Grab Mussolini Predappio

Hierher, zum Grab Mussolinis in Predappio, pilgern auch Anhänger von Georgia Melonis Partei «Fratelli d’Italia». © cc-by-3 Sailko / Wikimedia Commons

«Kein Putsch nötig, um Demokratie anzugreifen»

Jürg Müller-Muralt /  Einer der bekanntesten Neofaschismus-Experten Italiens warnt vor grosser Gefahr für die Demokratie in seinem Land.

Seit dem Zweiten Weltkrieg standen in Italien noch kein Parlament und kein Kabinett so weit rechts wie heute. Wie schon bei den Vorgängern «Movimento Sociale Italiano» und «Alleanza Nazionale» ist auch bei der Partei von Ministerpräsidentin Giorgia Meloni, den «Fratelli d’Italia», das Verhältnis zu Benito Mussolinis Faschismus nebulös. Einerseits distanziert man sich vom historischen Faschismus, anderseits pflegt man die belastete Traditionslinie. Als Melonis Partei bei den Parlamentswahlen vom Herbst 2022 mit 26 Prozent klar stärkste Kraft wurde, waren sich die Politbeobachterinnen und -beobachter nicht einig, ob nun der Faschismus auferstanden sei oder ob einfach eine «normale» Rechtsregierung das Ruder übernommen habe.

Melonis pragmatischer Start

Angesichts des rechtsextremen Erbes der «Fratelli d’Italia» hat die Regierung Meloni jedenfalls in den ersten Monaten auffallend unspektakulär und pragmatisch agiert. Meloni unterstützt zum Beispiel klar und unzweideutig die Ukraine – im Gegensatz zu anderen rechtsextremen und rechtspopulistischen Parteien des Westens. In einer Analyse zu den ersten hundert Tagen kommt ein Beitrag der Sendung Echo der Zeit des Schweizer Radios von Ende Januar 2023 zum Schluss, die neue Regierung sei auch deshalb normal, «weil sie wie ihre Vorgängerregierungen die strukturellen Probleme nicht anpackt, beispielsweise die Krise im Gesundheitswesen oder in der Rentenversicherung». In der Flüchtlingsfrage rüstet Meloni zwar auf, führt jedoch im Wesentlichen die schon vor rund sechs Jahren unter der Mitte-Links-Regierung Paolo Gentiloni härter gewordene Politik weiter.

Italien kein zweites Ungarn?

Laut den im Echo der Zeit befragten Experten wird Italien auch kein zweites Ungarn unter Viktor Orban. Italien könne es sich gar nicht leisten, sich ähnlich wie Ungarn oder auch Polen innerhalb der EU zu isolieren. Das würde die Wirtschaft rasch in ernsthafte Schwierigkeiten bringen. Zudem ist Italiens Zivilgesellschaft stärker als andernorts in Europa: Das Land hat sowohl dem Linksterror der Roten Brigaden wie auch dem rechtsextremen Terror getrotzt und bietet auch der Mafia die Stirn.

Unklare Abgrenzung zur Vergangenheit

Also alles halb so wild? Bewegt sich Italien auf der Normalroute westlicher Demokratien, einfach auf der rechten Spur? Ist es etwa gar so, wie die NZZ im Titel einer Analyse zum inflationären Gebrauch des Faschismus-Begriffs konstatiert: «Überall Faschismus, aber nirgends Faschisten»? Ganz so klar ist der Fall nicht. Die Frage, ob Giorgia Melonis Abgrenzung zum historischen Faschismus nur taktischer Natur ist, kann nicht so leicht beantwortet werden. Offensichtlich ist nur: Bis hinauf zur Führungsetage der «Fratelli d’Italia» sind die Duce-Nostalgiker zahlreich. Immer wieder reissen sie den rechten Arm hoch zum «römischen Gruss» und pilgern zu Mussolinis Geburtsort und Grab in Predappio. Noch bis kurz vor den Wahlen verteidigte Meloni das Partei-Logo mit der grün-weiss-roten Flamme über dem symbolischen Sarg Mussolinis mit den Worten: «Wir sind stolz darauf»

