BonvinSchnitter

ETH-Professor Gerold Schnitter und CVP-Bundesrat Roger Bonvin legten die falsche Fährte © sf/dodis

Mattmark-Prozess (1972): Ein Fehlurteil mit Ansage

Kurt Marti /  Die Mattmark-Katastrophe forderte 88 Tote. Die Walliser Justiz sprach alle Angeklagten frei. Zu Unrecht wie eine Expertise zeigt.

Am 30. August 2015 jährt sich die Mattmark-Katastrophe zum 50. Mal: Am 30. August 1965 um 17.20 Uhr hatte sich eine Eislawine vom Allalingletscher zuhinterst im Walliser Saastal gelöst und war auf die Baracken, Installationen und Arbeitsplätze niedergegangen, die für den Bau des Mattmark-Staudammes direkt in der Falllinie des Gletschers eingerichtet wurden. 88 Bauarbeiter – darunter 56 Italiener – fanden den Tod.

Das Barackenlager lag direkt in der Falllinie des Gletschers

Sieben Jahre später wurden alle 17 Angeklagten durch die Walliser Justiz freigesprochen, darunter die Verantwortlichen der Elektrowatt AG, der Baufirmen, der Suva und des Kantons Wallis. Ein Fehlurteil, wie der folgende Beitrag auf der Grundlage des internationalen Expertenberichts (1967) zeigt, den die Walliser Justiz wohlweislich bis zum Jahr 2022 unter Verschluss hält.

Bundesrat Bonvin und ETH-Professor Schnitter spurten vor

Schon wenige Tage nach der Mattmark-Katastrophe legten der Walliser CVP-Bundesrat Roger Bonvin und der ETH-Professor Gerold Schnitter die entscheidende Spur für den siebenjährigen Prozess der Walliser Justiz. Bundesrat Bonvin erklärte vor den Medien:

«Kein Mensch hat erwartet, dass sich ein derartiger Gletscherabbruch ereignen könnte.»

In dasselbe Horn wie Bonvin blies der ETH-Professor Gerold Schnitter gegenüber dem Schweizer Fernsehen (ab 1.30):

«Kein einziger Mensch hat je die geringste, aber auch nur die geringste Andeutung gemacht, es könnte einmal am Allalingletscher oben etwas passieren.»

Diese Behauptung verdichtete sich schliesslich zu einem Dogma, an dem sich die Angeklagten, die Verteidiger und vor allem die Walliser Justiz orientierten: Niemand hat subjektiv an eine solche Katastrophe gedacht und der Gletscherabbruch konnte auch nicht objektiv, also wissenschaftlich, vorausgesagt werden.

Doch Bonvin und Schnitter waren keineswegs neutrale Beobachter: Bonvin arbeitete in der Anfangsphase der Mattmark-Planung als Ingenieur der bauführenden Elektrowatt AG. Er hatte Kenntnis von einem Gletscherabbruch, der im Jahr 1949 bis in den Talboden vorstiess. Schnitter war der Experte des Bundes für die Begutachtung des Mattmark-Projektes und hatte den Auftrag, «eine Bauausführung zu garantieren, die die erforderliche Sicherheit aufweist». Der Chef der Versuchsanstalt für Wasserbau und Erdbau an der ETH (VAWE) war zudem als ständiger Experte der Elektrowatt tätig und in den 40er Jahren Direktor der Firma Swissboring, die am Bau des Mattmark-Staudammes massgeblich beteiligt war. Professor Schnitter befand sich also in einem Interessenkonflikt und hätte nicht als neutraler Gutachter auftreten dürfen.

Keine prophetischen Fähigkeiten notwendig

Die drei erstinstanzlichen Richter des Kreisgerichts Visp versuchten in der 82-seitigen Urteilsbegründung das Bonvin-Schnitter-Dogma der Unwissenheit und der Unvorhersehbarkeit zu beweisen. Dabei wehrten sie – mit teilweise haarsträubender Akrobatik – alle Argumente ab, die gegen das Dogma sprachen und folglich gegen die Angeklagten. Das Urteil war ein perfektes Plädoyer für die Angeklagten.

