Kommentar

Bondo-Urteil: 6 Gründe für den Gang ans Bundesgericht

Kurt Marti © Christian Schnur

Kurt Marti /  Im Fall Bondo stehen die Chancen gut, wenn die Angehörigen der Opfer Beschwerde beim Bundesgericht einreichen.

Der Bergsturz von Bondo forderte am 23. August 2017 acht Menschenleben. Laut dem Urteil des Bündner Kantonsgerichts vom 16. Januar 2020 trägt dafür niemand die Verantwortung. Die Begründung: «Es handelte sich um ein aussergewöhnliches und sehr seltenes Ereignis, welches jenseits dessen lag, was hinreichend zuverlässig vorausgesagt werden konnte. Die Voraussetzungen der Voraussehbarkeit waren damit nicht gegeben».

Damit wies das Kantonsgericht die Beschwerde der Angehörigen der Opfer gegen die Einstellung der Strafuntersuchung durch die Staatsanwaltschaft ab (Bergsturz von Bondo: Irrwege der Staatsanwaltschaft). In der Urteils-Begründung übernahm das Bündner Kantonsgericht die Argumentation der Staatsanwaltschaft, welche sich ihrerseits auf die Argumentation zweier Expertengruppen stützte.

Ob die Angehörigen der Opfer Beschwerde beim Bundesgericht einreichen, ist noch nicht bekannt. Die folgenden sechs Gründe zeigen, dass die Chancen vor dem obersten Schweizer Gericht gut stehen:

1. Gegen das Prinzip «Im Zweifel für die Anklageerhebung»

Für die Einstellung eines Verfahrens durch die Staatsanwaltschaft gilt der Grundsatz «In dubio pro duriore» (im Zweifel für die Anklageerhebung). Wenn Zweifel bestehen, dann hat eine Anklage zu erfolgen. Nicht ein Staatsanwalt alleine, sondern ein Richtergremium soll den Fall beurteilen. Im vorliegenden Fall Bondo – in dem es nota bene um den Tod von acht Menschen geht – gibt es erhebliche Zweifel. Das geht aus den folgenden Einschätzungen hervor, die von der Staatsanwaltschaft beziehungsweise vom Kantonsgericht selber stammen:

Kantonsgericht: «Die Experten skizzierten als worst case den Absturz von mehreren Millionen Kubikmetern innert Wochen oder Monaten. Genauso wahrscheinlich war zu diesem Zeitpunkt aber auch, dass der Berg sich wieder ‘beruhigt’ und weiterhin Sturzaktivitäten im bisherigen, kleineren Umfang zu verzeichnen gewesen wären.»

Damit bestätigt das Kantonsgericht, dass der Bergsturz, wie er sich de facto ereignet hat, genauso wahrscheinlich war wie eine Beruhigung des Berges. Was aber wahrscheinlich ist, mit dem muss man im Sinne des Vorsorgeprinzips rechnen. Womit man aber rechnen muss, das ist voraussehbar.

Staatsanwaltschaft: «Zur Beurteilung der Voraussehbarkeit des Bergsturzes vom 23. August 2017 muss die Zeitspanne ab 10. August 2017 näher betrachtet werden. Dabei wurden beruhigende und verschärfende Faktoren berücksichtigt.»

Wenn nur beruhigende Faktoren vorgelegen hätten, gäbe es tatsächlich keine Zweifel. Doch dem ist nicht so, wie die Staatsanwaltschaft selber festhält. Es gab vor dem Bergsturz auch verschärfende Faktoren. Trotzdem wurden die beruhigenden Faktoren höher gewertet, so dass das Bondasca-Tal nicht ganz gesperrt wurde.

Kantonsgericht: «Es kann nämlich nicht gesagt werden, dass sich Gesteinsverschiebungen – sind sie einmal eingetreten – nur noch beschleunigen können; vielmehr können sich Verschiebungen auch wieder verlangsamen. Die Zunahme der Gesteinsverschiebungen führt demzufolge nicht zwingend zu einem zeitnahen Bergsturz, weshalb darin kein Anzeichen für ein unmittelbar bevorstehendes Ereignis gesehen werden kann.»

