Wahlkampf_Madagaskar

Der Präsidentschafts-Wahlkampf in Madagaskar könnte in einer identischen Stichwahl enden wie 2019: Marc Ravalomanana gegen Andry Rajoelina. © zvg

Madagaskar: Gut möglich, dass die Insel das nächste Gabun wird

Red. /  Die viertgrösste Insel der Erde wählt am 15. November ihren Präsidenten. Das Putsch-Szenario von Gabun könnte sich wiederholen.

Die bevorstehenden Präsidentenwahlen könnten zu einem furchtbaren Blutbad führen, fürchtet der Autor dieses Artikels. Er kennt Madagaskar aus seiner langjährigen Tätigkeit als Journalist. Wir publizieren seinen Artikel ausnahmsweise anonym. Denn der Autor geht davon aus, dass das Regime mit Repressionen reagieren würde.

Präziser hätte der Scoop nicht geplant sein können, als am 9. Oktober, zum offiziellen Start der Präsidentschafts-Wahlkampagne in Madagaskar, France 24 den Beitrag von Pulitzer-Preisträgerin und Madagaskar-Korrespondentin Gaëlle Borgia weltweit ausstrahlte. Ein Interview mit dem Senatspräsidenten Herimanana Razafimahefa, der bis dahin offiziell «aus persönlichen Gründen» auf das verfassungsmässig vorgesehene Übergangsmandat als Staatspräsident verzichtet haben soll. Nun sah alles ganz anders aus als ein Monat zuvor. Am 9. September musste der bisherige Staatspräsident Andry Rajoelina gemäss Verfassung demissionieren und hätte die Amtsgeschäfte dem Senatspräsidenten übergeben sollen.

Unter grossem Druck gehandelt

Nicht persönliche Gründe hätten ihn zum Verzicht auf das Interregnum an der Staatsspitze veranlasst, sondern massiver Druck bis hin zu Morddrohungen sowohl gegen ihn persönlich als auch gegen seine Familie. Unter diesem Druck habe er, so Razafimahefa, schliesslich ein ihm vorgelegtes, fertig verfasstes Demissionsschreiben unterzeichnet, um sich und seine Familie zu schützen. Daraufhin habe er seine Tochter nach Frankreich ausfliegen lassen, um wenigstens sie in Sicherheit zu wissen.

Am Tag nach der Ausstrahlung des Interviews, das in Madagaskar wie eine Bombe einschlug, legte der Senatspräsident nach und verlangte in einem Schreiben an den Verfassungsgerichtshof (Haute Cour Constitutionelle HCC), dass er in seine von der Verfassung vorgesehene Funktion eingesetzt werde.

Man darf mit Sicherheit davon ausgehen, dass der HCC sich in der Sache als nicht zuständig erklären wird und den verhinderten Staatspräsidenten ins Leere laufen lässt. Seit Andry Rajoelina, der ehemalige Disc-Jockey, erstmals im Jahr 2009 durch einen Putsch die Macht ergriffen hatte, sind ihm die HCC-Richter in mehreren Verfahren immer wieder zu Hilfe geeilt. Das letzte Mal Ende September, als die Allianz von 11 der insgesamt 13 Präsidentschaftskandidaten die Disqualifizierung des Kandidaten Rajoelina forderten, weil herauskam, dass dieser seit 2014 den französischen Pass hat und somit gar nicht für das oberste Staatsamt kandidieren dürfte.

Ein Franzose an der Staatsspitze Madagaskars

Es war Jahre lang das wohl bestgehütete Geheimnis auf der Grossen Insel. Der madagassische Übergangs-Staatspräsident hatte 2014 die französische Staatsbürgerschaft für sich, seine Frau und seine Kinder beantragt und auch erhalten. Es gibt kaum einen Beobachter der madagassischen Politik, der nicht davon ausginge, dass der französische Pass für die Familie Rajoelina ein Arrangement à la française gewesen sei.

2014, nach beinahe fünf Jahren verfassungswidriger Übergangsregierung und mehr oder weniger harten Sanktionen der internationalen Gemeinschaft gegen den Putschisten Rajoelina, musste sich dieser beugen und das Land durch Wahlen wieder auf einen demokratisch gesicherten Weg bringen. Den Wahlen von 2014 ging freilich ein veritabler Kuhhandel zwischen den beiden Erzfeinden Rajoelina und Marc Ravalomanana voraus.