Am Anfang des Urteils erklärten die Richter, dass sie theoretisch durchaus wussten, in welche Richtung sie hätten gehen müssen:

«Umsichtig handelt, wer mit der nach den Umständen und den persönlichen Verhältnissen gebotenen Sorgfalt nach Anhaltspunkten für eine mögliche Gefahr sucht. Findet er dabei Anhaltspunkte für eine mögliche Gefahr, ist die Vorhersagbarkeit gegeben.»

Die Vorhersehbarkeit ist also schon dann gegeben, wenn Anhaltspunkte für eine mögliche Gefahr vorliegen. Ob der konkrete Gletscherabbruch des Jahres 1965 subjektiv und objektiv vorhergesehen wurde, ist dafür nicht notwendig und ist tatsächlich über Jahre hinaus auch nicht möglich. Es sei denn, jemand hätte prophetische Fähigkeiten, was wir in diesem Fall nicht annehmen wollen.

Walliser Richter folgten treu der falschen Spur

Die Richter verloren die entscheidende Frage bezüglich der Verletzung der Sorgfaltspflicht und der fahrlässigen Tötung völlig aus den Augen und folgten konsequent der falschen Fährte von Bonvin und Schnitter. Der damalige CVP-Bundesrat und frühere EW-Ingenieur Bonvin genoss ohnehin politische und moralische Immunität. Statt der Frage nachzugehen, ob die einzelnen Angeklagten konkret nach Anhaltspunkten für eine mögliche Gefahr gesucht haben beziehungsweise, ob sie Hinweise dazu ignorierten, versuchte das Kreisgericht Visp generell das Bonvin-Schnitter-Dogma und damit die Schutzbehauptungen der Angeklagten zu beweisen, ohne dabei auf die unterschiedliche Verantwortlichkeit der Angeklagten einzugehen.

Dabei stützten sich die Richter auf den internationalen Expertenbericht, der durch seine Widersprüchlichkeit auffällt und der im Grunde aus zwei unterschiedlichen Berichten besteht: Einem wissenschaftlich begründeten und einem dogmatischen Teil. Der wissenschaftliche Teil liefert unzählige belastende Fakten, die gegen die Angeklagten sprechen. Der dogmatische Teil hingegen verfolgt konsequent die Fährte von Bonvin und Schnitter. Letzteres ist nicht erstaunlich, denn bei der Wahl der drei internationalen Experten hatten auch die Walliser CVP und die Schweizer Experten die Hände im Spiel. Das geht aus dem Protokoll der Bundesratsitzung vom 1. Oktober 1965 (Seiten 6 und 7) hervor, wo es heisst: «Herr Bonvin erklärt, dass man den Gerichtspräsidenten auf die Gefahr, die mit der Bestellung ausländischer Experten verbunden ist, aufmerksam gemacht habe. Wenn man einen Ausländer zuziehe, müsse dieser auch von den Schweizer Experten anerkannt werden. Der Sprechende will sich noch näher im Wallis erkundigen.»

Keine Expertise, keine Messungen, kein Alarm-System

Für die Urteilsbegründung war es zentral, dass einer der drei ausländischen Experten immer wieder das Bonvin-Schnitter-Dogma der Unvorhersehbarkeit in den Bericht einstreute. Die Widersprüchlichkeit des Expertenberichts nützten die Walliser Richter für den Freispruch aller Angeklagten, indem sie rein selektiv die entlastenden Passagen heranzogen und alle Fakten ausblendeten beziehungsweise zu widerlegen suchten, welche gegen die Angeklagten sprachen. Groteskerweise findet man im Urteil kein einziges, kritisches Wort gegen die Angeklagten, während alle Hinweise, die das Bonvin-Schnitter-Dogma gefährden konnten, mit grossem Eifer bekämpft werden.