Laut Kantonsgericht können sich die einmal eingetretenen Gesteinsverschiebungen «auch wieder verlangsamen». Daraus folgt logischerweise, dass sie sich entweder wieder verlangsamen oder weiter beschleunigen können. Folglich mussten die Experten im Sinne des Vorsorgeprinzips und auf Grund der Radarmessungen, die zwei Wochen vor dem Bergsturz eine deutliche Beschleunigung um den Faktor 2,5 bis 3 zeigten, auch mit der Möglichkeit rechnen, dass sich die Gesteinsverschiebungen weiter beschleunigen.

Doch das Kantonsgericht entscheidet sich selektiv für die Möglichkeit, dass sich die Gesteinsverschiebungen wieder verlangsamen und zieht daraus den Schluss, dass die Zunahme der Gesteinsverschiebungen «nicht zwingend zu einem zeitnahen Bergsturz» führe, weshalb darin «kein Anzeichen für ein unmittelbar bevorstehendes Ereignis gesehen werden» könne.

Damit schliesst das Kantonsgericht die Möglichkeit aus, dass die Gesteinsverschiebungen sich weiter beschleunigen und zu einem unmittelbaren Bergsturz führen können. Im Widerspruch zu seiner impliziten Annahme, dass beide Entwicklungen möglich seien.

Fazit: Diese drei Beispiele zeigen, dass im Fall Bondo grosse Zweifel bestehen. Es ist deshalb die Aufgabe der Justiz, die Behauptungen der Experten zu prüfen anstatt deren Sicht kritiklos zu übernehmen. In diesem Sinne ist eine Anklageerhebung zwingend.

2. Das passende Bundesgerichts-Urteil nicht erwähnt

Wer vor dem Bundesgericht bestehen will, tut gut daran, alle früheren Urteile in gleichen oder ähnlichen Fällen zu studieren. Das Kantonsgericht pickte einseitig ein Bundesgerichts-Urteil zu einem Todesfall am Open-Air Frauenfeld heraus, das zuvor auch die Staatsanwaltschaft verwendete, um die These der Unvorhersehbarkeit zu stützen.

Doch dieses Urteil ist für den vorliegenden Fall Bondo nur beschränkt anwendbar, weil es sich dabei laut Bundesgericht um eine «äusserst unglückliche Verkettung von Umständen» handelte, die so «nicht voraussehbar waren».

Exakt auf den Fall Bondo zugeschnitten ist hingegen ein anderes Urteil des Bundesgerichts, das vom Kantonsgericht nicht erwähnt wird, obwohl es im oben genannten Urteil des Bundesgerichts aufgeführt ist. Darin stützte das Bundesgericht die Verurteilung eines Ballon-Betreibers wegen fahrlässiger Tötung. Trotz der meteorologischen Ankündigung eines Gewitters wurde der Fessel-Ballon (mit einer Leine mit dem Boden verbunden) um 14.00 Uhr in die Höhe gelassen. Um 14.32 Uhr stürzte der Ballon wegen des angekündigten Gewitters ab. Eine Person kam ums Leben.

Das Bundesgericht begründete sein Urteil wie folgt: «Aus dem Umstand, dass der Himmel um 14.00 Uhr noch blau war, durfte er (der Ballon-Betreiber; Anm. d. Red.) keineswegs darauf vertrauen, dass eine halbe Stunde später (noch) kein Gewitter drohen würde.» Das nahende Gewitter sei für den Ballon-Betreiber aufgrund «des von ihm bei Arbeitsbeginn eingeholten Wetterberichts und der feststellbaren und festgestellten Wetterentwicklung erkennbar» gewesen. Ein Ereignis müsse nicht im Detail vorausgesehen werden, sondern es reiche, dass «die zum Erfolg führenden Geschehensabläufe (…) mindestens in ihren wesentlichen Zügen voraussehbar» seien.