Verharmlosung und kollektiver Selbstbetrug

Wie stark Melonis «Fratelli d’Italia» und die Neofaschisten sich gegenseitig befeuern, wie präsent und alltäglich der Faschismus in Italien ist, zeigt eine eindrückliche Dokumentation von Ende Januar 2023 auf arte. Gezeigt werden Aufmärsche in Predappio und Läden, die offen Mussolini-Devotionalien verkaufen, sowie faschistische Bürgerwehren in Mailand. In Verona, dem historischen Nabel der italienischen Neofaschisten, bekommt arte Einblick in viele verborgene Treffpunkte der rechtsextremen Szene. Dokumentiert wird auch, in welcher Art und Weise mobilisiert wird: Häufig sind unter anderem derzeit «Anti-Kriegs-Demonstrationen», bei denen gegen die Unterstützung der Ukraine durch die Nato protestiert wird. Dies alles ist möglich, obschon in Italien zwei Gesetze die Neubildung und Verherrlichung des Faschismus unter Strafe stellen. Bloss: Sie werden selten angewandt. Alte Faschisten betrachtet man als harmlose, skurrile Nostalgiker. Von den jungen Faschisten weiss man wenig. Diese Verharmlosung beruht auf dem kollektiven Selbstbetrug und der Legende vom «guten Diktator».

«Wie Neofaschisten Italien infiltrieren», Arte-Dok auf Youtube.

Paolo Berizzis Furcht vor dem Schweigen

«Noch mehr als die Neofaschisten fürchte ich das Schweigen über sie; das ist die erste Stufe der Komplizenschaft.» Dies sagt im arte-Beitrag der Journalist Paolo Berizzi. Seit 2019 steht er unter ständigem Polizeischutz, weil er und seine Angehörigen von Faschisten bedroht werden. Und seit zwanzig Jahren deckt er mit seinen Untersuchungen, journalistischen Artikeln und Büchern die neofaschistischen Aktivitäten in Italien auf. Immer wieder habe man ihm gesagt, Faschismus sei «doch kein Thema mehr». Genau wegen dieser Haltung konnte der Rechtsextremismus in verschiedenen Schattierungen an Kraft und Einfluss gewinnen. «Es begann mit Silvio Berlusconi, ging weiter mit Matteo Salvini bis hin zu Giorgia Meloni», sagt Paolo Berizzi. Beide Seiten hätten davon profitiert, die Rechtspolitikerinnen und -politiker erhielten Wählerzulauf «und die Neofaschisten finden aus ihrer Schmuddelecke heraus». Im Norden Italiens sind die Neofaschisten laut Berizzi mittlerweile bei bürgerlichen Kräften anerkannt, «weil sie Fremde fernhalten und für Ordnung sorgen». Auch bei vielen jungen Leuten sei der Faschismus in Mode, «er gilt als cool».

Paolo Berizzi blickt voller Pessimismus in die Zukunft Italiens: «Das Risiko ist, dass diese Regierung unsere zivilen und sozialen Rechte graduell abbaut und unsere Demokratie von innen her aushöhlt. Man braucht keinen Putsch, um unsere Demokratie anzugreifen. Leichter ist es mit einer langsamen inneren Schwächung.»

Eine Minderheit mit grossem Einfluss

Die Quintessenz der arte-Dokumentation macht deutlich: Die Anhängerinnen und Anhänger der diversen neofaschistischen Gruppierungen bilden zwar eine Minderheit, doch sie gewinnen an Einfluss. Im Zusammenspiel mit einer extrem rechten Regierung, auf deren Fahne die Mussolini-Flamme prangt, könnten sie eine tiefgreifende Umwälzung in Italien auslösen.


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8 Meinungen

  • am 10.02.2023 um 11:01 Uhr
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    Hat sich schon mal jemand Gedanken dazu gemacht, was passiert, wenn in einer Demokratie eine große Zahl der Bevölkerung keine Problem mit Faschismus oder gar Nazionalsozialismus hat, oder diesen sogar positiv gegenübersteht, vielleicht sogar ohne sich dessen bewusst zu sein? Wie werden die wohl abstimmen und wählen…

  • am 10.02.2023 um 11:48 Uhr
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    Post-, anglo-, neo- oder wie auch immer faschistisch (ein Problem in Europa: https://www.youtube.com/watch?v=B3RzjcqJ9HE ): Primär ist in Italien seit vielen Dekaden, dass quasi USA-Vertreter am Ruder sein sollen. Frau Meloni ist beispielsweise Mitglied im Aspen Institute. https://www.business-leaders.net/giorgia-meloni-regierungschefin-in-italien-mitglied-im-aspen-institute/
    fr.de schreibt 28.9.2022 Der Sieg von Giorgia Meloni in Italien sorgt bei Rechten in den USA für Freude.
    nzz.ch 14.9.2022 titelt: «Laut den USA steht Giorgia Meloni im Solde Moskaus», was ich als Upsidedown und Ablenkung betrachte.

