Kommentar
kontertext: Zwischen Metropole und Provinz
Seit einiger Zeit beschäftigen zwei untrennbare Fragen Gesellschaft und Wissenschaft immer dringlicher, nämlich: Wie lässt sich der Anstieg der rechtspopulistischen Parteien, insbesondere in Europa, erklären? Und: Was steckt hinter dem heutigen rechtspopulistischen Votum? Auf diese Fragen haben die Politikwissenschaft und die Soziologie unzählige Antworten gegeben, die einen (möglicherweise nur anscheinenden) Widerspruch zwischen Protest und Überzeugung vonseiten der Wählerschaft offenbaren, der sich wiederum in der schwankenden Haltung der rechtspopulistischen Parteien zwischen Normalität und Extremismus widerspiegelt.
Um es klar zu sagen: Dieser Text ist in keiner Hinsicht ein Versuch, eine zusätzliche Analyse zu diesen Erklärungen hinzuzufügen, die grösstenteils sehr gut wissenschaftlich belegt sind (siehe zum Beispiel das Werk des portugiesischen Politikwissenschaftlers Vicente Valentim oder die neueste «Mitte-Studie» der Universität Bielefeld und der Friedrich-Ebert-Stiftung). Vielmehr möchte ich diesen Studien das persönliche Zeugnis eines Kindes der achtziger Jahren, dessen erwachsenes und politikbewusstes Leben durch dieses besorgniserregende Thema immerfort begleitet wurde, anfügen.
«Parigot, tête de veau»
Ich bin im Jahr 1979 in Paris geboren, in der Banlieue aufgewachsen, dann – wie viele junge Pariser Eltern – nach der Geburt meines ersten Kindes in die Province, nämlich ins Elsass umgezogen. Als Kind und Jugendlicher verbrachte ich meinen Urlaub in der Ardèche, im Süden Frankreich, wo ich zum ersten Mal erfuhr, dass ich ein Pariser war und als solcher gebrandmarkt werden konnte. Mehrmals wurde ich in Freundeskreisen mit dem unübersetzbaren Spruch empfangen: «Parisien, tête de chien, Parigot, tête de veau.» Dreissig Jahre später, auf einem Spielplatz in einem einfachen Quartier von Strassburg, hat mich ein Kind gefragt (da ich einen Blazer trug): «Bist du Macron?»
Aus meinen Ferien in der Ardèche ist mir eine Episode ganz stark in Erinnerung geblieben: das sogenannte Haupt des Dorfes, ein kräftiger, kluger und humorvoller Bauer, sagte mir eines Tages: «Menschen sind grundsätzlich rassistisch.» Für mich als Jugendlicher, dessen aufkeimendes Politikbewusstsein ganz von der Idee geprägt war, dass die Emanzipation des Individuums die letzte Aufgabe der Menschheit und sowieso unaufhaltsam in Gang war (schliesslich hatten uns die Nazis gezeigt, wohin der umgekehrte Weg führte), war solch ein Statement höchst befremdlich.
Vor genau zehn Jahren, einige Monate nach unserem Umzug ins Elsass, empfing uns der Morgen des 14. November mit der grausamen Nachricht der Attentate in Paris. Um Luft zu schnappen, ging ich in den Vorgarten hinaus, wo ich unseren Nachbarn traf. Nach drei Sätzen musste ich feststellen, dass das, was ich als Angriff auf jeden von uns, nicht nur als Franzosen, sondern auch als Weltbürger, empfand, ihm genauso egal oder fremd war wie irgendeine Fernsehnachricht. Er war völlig überrascht, dass ich davon so betroffen sein konnte, für ihn war Paris einfach weit entfernt.
Haben wir weggehört und weggeschaut?
Angesichts des französischen Zentralismus, dessen Ausmass für deutsche und auch schweizerische Leserinnen und Leser schwer zu fassen sein dürfte, liefern diese Anekdoten den passenden Hintergrund für weitaus grössere Fragen. Denn so banal sie klingen, weisen sie auf ein grosses gesellschaftliches Problem hin in einem Land, wo die politische, wirtschaftliche und symbolische Macht fast gänzlich in der Hauptstadt liegt.
Also haben wir, junge Pariser in den neunziger Jahren, eingelullt von der sozialen und kulturellen Vielfältigkeit unserer eigenen Blase, möglicherweise weggeschaut und weggehört? Haben wir, verblendet durch die Friedensdividende und durch die Rede vom «Ende der Geschichte», den eigentlichen Sinn von Putins Worten überhört? Haben wir Worte, die sich teilweise an jene richten, die wir nicht hören können und die uns nicht hören wollen, viel zu lange mit einem interpretativen Deckmantel verschleiert? Was wäre, wenn ein Grossteil unserer Mitbürgerinnen und Mitbürger, indem sie für Marine Le Pen stimmen, sich ganz einfach als reaktionär, chauvinistisch und fremdenfeindlich behaupteten?
Seitdem ich wahlberechtigt bin, habe ich nach jeder Wahl den Erklärungen der Experten brav zugehört und sie wiederholt, wenn sie meinten: «Nein, diese zehn, zwanzig, dreissig Prozent Franzosen sind nicht rassistisch. Das sind keine potenziellen Faschisten. C’est plus compliqué». Das stimmt. Wie Pasolini schon erklärt hat, ist im Mund der städtischen Elite das Wort «Faschist» ein Schreckbild, das die Realität mehr verdeckt als aufdeckt. Jetzt aber, wo ich in einer kleinen Stadt wohne und, wo ich höre, was die Leute sagen und sehe, wie sie sich benehmen, komme ich nicht umhin, eine beklemmende Hypothese aufzustellen, nämlich: Es ist gut möglich, dass ein Grossteil der Bürgerinnen und Bürger aus Frankreich und Europa, aus welchem Grund auch immer, den nationalistischen, reaktionären und fremdenfeindlichen Ideen der Le Pen, Höcke, Wilders, Kaszinski, Orban, Meloni und Co. ehrlich, tief und selbstverständlich zustimmt. Und zwar dem fürchterlichsten Teil dieser Ideen, dessen Verschleierung zum heutigen Erfolg der rechtsextremen Parteien beigetragen hat, den aber dieselben Parteien, sei es versehentlich, sei es absichtlich, doch immer wieder unverschleiert auftauchen lassen. Und es ist genauso möglich, dass ihre in den wunderbaren offenen, bunten, multikulturellen Grossstädten Europas lebenden Mitbürgerinnen und Mitbürger partiell und doch strukturell taub sind für die eigentliche Natur dieser Ideen und die eigentliche Drohung, die sie über unseren Gesellschaften schweben lassen.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine. Marc Ulrich ist gebürtiger Pariser und arbeitet als freier Übersetzer und Essayist für verschiedene Institutionen und Verlage, u.a. für die Cinémathèque française, Arte, Re:Voir, Diaphanes und Circé.
Unter «kontertext» schreibt eine externe Gruppe von Autorinnen und Autoren. Sie reflektiert Diskurse der Politik und der Kultur, greift Beiträge aus Medien kritisch auf und pflegt die Kunst des Essays. Zurzeit schreiben regelmässig Silvia Henke, Mathias Knauer, Michel Mettler, Felix Schneider und Beat Sterchi.
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Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.









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