Diese Argumentation des Bundesgerichts lässt sich auch auf den Fall Bondo anwenden: Obwohl es laut den Experten in den Tagen vor dem grossen Bergsturz «keine unmittelbaren Anzeichen gab, die auf den Bergsturz hindeuteten», war der Bergsturz dennoch in absehbarer Zukunft erkennbar, das heisst voraussehbar. Dies beweisen die Aussagen der Experten, die mit einem Bergsturz «in den nächsten Wochen und Monaten» rechneten.

3. Die neusten wissenschaftlichen Studien ignoriert

Im Urteil des Kantonsgericht sucht man vergeblich nach der neusten wissenschaftlichen Studie der ETH Zürich sowie der Universitäten Fribourg und Aachen (siehe Infosperber: Bergsturz von Bondo: Fokussierung auf die Felswand reicht nicht). Kein Wunder, denn diese hätte die Verteidigungsrede des Kantonsgerichts für die Experten in Frage gestellt. Laut der Studie fokussierten die Experten vor dem Bergsturz vom August 2017 «nur» auf die Felswand des Piz Cengalo. Aber laut der Studie «reicht das nicht, um die potentielle Gefahrenkette hangabwärts vollständig zu erfassen, wie das Ereignis am Pizzo Cengalo 2017 gezeigt hat».

Doch damit nicht genug. Auch von einer weiteren Studie nimmt das Kantonsgericht keine Notiz: Diese Studie hat das nachgeholt, was die Experten vor dem Bergsturz aus unerfindlichen Gründen nicht vorgenommen hatten, nämlich die naheliegende Kopplung von Bergsturz und Murgang. Die entsprechenden Modellrechnungen stehen im neusten Heft des Schweizerischen Wasserwirtschaftsverbandes. Diese Modellrechnungen zeigen «generell eine sehr gute Übereinstimmung mit den Beobachtungen», also mit dem Verlauf des Bergsturzes und des anschliessenden Murgangs. Mit dem Modell lässt sich also der Murgang als Folge des Bergsturzes simulieren.

Hätten also die Experten vor dem Bergsturz von 2017 den Sturzraum mit den wassergesättigten Sedimenten in ihre Modelle einbezogen, hätten sie mit dem Murgang als Folge des Bergsturzes rechnen können und folglich das ganze Tal für alle Personen sperren müssen.

4. Sperrung des Tals war auch ohne Bergsturz notwendig

Das Kantonsgericht blendet in seinem Urteil einen weiteren, wichtigen Aspekt aus: Das Bondasca-Tal samt den Wanderwegen hätte nicht nur wegen der Bergsturzgefahr gesperrt werden müssen, sondern auch wegen der Gefahr eines Murgangs ohne Bergsturz. Denn die Verantwortlichen mussten aufgrund der Fakten mit einem Murgang bis nach Bondo rechnen. Schon im Sommer 2012 hatte es insgesamt vier Murgänge gegeben, einer davon gelangte bis nach Bondo. Kommt hinzu: Im Bondasca-Tal waren im Hochsommer 2017 die beiden Zutaten für einen Murgang im Überfluss vorhanden: Material und Wasser.

Doch die Verantwortlichen mussten nicht nur mit einem Murgang rechnen, sondern sie haben tatsächlich mit einem Murgang bis nach Bondo gerechnet, sonst hätte man kein Warnsystem einrichten und kein millionenteures Rückhaltebecken bauen müssen, mit dem das Dorf vor einem Murgang geschützt werden sollte.