  • am 10.02.2023 um 12:03 Uhr
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    Danke für diesen Artikel. Eine kleine Bemerkung: Frau Meloni heisst nicht Georgia sondern Giorgia.

  • am 10.02.2023 um 12:20 Uhr
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    Seit vielen Jahren gibt es Bestrebungen, den Faschismus als «chic» erscheinen zu lassen und ihm einen avantgardistisch-intelektuellen Anstrich zu geben (Casa Pound). In Italien ist das leichter, weil der fascismo Mussolinis Anleihen beim futurismo, beim römischen Klassizismus und bei der allgemeinen fortschrittssüchtigen Technikverliebtheit der 20iger nahm. Alles sollte dynamisch sein, vorwärts streben usw. Von Anfang an wurde der fascismo in Italien durch Künstler und Intelektuelle unterstützt und begrüßt. Auch der NATO waren Rechte, ex-Faschisten, Altnazis usw. als geheime Gewährsleute gegen den Kommunismus (Gladio, stay-behind-Netzwerke, usw.) sehr recht. Dswg. behält Meloni ja auch einen streng pro-amerikanischen Kurs. Vielleicht ist das der «Deal» dass ihre Regierung akzeptiert wird. Mit 26% Wahlergebnis haben die «Fratelli» nicht einmal 1/3 der Wählerstimmen; eine Mehrheit ist das nicht. Beim üblichen italienischen Gerangel wird diese Regierung auch nicht lang überleben.

  • am 10.02.2023 um 13:50 Uhr
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    Auch wenn «strukturelle Probleme» nicht angegangen werden, sondern nur bezüglich der Flüchtlingsfrage agiert wurde, hatte die Partei Erfolg. Sie wurde demokratisch gewählt.
    Was ich um den ganzen Hype bezüglich des Rechtsrucks in Europa nicht verstehe, warum machen die etablierten Parteien nicht ihren Job und kümmern sich um die Probleme der Wähler?
    Hätten sie es gemacht, würde es das Problem nicht geben.
    Stattdessen werden überall die Rechtspolitiker und Parteien als undemokratisch und böse hingestellt, frei nach dem Motto «Mit schmuddelkindern spielt man nicht», anstatt jetzt endlich mal darauf zu hören was das Stimmvolk bewegt und wo was im Argen liegt. Und sozial- wie gesellschaftspolitisch ist sehr viel im Argen. Bashing und undemokratische Verhaltensweisen gegenüber rechter Parteien löst weder das Problem der notwendigkeit sich darum kümmern zu müssen, noch das Problem der rechtsabwanderung der Wähler.
    Aber das ist wahrscheinlich nicht populistisch genug…

  • am 10.02.2023 um 14:00 Uhr
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    Vielleicht sind das auch Blüten, deren Wurzeln in jahrelang vor sich her geschobenen Probleme liegen. Einer meiner Lieferanten aus Vigevano pflegte zu seufzen: «l’Italia è diventata invivibile» – es sei grässlich kompliziert geworden, in Italien. Da verwundert es nicht, wenn an der Urne der Erstbeste gewählt wird der Besserung verspricht, und das können die Populisten und die Rechtsgerichteten halt besonders gut – ich meine Versprechungen abgeben.
    Demokratien müssen aufpassen dass sie nicht dysfunktional werden.

  • am 10.02.2023 um 16:01 Uhr
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    Gibt es denn eine allgemein akzeptierte und auch angewendete Definition darüber, was Faschismus ist, und davon abgeleitet, Post-Faschismus? Ist mir da vielleicht etwas entgangen?
    Und ausserdem- ist denn die Demokratie besser aufgehoben, wenn eine Partei mit einem nominell ganz anderen Programm dann eine Regierung stellt, welche im wesentlichen die Politik und Positionen der Vorgänger übernimmt?

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