Radar

Für die AvenirSuisse ist die Anzahl fixmontierter Radar-Blitzer ein Mass unserer Freiheit © SRF

Die Freiheit, die ich meine …

Christian Müller /  Freiheit – ein Luxus, den sich nicht alle leisten können, wie Marx einmal meinte? AvenirSuisse glaubt zu wissen, was Freiheit ist.

Das Jahr 2015 liegt hinter uns. Zu sagen, dass in diesem Jahr alles gut gekommen ist, wäre wohl übertrieben. Insbesondere gab es etliche Entwicklungen und Ereignisse, die einen zweifeln lassen, ob die Freiheit, die wir gegenwärtig geniessen, auch künftig zu unserem Glück beitragen wird. Denn gerade in den letzten Jahren und Monaten häuften sich Signale, die uns eine deutlich unfreiere Zukunft anzuzeigen scheinen. Die NSA etwa lässt grüssen…

Doch was ist denn diese Freiheit überhaupt?

Man soll bekanntlich nicht nur lesen, was einem passt. Die eigene Meinung bestätigt zu bekommen, ist zwar beruhigend, aber kaum hilfreich, gerade auch wenn es darum geht, die unterschiedlichen Bedrohungen unserer Zeit abzuschätzen. Besser also, man liest auch Zeitungen und Zeitschriften, Artikel und Kommentare, die andere Perspektiven und Meinungen aufzeigen.

Dieser Empfehlung Folge leistend habe ich auch wieder einmal den Lokalteil der Schweiz am Sonntag, Ausgabe Aargau, gelesen – schliesslich steht in meinem Pass ja eine Aargauer Gemeinde als sogenannter Heimatort. Und da, in diesem Lokalteil, war zum Beispiel das zu lesen: 10 Gründe, warum 2015 für den Aargau ein gutes Jahr war. Das Jahr 2015 für den Aargau ein gutes Jahr, wo es doch für viele Länder ein schwieriges oder gar schreckliches Jahr war? Genauer hinsehen also!

Von den zehn Gründen, warum das Jahr 2015 für den Aargau ein gutes Jahr war, stand da bereits an zweiter Stelle wörtlich: «Eine Auszeichnung kann der Kanton in Serie feiern, dieses Jahr bereits zum fünften Mal hintereinander. Der Aargau ist der freiste Kanton der Schweiz – zumindest, wenn es nach AvenirSuisse geht.»

Wer würde, als neugieriger Beobachter des Weltgeschehens, danach nicht ins Internet gehen und auf avenir-suisse.ch klicken, auf die Website jenes sogenannten Think-Tanks AvenirSuisse, der von der Schweizer Industrie finanziert wird und der die Aufgabe hat, die Gesinnung der Schweizer Politiker und anderer Opinion Leaders in neoliberale Bahnen zu lenken?

Gedacht, getan. Und da findet sich tatsächlich ein Ranking der Schweizer Kantone, geordnet nach dem sogenannten Freiheitsindex, mit dem Aargau zuoberst. Und da kann man denn auch sehen, nach welchen Kriterien dieser Freiheitsindex zusammengestellt wird. Es gibt da «ökonomische Indikatoren» einerseits und «zivile Indikatoren» andererseits. (Schon diese Zweiteilung ist bemerkenswert, da das Gegenteil von «zivil» normalerweise ja «militärisch» ist. Aber es ist schon richtig, die Ökonomie, die Wirtschaft, ist heutzutage ja wirklich schon fast ein Krieg: ein Krieg um die bessere Position im Ranking, ein Krieg um die höhere Produktivität, ein Krieg um die bessere Wettbewerbsfähigkeit, ein Krieg um die höhere Rendite. – Aber lassen wir das.)

Ein Kanton ist umso freier, als…

Schauen wir zuerst einmal die ökonomischen Kriterien der «Freiheit» an. Für den Think-Tank AvenirSuisse ist die Freiheit der Kantone abhängig von der «Steuerausschöpfungsquote», von der «Gesundheit der Kantonsfinanzen», von den «Ladenöffnungszeiten», vom «Alkoholverkaufsgesetz», von der «Steuerbelastung der Durchschnittsfamilie», der «Bewertung kantonaler Monopole», von den «Gastgewerbeauflagen», von der «Regulierungsfolgenabschätzung für KMU», der «Schuldenbremse», der «staatlichen Wohnbauinvestitionen», der «Bonität der Kantone als Schuldner» und von der «Staatsquote».

Oder, einfacher ausgedrückt, ein Kanton ist – drei Beispiele nur – umso «freier», je weniger reguliert die Ladenöffnungszeiten sind, je weniger der Staat in den sozialen Wohnungsbau investiert (weil er damit den freien Markt im Immobilienbereich einschränkt), aber auch – interessant! – je mehr Gesetze es gibt, wonach die Schulden des Staates zu begrenzen sind.