Fakt ist:

  • Es gab keine spezielle Expertise zur Sicherheit des Bauplatzes und der Baracken in Bezug auf Eislawinen des Allalingletschers. Die ETH-Glaziologen untersuchten den Gletscher nur im Hinblick auf den Staudamm, der im Gegensatz zu den Baracken nicht in der Falllinie des Gletschers lag.
  • Es gab auch keine Messungen am Allalingletscher in Bezug auf die Sicherheit der Baracken, insbesondere gab es keine photogrammetrischen Messungen.
  • Es wurde kein Warn-System installiert, um die Arbeiter vor einem Eisabbruch rechtzeitig zu warnen. Ein solches wurde erst nach der Katastrophe installiert, um die Rettungsarbeiten zu sichern.

Alle diese Massnahmen wurden unterlassen, obwohl laut dem Expertenbericht zahlreiche Hinweise und Verdachtsmomente zur Gefährlichkeit des Gletschers vorlagen und obwohl der Expertenbericht festhält:

«Ein Alarm hätte noch wenige Minuten, ja selbst eine Minute vor der Katastrophe, noch viel Unglück verhindern können».

Deshalb stellt sich die brennende Frage: Wie schafften die Walliser Richter das juristische Kunststück, alle 17 Angeklagten trotzdem freizusprechen?

Selektive Verwendung des Expertenberichts

Die Widersprüchlichkeit des Expertenberichts und die selektive Auswahl durch die Richter spielten einander optimal in die Hand, wie die beiden folgenden Beispiele zeigen:

1. Beispiel: Der Gletscherabbruch von 1949

Im Jahr 1949, also fünf Jahre vor Beginn der Planungsarbeiten, war eine Eislawine vom Allalingletscher bis an den Rand des Talbodens vorgestossen und bloss hundert Meter vom Standort der späteren Unglücksbaracken stehengeblieben. Im kritischen Teil des Expertenberichts steht dazu:

«Die Frage, inwieweit die Befassung mit dem Allalingletscher selbst einen Verdacht hätte aufkommen lassen müssen, ist in wesentlichen Punkten zu bejahen.»

«Man hätte doch wohl damit rechnen müssen, dass sich dort, wo vor wenigen Jahren eine Lawine bis an den Rand des Talbodens gegangen war, ein solches Ereignis, möglicherweise sogar in verstärktem Ausmaß, wiederholen könnte».

«Denn der Gedanke war naheliegend, dass, wenn eine Eislawine den Fuss der Böschung erreicht hätte, sich auch eine Eislawine grösseren Ausmasses ereignen könnte.»

Einen Satz später mischt sich die gegenteilige Meinung mit einer haarsträubenden, völlig unlogischen Folgerung in den Bericht:

«Andererseits kann man sich vorstellen, dass die Erinnerung an diese Eislawine von 1949 auf viele Gemüter nicht beunruhigend, sondern eher beruhigend gewirkt hat, da man an ihr feststellen konnte, dass selbst ein Absturz sehr grosser Eismassen den Talboden nur am Rande erreicht.»

Die Richter blendeten die erste Variante völlig aus, welche die Angeklagten belastete, und folgerten auf Grund der beruhigenden 2. Variante:

«Gerade die Bilder aus dem Jahre 1949 zeigten aber, dass auch grössere Abbrüche keine Gefahr für das Barackenlager bedeuteten».

2. Beispiel: Das Gleichgewicht des Gletschers

Einerseits hält der Expertenbericht fest:

«Wenn man diese Entsprechungen genauer studiert, muss man gestehen, dass es eine Illusion wäre anzunehmen, dass der Allalingletscher während der letzten zehn Jahre ein neues Gleichgewicht gefunden habe.»