5. Verharmlosung durch einen zweifelhaften Vergleich

Zur Begründung seines Urteils schreckt das Kantonsgericht auch nicht vor einem zweifelhaften Vergleich zurück: Gesteinsverschiebungen wie am Piz Cengalo würden «in beliebiger Häufigkeit vorkommen, ohne dass sie zwangsläufig zu einem Bergsturz führen müssen». Ein Hang mit einer Neigung ab 20-25 Grad werde «als potentiell rutschgefährdet angesehen». Folglich seien in der Schweiz «rund 8% der natürlichen Flächen instabile Hänge. In Graubünden als Gebirgskanton dürfte dieser Anteil deutlich höher sein.»

Mit diesem Vergleich verharmlost das Kantonsgericht die Situation am Piz Cengalo und im Bondasca-Tal. Es vergleicht einen Berg und ein Tal, wo sich in den letzten zehn Jahren mehrere Bergstürze und Murgänge ereignet haben, mit grossen Gebieten des Kantons Graubünden. Mit solchen saloppen Vergleichen stellt sich das Kantonsgericht selber ins argumentative Abseits.

6. Herabsetzung der Angehörigen der Opfer als Laien

Es ist auffällig, wie das Kantonsgericht die Argumentation der Angehörigen der Opfer als laienhaft herabstuft und gleichzeitig die Expertenmeinung lobt. Laut Kantonsgericht ist die Aussagekraft der Experten «umso höher, als eine ganze Reihe von Experten mitgewirkt» habe. Vor diesem Hintergrund vermöge «es jedenfalls nicht zu genügen, die Erkenntnisse der Experten dadurch umstossen zu wollen, dass die eigene Sichtweise gegenübergestellt» werde. Selbst der Anwalt der Beschwerdeführer gestehe denn auch ein, dass er in dieser Hinsicht ein «Laie» sei. Die Angehörigen der Opfer würden der Einschätzung der Experten «ihre eigenen Mutmassungen» gegenüberstellen, was «bereits in prinzipieller Hinsicht kaum zu überzeugen» vermöge.

Diese Abwertung der Argumente der Angehörigen der Opfer bei gleichzeitiger Anbetung der Expertenmeinung ist Ausdruck der argumentativen Unsicherheit des Urteils des Kantonsgerichts. Wer so vom hohen Ross der Justiz über die Angehörigen der Opfer urteilt, der hat es verdient, dass seine Urteile vom Bundesgericht unter die Lupe genommen werden. Es ist zu hoffen, dass die Angehörigen der Opfer den Fall vors Bundesgericht ziehen. Denn die Chancen stehen gut.


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3 Meinungen

  • am 6.02.2020 um 12:34 Uhr
    Permalink

    Hier wird meiner Ansicht nach ein Grundproblem des Expertenwesens sichtbar, dass es nämlich auch innerhalb naturwissenschaftlich ausgerichteter Fachgebiete unterschiedliche Expertenpositionen gibt und dass das es selbst für eine Fachperson sehr, sehr schwer ist, den Überblick über das aktuelle, sich zum Teil widersprechende, ‚Wissen‘ zu behalten. Und RichterInnen als Fachpersonen des Rechts sind ganz gewiss überfordert, Meinungen von wenigen Experten zu einem gerechten Urteil zu verarbeiten. Vielleicht könnte hier eine Art Peer-Review von Expertenberichten, bei welchen eine grössere Anzahl von Fachpersonen je eine kurze Beurteilung oder Bewertung der Expertisen vornimmt. Expertisen, die dabei unter einem definierten Qualitätslevel blieben, wären zu verbessern, zu ergänzen oder zu ersetzen. Gewiss Mehraufwand, aber der Gerechtigkeit zuliebe sollte eigentlich fast kein Aufwand zu gross sein,.

  • am 6.02.2020 um 20:44 Uhr
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    Hoffe, dieser Artikel wird von Infosperber auch den Angehörigen zugestellt

  • am 22.02.2020 um 17:20 Uhr
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    Danke für diese Berichterstattung! Und ja, die Angehörigen werden (zumindest von einigen weiß ich es sicher) weiter vor das Bundesgericht ziehen, ich bin eine von ihnen!

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