Die Freiheit, rasen zu dürfen…

Besonders interessant aber sind die zivilen Kriterien, als da sind das «Homeschooling», die «freie Schulwahl», die «Nichtraucherschutzgesetze», die «durchschnittliche Dauer zur Baubewilligung», die «Videoüberwachung», das «Vermummungsverbot», das «Alkoholkonsumverbot», die «Häufigkeit fixer Radaranlagen» und die «Kirchensteuer».

Oder, einfacher ausgedrückt, wieder nur drei Beispiele: Ein Kanton ist umso «freier», je weniger Gesetze er zum Schutze der Nichtraucher kennt, je schneller man eine Baubewilligung erhält oder je weniger fixe Radar-Geschwindigkeitskontrollstationen es in diesem Kanton gibt.

Ein Detail: Unter den zivilen Kriterien findet sich auch die «Kirchensteuer». Dazu schreibt AvenirSuisse: «Kirchensteuern für juristische Personen werden im Avenir-Suisse-Freiheitsindex negativ bewertet». Juristische Personen? Gehörte dieser Punkt also nicht auch in die Kategorie der «ökonomischen» Kriterien, also jener Kriterien, die die «Freiheit» der Firmen betreffen?

Welches Kriterium fällt wie stark ins Gewicht?

Leider fehlt auf der Website von AvenirSuisse eine Tabelle, auf der zu sehen ist, welches Kriterium zur Berechnung des Freiheitsindexes wie stark ins Gewicht fällt. Aber es gibt da einen recht kundenfreundlichen Mecano: Man kann nämlich auf der Website von AvenirSuisse individuell einzelne Kriterien ausschalten. Die Berechnung des Freiheitsindexes erfolgt dann ohne diesen Punkt. So kann man wenigstens abschätzen, wie stark ein einzelnes Kriterium ins Gewicht fällt. Der Aargau zum Beispiel, der Kanton mit dem höchsten Freiheitsindex, mit 77 Punkten nämlich von 100 möglichen, fällt um 1 Punkt zurück, wenn man die fixen Radaranlagen zur Messung der Geschwindigkeit auf Strassen und Autobahnen als Kriterium raus nimmt. Im Ranking aber bleibt der Kanton trotzdem auf Platz 1. Nicht so der Kanton Wallis, der im Ranking der 26 Kantone recht weit unten auf Platz 17 steht. Bei Ausschaltung des Kriteriums Anzahl fixe Radarmessanlagen verliert der Kanton Wallis von seinen eher mageren 46 Punkten im Freiheitsindex gleich weitere 5 Punkte und fällt damit von Platz 17 auf Platz 21 zurück. Sprich, der Kanton Wallis ist gemäss AvenirSuisse deutlich «freier» als ein paar andere Kantone, weil er offenbar keine oder fast keine fixen Radaranlagen hat.

(Man muss vielleicht wissen, dass die aargauische Polizei eine ganz spezielle «Philosophie» hat. Sie sagt nämlich, fixe Radaranlagen seien ein Blödsinn, weil man die Standorte dieser Geschwindigkeitsmessanlagen bald einmal kenne und dann dort die Geschwindigkeit senke und den Vorschriften anpasse. Das aber ist nach der «Philosophie» der Aargauer Polizei natürlich nicht das Ziel, man will Sünder erwischen und Bussgelder generieren! Also hat man ausschliesslich mobile Radarstationen im Einsatz. Das macht, man merke, nach AvenirSuisse den Aargau «freier».)

Das Stimmrecht als Kriterium fehlt

Besonders frei ist ein Kanton nach AvenirSuisse zum Beispiel, wenn die Expats, also etwa die US-amerikanischen Konzern-Manager in Zug, ihre Kinder schon gar nicht in die deutschsprachige Schule schicken müssen, sondern sie in eine englischsprachige Privatschule schicken oder sie mit einem englischsprachigen Privatlehrer zu Hause ausbilden lassen dürfen (Homeschooling!). Der Kanton Zug zum Beispiel ist mit Berücksichtigung von Homeschooling und freier Schulwahl auf Platz 11 von 26, ohne diese zwei Punkte aber nur auf Platz 13.

Und besonders frei ist ein Kanton also auch, wenn Giovanni mit seinem Alfa Romeo nachts um 2 Uhr möglichst schnell zu einem Tankstellenshop fahren darf und dort, die Zigarette im Mund, noch zehn Flaschen Bier kaufen kann…

Dumm aber halt, dass die Eltern von Antonella aus Italien eingewandert sind und sie selber immer noch Italienerin ist. Sie muss zwar Steuern zahlen wie alle anderen auch, aber an Abstimmungen darf sie nicht teilnehmen.

Das Stimmrecht ein Kriterium für die Berechnung des Freiheitsindexes?

Im Kanton Jura zum Beispiel und im Kanton Neuenburg haben Ausländer nach ein paar Jahren Wohnsitz bei kantonalen Abstimmungen das Stimmrecht! In mehreren Kantonen dürfen Ausländer bei kommunalen Abstimmungen mitreden, an einigen Orten sogar passiv, sie dürfen selber gewählt werden!

Aber bitte: Das Stimm- und Wahlrecht hat doch nichts mit Freiheit zu tun!