Daraus folgt, dass der Gletscher als gefährlich anzusehen war. Nur zwei Seiten vorher vertritt der Expertenbericht die gegenteilige Auffassung:

«Von 1954 bis 1964 pendelte die Stirn regelmäßig um eine neue Lage, sodass man guten Grund haben konnte, zu glauben, der Gletscher habe wieder eine neue Gleichgewichtslage gefunden.»

Die Richter erwähnten selektiv nur die zweite Einschätzung, und folgerten, dass der Gletscher «nach allgemeiner Auffassung nicht als gefährlich» gegolten habe.

Gericht übernimmt Verteidigung der Angeklagten

Zu den Hauptverantwortlichen zählten die beiden Elektrowatt-Chefingenieure Olivier Rambert und Alexandre Verrey. Gegen sie steht im Urteil kein einziges kritisches Wort, obwohl im Expertenbericht die belastenden Fakten zahlreich sind. Stattdessen übernimmt das Gericht deren Verteidigung. Insgesamt 12 von 82 Seiten wenden sie dafür auf, die Kritik des Basler Geografieprofessors Hans Annaheim gegen Verrey abzuwehren und damit Verreys Schutzbehauptung zu beweisen. Annaheim behauptete, er habe Verrey auf die Gefahr des Gletschers hingewiesen, was dieser konsequent abstritt. Die Richter versuchten mit aussergewöhnlicher Hartnäckigkeit die Schutzbehauptung Verreys zu beweisen und damit auch das Bonvin-Schnitter Dogma zu stützen.

Andererseits blendeten die Richter wichtige, belastende Fakten des Expertenberichts gegen die verantwortlichen Elektrowatt-Ingenieure einfach aus. In einem Brief vom 29. November 1954 an die Elektrowatt schreiben die beiden ETH-Professoren Gerold Schnitter und Peter Kasser: «Im Falle eines Vorstoßes des Allalingletschers würde vorerst die Eislawinentätigkeit aktiviert und dadurch voraussichtlich ein kleiner regenerierter Gletscher gebildet». Der Expertenbericht folgert daraus: «Unglücklicherweise bewahrheitete sich die Aussage dieses Briefes. Der Eissturz vom 30. August 1965 war eine Eislawine, welche zur Formung eines Regenerationsgletschers führte.»

Messungen wurden gefordert, aber nicht ausgeführt

Schnitter und Kasser hatten also die Elektrowatt-Ingenieure vor der Gefahr des Gletschers gewarnt. Damit hatten die EW-Ingenieure eindeutige Anhaltspunkte für die mögliche Gefahr. Doch sie trafen keine Massnahmen und ETH-Professor Schnitter insistierte nicht, obwohl er den Auftrag des Bundes hatte, «eine Bauausführung zu garantieren, die die erforderliche Sicherheit aufweist».

Doch damit nicht genug: Der ETH-Glaziologe Kasser hatte anlässlich einer Sitzung vom 16. März 1955 mit den Elektrowatt-Verantwortlichen photogrammetrische Messungen verlangt. Die EW-Ingenieure Rambert und Verrey kamen der Aufforderung von Kasser nicht nach. Die ETH-Professoren Schnitter und Kasser, die die Gefahr offensichtlich sahen, insistierten nicht weiter. Im Urteil werden Rambert und Verrey nicht mit der folgenschweren Unterlassung der Messungen konfrontiert. Und auch die beiden ETH-Professoren genossen den Schutz der Walliser Justiz: Die Urteilsbegründung gipfelt im Satz, Schnitter und Kasser hätten «beteuert, dass sie im Gletscher keine Gefahr gesehen hätten, ansonsten sie bestimmt davor gewarnt hätten». Schnitter und Kasser sprachen sich gleich selber von jeglicher Schuld frei und die Richter übernahmen deren billige Schutzbehauptungen für bare Münze.