Mit französischem Pass ruhiggestellt

Letzterer war von Rajoelina 2009 nach Demonstrationen und Streiks schliesslich mit einem blutigen Angriff auf den Präsidentenpalast gestürzt worden. Ravalomanana hatte sich nach dem Putsch von Rajoelina ins südafrikanische Exil abgesetzt. Die Wahlen von 2014 konnten schliesslich ohne die beiden Streithähne durchgeführt werden. Die internationale Gemeinschaft unter Führung der ehemaligen Kolonialmacht hatte ihr «ni-ni» (weder noch) durchgesetzt. Ravalomanana durfte wieder nach Madagaskar zurückkehren, damit er seine Milchwirtschaftsunternehmen wieder aufbauen konnte. Rajoelina wurde mit der, wie man jetzt weiss, wohlweislich geheim gehaltenen französischen Staatsbürgerschaft ruhiggestellt und verbrachte geruhsame Jahre in Frankreich.

Die Wahlen gewann der von Rajoelina portierte Finanzminister der Übergangsregierung, Hery Rajaonarimampianina. Seine vierjährige Amtszeit endete im September 2018. Er kandidierte jedoch entgegen den Absprachen mit Rajoelina für eine neue Amtszeit – und wurde an der Urne erwartungsgemäss abgestraft. Gewählt wurde der für die internationale Gemeinschaft unter Führung Frankreichs nun wieder salonfähig gewordene Andry Rajoelina. Er schlug dabei im zweiten Wahlgang seinen ewigen Widersacher und Deutschlandfreund Marc Ravalomanana. Madagaskar, das 1947 beim Aufstand gegen die Kolonialmacht über 90‘000 Menschenleben für eine damals noch niedergeschlagene Unabhängigkeit geopfert hatte, erhielt einen französischen Staatsbürger als Präsidenten. Françafrique in reinster Form.

Geknebelte Medien

Zwar gab es schon lange Gerüchte über eine Doppelbürgerschaft Rajoelinas, doch es fehlten die Beweise. Und ohne Beweise wäre ein öffentlich vorgebrachter Verdacht umgehend mit Verhaftung und jahrelanger Gefangenschaft bestraft worden.

Seit dem Putsch von Rajoelina gegen Ravalomanana wurden Journalistinnen und Journalisten, aber auch Verleger systematisch eingeschüchtert. Wer den Tatbestand der Beleidigung eines Amtsträgers – und das ist in Madagaskar bereits ein Bürgermeister – erfüllt, muss mindestens mit zeitlich unbeschränkter Untersuchungshaft rechnen und wandert meist ohne ordentliches Verfahren für Jahre hinter Gitter.

Es werden auch veritable Schauprozesse veranstaltet, wie etwa gegen Rajoelinas ehemaligen Kommunikationsminister Rolly Mercia, dem man zuerst eine Beteiligung an einem Putschversuch unterschob, ihn aber am Schluss wegen des Besitzes eines Megaphons zu mehreren Jahren Gefängnis verurteilte, wo er immer noch einsitzt.

Wer je ein madagassisches Gefängnis von innen gesehen hat, kann sich leicht vorstellen, was allein die potenzielle Bedrohung durch eine Gefängnisstrafe auslöst. So, wie die privaten Medien seit über einem Jahrzehnt geknebelt oder in der Hand regierungsfreundlicher Unternehmer oder Politiker sind, so devot gebärden sich die staatlichen Radio- und Fernsehsender. 80 Prozent der Sendezeit wird der Lobpreisung des Präsidenten Rajoelina gewidmet. Feierliche Eröffnungen von Schulgebäuden, Spitälern, renovierten Amtshäusern oder gelegentlich auch eines Geldautomaten sind dabei neben pompösen Grundsteinlegungen für Projekte, die niemals zu Ende gebracht werden, die bevorzugten Sujets. Die restlichen 20 Prozent nehmen die Übersetzung und Kurzfassung in französischer Sprache ein.

Mit dem Mut der Verzweiflung

Alles wäre eigentlich für Rajoelina gut gegangen und die perfekt geölte Maschinerie hätte ihn im Triumphzug zu einer neuen Präsidentschaft bis 2027 geführt. Unter den schamhaft wegschauenden Botschafterinnen und Botschaftern der EU und der UNO war das Land in Orange, der Farbe von Rajoelinas Partei, getüncht worden. In Städten und Dörfern war alles für eine grandiose Wiederwahl angerichtet. Es gab hunderte von Phantom-Wahlbüros, die auf keiner Karte verzeichnet sind, aber laut der angeblich unabhängigen Wahlkommission (Commission Electorale Nationale Indépendante CENI) korrekt arbeiteten. Die internationalen Wahlbeobachter hätten das vorgefunden, was die CENI als «tolerierbare» Fehlerquote bezeichnet. Wie schon 2014 und 2019 wären auch diese Wahlen als zwar mit einigen Unregelmässigkeiten behaftete demokratische Übung eingestuft, im Ganzen aber von der internationalen Gemeinschaft durchgewunken worden.