Nein, so behauptet AvenirSuisse das natürlich nicht. Aber die von ihr definierte «Freiheit» bemisst sich ausschliesslich nach der Freiheit der Schweizer, jener mit dem roten Pass. Sie sollen tun und lassen dürfen, was sie wollen. Die Rechte jener, die keinen roten Pass haben, sind kein Kriterium – es sei denn, sie seien besonders wohlhabend – siehe unter «Homeschooling» und «freie Schulwahl»…

Um dies mit einem Beispiel zu illustrieren: Nimmt man beim Kanton Jura, der im Ranking nach AvenirSuisse doch weit oben auf Platz 8 steht, das Homeschooling und die freie Schulwahl als Berechnungskriterium raus, sackt der Kanton um über zehn Positionen ab auf Platz 19! Was wäre, wenn auch die Freiheitsrechte der Einwohner ohne roten Pass ein Kriterium für den Freiheitsindex des Kantons wären? Der Kanton Jura müsste wohl zuoberst auf der Position 1 stehen!

Und was mit der «Freiheit», die Umwelt zu belasten?

Wohl nicht ganz zufällig ist unter den Kriterien der Freiheit nach AvenirSuisse auch nichts zur Umweltbelastung zu finden, obwohl auch dies nicht in allen Kantonen gleich funktioniert. Der Kanton Tessin zum Beispiel kennt noch keine Abfallsäcke, die gekauft werden müssen. Wäre für AvenirSuisse doch eigentlich ein «ziviler» Indikator von mehr «Freiheit»: Man darf so viel Abfall in die Mülltonnen werfen wie man will!

Vor allem aber müsste der Punkt Umweltbelastung bei den ökonomischen Kriterien zu finden sein, die die unternehmerischen «Freiheiten» betreffen. Ein Beispiel: Von 1978 bis 1985 hatte die Industrie die «Freiheit», im Aargau, in einer Grube in Kölliken, jedwelche – auch richtig giftige! – Abfälle zu «deponieren». Nur zwei Jahrzehnte später sah man sich in Folge von Grundwasserverschmutzungen gezwungen, die Sondermülldeponie Kölliken zu sanieren, sprich: die dort versenkten Chemiefässer wieder auszubuddeln und korrekt zu entsorgen (oder sie ins Ausland zu transferieren…). In nur sieben Jahren sind in Kölliken 475’000 Tonnen Sonderabfälle in Fässern, Säcken und auch lose abgelagert worden! Geplante Sanierungskosten: eine halbe Milliarde Franken. Über 90 Prozent dieser Kosten hatte die Öffentliche Hand – sprich: der Steuerzahler – zu übernehmen, nur gerade 8 Prozent die Basler Chemie. Zwischenzeitlich kostet die ganze, noch nicht abgeschlossene Geschichte allerdings bereits 900 Millionen Franken! Und der Anteil der Kostenübernahme durch die Öffentliche Hand ist noch grösser geworden.

Die Freiheit ein Luxus?

Karl Marx sagte einmal: «Freiheit ist ein Luxus, den sich nicht jedermann leisten kann.» Kann Freiheit denn kosten? Ja, und wie, wie das Beispiel Sondermülldeponie Kölliken zeigt! Nur zahlt hinterher eben nicht immer derjenige, der die «Freiheit» für sich beansprucht hatte – das Beispiel Kölliken spricht Bände.

Ob es ein Grund zur Freude ist, wenn der Aargau punkto Freiheit bei diesen Kriterien auf Platz 1 des Rankings steht?

Das Thema Freiheit bleibt interessant. Wir bleiben dran. Auch bei AvenirSuisse.


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine

Zum Infosperber-Dossier:

Gerhard_Schwarz_Portrait

Der ordoliberale Gerhard Schwarz

«Ordoliberale Prinzipientreue» propagierte Schwarz jahrelang in der NZZ und bis März 2016 bei Avenir Suisse

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2 Meinungen

  • am 5.01.2016 um 16:40 Uhr
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    Sehr guter Artikel. Das seit den 80er Jahren – «Mehr Freiheit – weniger Staat» – immer einseitigere Freiheitsverständnis des Mainstreams schreit ja wirklich zum Himmel. Gut, dass man beim Lesen oft schmunzeln kann, obwohl einem das Schmunzeln halt im Hals stecken bleibt. Merci.

  • am 5.01.2016 um 16:42 Uhr
    Permalink

    Sehr guter beitrag. Ich darf aber darauf hinweisen dass das Tessin sehr wohl abfallsaecke kennt, die man bei den jeweiligen gemeinden kaufen muss zu etwa fr.1.30 das stueck. Eine ausnahme macht bisher noch die stadt Lugano, die aber in allen quartieren sowohl kontrollierte sammelstellen fuer getrennten abfall, rezyklierbare gueter und sperrgut bietet. Fuer die hausabfaelle stehen zahlreiche versenkte grosscontainer zur verfuegung. Es kann keine rede davon sein, dass man „soviel abfall in die muelltonnen werfen kann, wie man will“.

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