Die internationalen Experten wundern sich über Schnitter und Kasser

Im oben erwähnten TV-Interview hatte Schnitter irreführend behauptet, dass es Messungen gegeben hatte: «Aus allen diesen Messungen, die jetzt doch auf viele Jahre zurückgehen, hat man in gar keiner Weise irgendwie auf ein plötzliches Abbrechen von einem Teil des Gletschers schliessen können.» Auf diesen Widerspruch ging das Gericht mit keinem Wort ein.

Es ist höchst erstaunlich, dass Schnitter und Kasser nicht auf der Anklagebank sassen und dass die Richter die beiden zudem durch dick und dünn verteidigten. Die internationalen Experten hingegen wunderten sich über das Verhalten von Schnitter und Kasser bezüglich dem Gletscherabbruch von 1949: «Es ist allerdings ein wenig überraschend, dass in dem Brief vom 29. November 1954 (an die Elektrowatt, Anm. d. R.) auf die Eislawine nicht viel ausdrücklicher aufmerksam gemacht worden war». Schnitter und Kasser hatten folglich Kenntnis vom Gletscherabbruch von 1949 und teilten dies auch den Elektrowatt-Verantwortlichen mit, insbesondere den Chef-Ingenieuren Rambert und Verrey. Zudem gab Verrey laut Verhörprotokoll zu, vom Gletscherabbruch von 1949 gewusst zu haben. Die Richter kommen trotzdem zum Schluss: «Es ist somit bewiesen, dass von diesem Abbruch weder die einheimische Bevölkerung noch die Angeklagten irgendwelche Kenntnis hatten.»

Richter blenden belastende Hinweise aus

Wenn aber die Angeklagten in der Logik der Richter tatsächlich keine Kenntnis vom Gletscherabbruch hatten, dann war dies ein klares Indiz dafür, dass sie nicht nach Anhaltspunkten für die Gefahr gesucht hatten. Hätten sie nach Anhaltspunkten gesucht, dann mussten sie auf die einschlägigen Hinweise stossen:

  • Beispielsweise auf einen Bericht der Eidgenössischen Gletscherkommission, die im Jahre 1950 mit Besorgnis den enormen Rückgang des Allalingletschers im Jahr 1948/49 erwähnte und folgerte: «Es handelt sich hier um dasselbe Phänomen, welches am 11. August 1949 den fürchterlichen Gletschersturz von Tour verursacht hat, welcher zehn Menschen das Leben kostete.»
  • Oder auf die Warnung des Lausanner Geologieprofessor Nicolas Oulianoff im Jahr 1954: «Da die meisten Gletscher der Schweizer Alpen zurückweichen, verstärken sich die Möglichkeiten eines Bruchs in der Kontinuität der Eisdecken. Dadurch drohen sich die Fälle von Eisabstürzen zu vermehren. Eine Kontrolle gewisser Gletscher wird deshalb unausweichlich, um mögliche Katastrophen zu vermeiden.» Weil sich die Dicke des Allalingletschers verringere, dürfe man «unter einem solchen Damoklesschwert nicht bauen.»
  • Oder die Warnung des EW-Ingenieurs Louis Wuilloud in einem internen Bericht der Elektrowatt vom 27. Februar 1962: «Der Vorstoss des Allalin-Gletscher im Jahr 1961 ist bedeutend. Seriöse und regelmässige Messungen müssen gemacht werden, weil die Gefahr für die darunterliegenden Baustellen gross werden könnte.»

Erneut blendeten die Richter belastende Hinweise aus, obwohl sie davon aus dem Expertenbericht und aus der Anklageschrift des Staatsanwaltes Kenntnis hatten. Stattdessen nahm das Gericht die Schutzbehauptungen der Angeklagten kritiklos und dankbar auf, um das Bonvin-Schnitter-Dogma zu stützen.

Spektakuläre Spitzkehre der Elektrowatt-Ingenieure

Ein weiterer Hinweis für die Fraglichkeit der Schutzbehauptungen von Rambert und Verrey sind ihre Aussagen in der ersten Befragung. Laut dem Expertenbericht waren sie zuerst der Meinung, «dass ‚Kontrollen‘ des Gletschers von der Bauleitung täglich vorgenommen wurden». Das heisst, sie waren sich der Gefahr des Gletschers bewusst.