«Ein unheilbarer Mythoman»

Im April publizierte die Gazette de la Grande Île einen Artikel über den Geisteszustand des Präsidenten Andry Rajoelina. Die von der Zeitung konsultierten Psychologen und Psychiater waren zu einem vernichtenden Befund gekommen. Rajoelina sei das Musterbeispiel eines unheilbaren Mythomanen, eines chronischen Lügners, der in seiner eigenen, erlogenen Welt lebe und den Kontakt mit der realen Welt völlig verloren habe.

Der Affront bildete den Höhepunkt einer seit Monaten laufenden Artikelserie über die vom Rajoelina-Regime zu verantwortenden Veruntreuungen internationaler Hilfsgelder, wie etwa die im Zusammenhang mit Covid erhaltenen 700 Millionen Dollar, von denen auch zwei Jahre später jede Spur fehlt, oder die im Tresor des seinerzeitigen Bergbauministers und heutigen Premierministers wundersam in Blei verwandelten 23 Kilogramm Gold, oder die schleierhafte Finanzierung pompöser Projekte, wie jene einer neuen Hauptstadt, einer Autobahn zwischen der Hauptstadt und der Hafenstadt Tamatave, einer angeblich der Verkehrsentlastung dienenden städtischen Gondelbahn in Antananarivo für 150 Millionen Euro.

Nicht zu vergessen das abstruse Kolosseum auf dem Vorplatz des als UNESCO-Kulturerbe eingestuften alten Königspalastes und die Produktion eines angeblichen Wundertrankes gegen Covid. Gleichzeitig veröffentlichte die Zeitung eine Bilanz der bisherigen Regierungsführung, insbesondere den Stand der von Rajoelina vor seiner letzten Wahl abgegebenen 13 Versprechen (Velirano), die das Land aus Armut und Elend herausheben sollten. Kein einziges wurde auch nur in Ansätzen verwirklicht.

Neue Gazette kommt aus New York

Die Folgen für die Gazette liessen nicht auf sich warten. Die Zeitung wurde umgehend verboten und sämtliche Produktionsmittel konfisziert. Ihr Verleger, Lola Rasoamaharo, wurde unter dem Vorwand, vor Jahren Stromrechnungen nicht bezahlt zu haben, in einer Nachtaktion verhaftet, in das berüchtigte Gefängnis Antanimoro gesteckt und im Juni in einem Schauprozess zu fünf Jahren Haft verurteilt. Aber die Gazette war nicht totzukriegen. Nur wenig später erschien sie unter dem Titel Journal de l‘Île Rouge als Online-Version in New York.

Im Juni erreichte die Grosse Insel dann die Schocknachricht: Rajoelina ist französischer Staatsbürger. Das Journal lieferte nicht nur den Auszug aus dem offiziellen Amtsblatt Frankreichs, das im November 2014 die Erteilung der beantragten Staatsbürgerschaft an Rajoelina, seine Frau und seine Kinder veröffentlicht hatte, sondern gleich auch noch eine Kopie des französischen Passes. Rajoelina selbst bestätigte nach wochenlangem Schweigen in einer im nationalen Fernsehen inszenierten Sendung den Sachverhalt.

Dabei leistete er sich einen folgenschweren Fehler. Er begründete den Antrag auf die französische Staatsbürgerschaft mit der Zukunft seiner Kinder, denen im Ausland eine solide schulische und berufliche Ausbildung angediehen werden solle. Der älteste Sohn Rajoelinas absolviert in Lausanne die Internationale Hotelfachschule.

Kaum jemand kann sich Schulgeld leisten

Das Geständnis kam einer Ohrfeige für Millionen madagassischer Eltern gleich. Im Land, in dem nach UNO-Angaben weit über 80 Prozent der Bevölkerung unter der Armutsgrenze von 0 bis 2 Dollar pro Tag überleben müssen, wirkt eine solche Aussage des eigenen Staatspräsidenten als Beleidigung, ja als Verhöhnung. Nicht nur können sich die meisten das Schulgeld ihrer Kinder nicht mehr leisten, das madagassische Schulwesen ist darüber hinaus kaum mehr existent. Die informellen, von den Eltern bezahlten Lehrkräfte haben zum überwiegenden Teil noch nie eine Lehranstalt von innen gesehen oder dann längstens bis zum Abschluss der Primarschule. Dies, obwohl Rajoelina landauf, landab orange angemalte Schulgebäude einweiht, in denen aber kaum jemals Schule abgehalten wird. Man spricht offen davon, dass Analphabeten das Leben beibringen sollen. Die Privatschulen – meist von kirchlichen Institutionen geführt – können sich nur Beamte leisten, die durch Korruption gut situiert sind.

