    Permalink

    InfoSperber sollte die politisch interessierten Leser informieren, dass im Tessin auf Kantonaler- und Gemeinde Ebene KEINE Listenverbindungen erlaubt sind und weiter, dass im TI sowohl für die Exekutive und natürlich für die Legislative das Verhältniswahlrecht gilt. Die SP hat in der Reg.Rat-Wahl gut abgeschnitten, weil viele grüne Wähler die SP-Liste einlegten, dieselben Wähler dann aber in der Kantonsratswahl die Grüne-Partei wählten. Die grüne Reg.Rat-Kandidatur hatte eben wegen der dem Verhältniswahlrecht chancenlos, darum der «Switch» vieler Wähler.
    Zudem sollten die Leser wissen, dass Reg.Rat Gobbi für die Lega gewählt wurde, aber gleichzeitig ist der Herr eifriges und offizielles SVP-Mitglied, geht wohl nur im Tessin…Somit ist Herr Gobbi nicht zweigeteilt wie im Beitrag von Herrn Allensbach ausgeführt, sondern dreigeteilt. Lega und SVP sind im Tessin eben ‹Häfeli Deckeli›. Die Lega verlor bei den Kantonsratswahlen (nur diese Wahlen sind aussagekräftig für die Parteienstärke) 4 Sitze, dafür gewann die SVP deren 2, ergo Gesamtverlust der ‹Rechten› 2 Sitze, nicht gerade viel, sondern eben je nach Sichtweise, viel zu wenig…..! Weiter noch zu den ‹Grünen›. In der vergangenen Legislatur hatten die Grünen 6 Sitze, davon aber 3 (= 50%) Abtrünnige welche die Sitze nicht zur Verfügung stellten obwohl aus der Fraktion ausgeschlossen , somit war der Wahlerfolg der Grünen eigentlich + 3 Sitze, denn die abtrünnigen Kantonsräte mussten ersetzt werden und das gelang mit Erfolg..

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