Erst als das Dogma der Unwissenheit und der Unvorhersehbarkeit allmählich zu wirken begann, machten sie eine Spitzkehre. Plötzlich hatten sie nie den geringsten Zweifel an der Sicherheit der Baracken und des Installationsplatzes direkt in der Falllinie des Gletschers. Dazu Rambert: «Der ganze Dammbau wäre unmöglich gewesen, wenn der geringste Zweifel über einen Gletscherabsturz bestanden hätte.» Und Verrey: «Hätte man mit dieser Gefahr rechnen müssen, kann ich mir nicht vorstellen, wie man die Baustelle organisiert hätte.» Auch diese Aussagen aus dem Expertenbericht fehlen im Urteil, insbesondere die brisante Frage: Haben die Elektrowatt-Ingenieure ihre Zweifel einfach verdrängt, um das Mattmark-Projekt nicht zu gefährden?

Fast alle Warnungen stammten von den Arbeitern

Der Expertenbericht hätte genügend Fakten geboten, um die Verantwortlichen zu verurteilen. Das bringt die Schlussfolgerung des Berichts auf den Punkt: «Es wäre logisch gewesen, in einem solchen Falle zumindest einen Zweifel offen zu lassen und Untersuchungen durchzuführen.» Stattdessen wollten die Verantwortlichen die Gefahr nicht gesehen haben und die Richter glaubten ihnen: «So kann denn abschliessend festgestellt werden, dass die Angeklagten von keiner Seite in irgendeiner Form gewarnt wurden und dass sie auch keine Anhaltspunkte für das drohende Unheil hatten.»

Auch dafür hat der Expertenbericht eine entlarvende Antwort parat: «Fast bezeichnend muss es scheinen, dass so gut wie alle Einzelbeobachtungen von Arbeitern stammen, während alle höheren Aufsichtspersonen übereinstimmend bekunden, dass ihnen weder Veränderungen der Gletscherstirn noch eine besondere Zunahme der Eisabbrüche noch sonst etwas Verdächtiges aufgefallen sei.» Spätestens beim Lesen dieser Zeilen hätte den Richtern ein Licht aufgehen müssen.

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TV-Tipp: SRF-Dok: Das Unglück von Mattmark, Donnerstag, 27. August 2015, 20.05 Uhr


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Kurt Marti war von 2000 und 2010 Redaktor der Oberwalliser Zeitung «Rote Anneliese». Er beleuchtet die Hintergründe der Mattmark-Katastrophe und des Prozesses im Kapitel «Die Drahtzieher des Mattmark-Prozesses» seines Buches «Tal des Schweigens: Walliser Geschichten über Parteifilz, Kirche, Medien und Justiz» (2012) .

Zum Infosperber-Dossier:

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Wehret den Anfängen, denn funktionierende Rechtssysteme geraten immer wieder in Gefahr.

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5 Meinungen

  • am 21.08.2015 um 14:49 Uhr
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    Dieser Bericht ist ein eindrückliches Dokument zur Ignoranz gegenüber Gefahren von technologischen Grossprojekten und dem späteren Filz zwischen Verantwortlichen, Politik und sogar Justiz .
    Diese Geschichte wiederholt sich zur Zeit in Japan gegenüber der Firma Tepco in Sachen Fukushima.
    Und es wird dereinst genau so laufen, wenn in Beznau eine Katastrophe passieren sollte. AXPO, ENSI und deren Experten wollen die offensichtlichsten Gefahren schlicht nicht sehen.