Dank dem Mut der Verzweiflung, mit dem das Journal de l‘île Rouge die Skandale aus Rajoelinas Amtszeiten offengelegt und die französische Staatsbürgerschaft publik gemacht hat, wird Madagaskar nun von einer Grundwelle der Empörung erfasst. Und erstmals seit seiner so genannten Unabhängigkeit im Jahre 1960 hat sich die Opposition zusammengeschlossen und kämpft gegen den gemeinsamen Gegner. «Le modèle gabonais» macht als Metapher die Runde. Weil man davon ausgeht, dass Rajoelina und seine Helfer in der Wahlkommission und im HCC – dieser muss die Wahl bestätigen – das Resultat bereits im Voraus festgeschrieben haben, erachten viele einen neuerlichen Putsch nach Bekanntgabe des Resultates als einzigen Ausweg. Wie in Gabun.

Was Françafrique bedeutet

Der Begriff geht auf Charles de Gaulle zurück. Er wollte die französische Einflusssphäre trotz der unvermeidlichen Entkolonialisierung aufrechterhalten, um die wirtschaftlichen Interessen Frankreichs weiterhin durchzusetzen und Frankreich geopolitisch als Grossmacht im Spiel zu halten.

Seit dem Ende der Kolonialzeit in den 60er Jahren pflegt Frankreich deshalb ein besonderes Verhältnis zu seinem ehemaligen kolonialen Machtbereich auf dem afrikanischen Kontinent: Äquatorial-Guinea, Benin, Burkina Faso, Burundi, Dschibuti, Togo, dem Tschad und vor allem Algerien, Gabun, Zentralafrika, Nigeria, der Elfenbeinküste, Kamerun, der Republik Kongo, der Demokratischen Republik Kongo, dem Senegal und Mali. Und eben auch zu Madagaskar.

Die Politik von Paris gegenüber diesen Ländern nennt sich Françafrique und wird in der französischen Öffentlichkeit kontrovers diskutiert. Unter diesem Begriff, der lautmalerisch die enge Beziehung zwischen Frankreich (France) und Afrika (Afrique) wiedergibt, versteht man viel mehr als klassische diplomatische Beziehungen. Häufig sei damit die Beteiligung an Wahlfälschungen, an Putsch(versuchen) zur Unterstützung befreundeter politischer Regime oder gar an militärischen Geheimoperationen gegen missliebige Regierungen afrikanischer Staaten gemeint, kommentiert die Bundeszentrale für politische Bildung den Begriff.

Die Widersprüche dieser Politik zeigen sich auch jetzt wieder. Die Putsche in Burkina Faso, in Mali, in Gabun und anderen Ländern Westafrikas werden zwar offiziell wegen nicht verfassungskonformer Machtwechsel verurteilt, aber die Geschäfte mit den Oel-, Uran- und Rohstofflieferanten will man tunlichst nicht gefährden.

Umgekehrt haben die ehemaligen französischen Kolonien in Afrika dem Begriff Françafrique längst eine ganz eigene Bedeutung gegeben und ihn sich unter dem lautmalerisch identischen Begriff «France à fric» – Frankreich fürs Geld – ohne jede Ironie angeeignet.

Weiterführende Informationen: Madagaskar: Wo Françafrique endet


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine
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Zum Infosperber-Dossier:

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Die Industriestaaten profitieren von Hungerlöhnen und Kinderarbeit. An Korruption sind sie oft beteiligt.

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Eine Meinung zu

  • am 16.10.2023 um 10:05 Uhr
    Permalink

    Alle Königreiche und alle Finanz-Imperien fallen einmal in sich zusammen. Das gilt sowohl für Francafrique, als auch für das anglo-amerikanische Dollarimperium.
    Vorläufig bleibt es leider ein Traum, dass diese Zusammenbrüche oder Übergänge gewaltfrei ablaufen, aber die meisten menschlichen Träume werden einmal wahr.
    Allerdings wird das ohne neues Geldsystem, das allen Menschen dient und nicht nur dem Grosskapital und denjenigen, die ein Monopol zur Geldvermehrung haben, nicht gelingen.

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