  • am 22.08.2015 um 16:36 Uhr
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    1963 war ich als Student Teilnehmer einer Geografischen Arbeitsgemeinschaft in Bellwald VS unter der Leitung von Herrn Prof. Dr. Hans Annaheim. Aus Anlass von Professor Annaheims 60. Geburtstag organisierten die Studenten eine Tagesexkursion ins Saasertal und nach Mattmark. Im Journal mit den Tagesereignissen findet sich folgender Eintrag:
    Mittwoch, den 10.Juli …begrüsste uns Herr Gemeindepräsident Andermatten und führte uns zum Bau des in der Nähe des Allalingletschers liegenden Kraftwerks Mattmark. …. Herr Ingenieur Verrey erläuterte uns den Kraftwerkbau der Fa. Mattmark AG, welche uns anschliessend in der Kantine ein feines Mittagessen spendierte…(!)
    Leider wurde von dieser Exkursion kein detaillierter Exkursionsbericht verfasst, aber ich kann mich – durch die zwei Jahre später erfolgte Katastrophe tief in meiner Erinnerung verankert – genau erinnern, wie zwischen Studenten, Professor Annaheim und Ingenieur A.Verrey heftig über die Möglichkeit eines Gletscherabsturzes oder –vorstosses diskutiert wurde, insbesondere was dies für den Erddamm des Stausees bedeuten würde. Ein möglicher Absturz des Allalingeletschers wurde durch Ingenieur A.Verrey im Gespräch kategorisch verneint. Bonvin, Schnitter und Verrey haben vor Gericht ganz einfach gelogen!
    Das Bild des hoch und bedrohlich über den Baracken hängenden Allalingletschers habe ich nicht vergessen.
    Peter Loppacher, Allschwil

  • am 27.08.2015 um 21:38 Uhr
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    Grossartiger und erschütternder Film. Sehr guter Artikel. Müsste man nicht den Fall neu aufrollen? Gibt es juristische Mittel dazu? Beim Paul-Grüniger-Prozess ging es auch (posthumer Freispruch). Bei Mattmark eine posthume Verurteilung?

  • am 30.08.2015 um 23:03 Uhr
    Permalink

    Mattmark und der beschämende Umgang mit Verantwortung gegenüber Arbeitenden findet auch heute statt: In den Rohstoff-Minen in Afrika und Südamerika, in der Billiglohn-Industrie in Asien. Schweizer Konzerne verdienen daran – und unsere Märkte überquellen von Billigwaren, die unter menschenverachtenden Bedingungen hergestellt werden. Mattmark global.
    Gegensteuer? –> http://www.konzern-initiative.ch

  • am 31.08.2015 um 11:07 Uhr
    Permalink

    Die Aussagen des Bauingenieurs und ETH-Professors Gerold Schnitter in seinem Basler Dialekt in der «Antenne» vom 6.9.1965 sind in ihrer offensichtlichen Dreistigkeit erschütternd: «Aus allen diesen Messungen, die jetzt doch auf viele Jahre zurückgehen, hat man in gar keiner Weise auf ein plötzliches Abbrechen von einem Teil des Gletschers schliessen können. Es ist interessant, dass im Ganzen weder die Geologen die hier beschäftigt gewesen sind noch die Glaziologen noch die Ingenieure noch die einheimischen Bergführer, kein einziger Mensch hat je die geringste Andeutung gemacht, es könnte einmal am Allalingletscher oben etwas passieren.» Es wäre an der Zeit, wenn Ingenieure (und Glaziologen), die leider auch heute noch vielfach durch Indoktrination und nicht im kritischen Geist «erzogen» werden, sich mit diesem wichtigen Ereignis eingehend befassen würden und den Diskurs nicht allein den Sozialwissenschaftlern und Journalisten überliessen. Dabei ist zu bedenken, dass die Sicherheitskultur in Bezug auf die Naturgefahren in den letzten 30 Jahren in der Schweiz eine sehr grosse Entwicklung durchgemacht hat, und man aus den Fehlern der Vergangenheit durchaus einiges gelernt hat. Bei aller Vorsicht verbleibt bei Tätigkeiten im alpinen Raum allerdings auch heute noch stets ein Restrisiko.

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