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Mustafa Kemal Atatürk, am Tag der Ausrufung der Republik Türkei 1923 © Common

Passt die Türkei (noch) zu Europa?

Christian Müller /  Die EU hofft, das Flüchtlingsproblem mit Hilfe der Türkei lösen zu können. Aber ist die Türkei ein vertrauenswürdiger Partner?

Über Jahrzehnte hinweg galt die Türkei als säkularer Staat: als Staat, in dem die staatlichen und die kirchlich/religiösen Institutionen klar getrennt sind. Nun dreht der türkische Staatspräsident Erdogan das Rad der Geschichte zurück – der Macht zuliebe.

Mustafa Kemal, geboren 1881, besser bekannt unter dem Zunamen Atatürk, war nach dem gewonnenen Griechisch-Türkischen Krieg 1919-1922 und dem Frieden von Lausanne im Jahr 1923 der erste Präsident der im gleichen Jahr ausgerufenen Türkischen Republik. Als Bewunderer der europäischen Zivilisation und Kultur ergriff er sofort Massnahmen, um auch in seinem Land säkulare Verhältnisse zu schaffen: die Trennung von Staat und religiösen Institutionen. Diese Trennung war aber noch kein gesellschaftspolitisch diskutierter und auf die Zustimmung breiter Schichten abgestützter Schritt hin auf einen modernen Staat, sie musste mit militärischer Macht durchgesetzt werden. Es war denn auch über viele Jahrzehnte hinweg das Militär, das – weitgehend im Hintergrund – diesen Fortschritt sicherstellte.

Die Geschichte zeigt, dass Diktatoren und Staatschefs mit diktatorischen Allüren und Zielen sich gerne der Kirche bzw. der Religion bedienen, um ihre eigene Macht abzusichern. Als in der Türkei die Macht des Militärs vor einigen Jahren eingeschränkt wurde, wurde das weltweit begrüsst; es wurde als Schritt in Richtung Freiheit und Demokratie verstanden. Nur: Es öffnete Erdogan gleichzeitig die Türen, durch eine Re-Islamisierung des Landes seine Position zu stärken. Denn Erdogans demokratisch erlangte Position basiert auf den Mehrheiten in den ländlichen – und gläubigen – Gebieten der Türkei, während er etwa in Istanbul keine Mehrheit hinter sich hat.

Es gibt mehr als nur berechtigte Zweifel, ob der Deal EU/Türkei betr. Rücknahme von Flüchtlingen aus Syrien und anderen Ländern des Nahen Ostens je funktionieren wird. In etlichen Städten der Türkei herrscht – von den meisten Medien bewusst heruntergespielt – Bürgerkrieg, die Türkei ist im syrischen Bürgerkrieg keine aussenstehende Macht, sondern ein aktiver Mit-«Spieler», und nicht zuletzt mit der De-Säkularisierungs-Politik zeigt Erdogan, dass er sich von den sogenannten europäischen Werten mehr und mehr entfernt und, so ist zu beobachten, vom Osmanischen Reich träumt. Ein verlässlicher Partner für eine konstruktive Zusammenarbeit mit Europa kann und wird er nicht sein.

Amalia van Gent, den Infosperber-Leserinnen und -Lesern durch einige Kommentare zur Türkei bestens bekannt, hat für die neuste Ausgabe der Vierteljahreszeitschrift DIE GAZETTE zum Thema Türkei und Re-Islamisierung eine detailreiche Geschichte der einzelnen Schritte der Säkularisierung und der De-Säkularisierung geschrieben. Dieser zum Verständnis der heutigen Türkei äusserst informative Artikel kann hier eingesehen und/oder unten als Teil der GAZETTE heruntergeladen werden.


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Die neuste Ausgabe der GAZETTE ist schwerpunktmässig dem Thema Religion und Macht gewidmet. Die Übernahme des Artikels von Amalia van Gent auf Infosperber erfolgt mit ausdrücklicher Bewilligung der Autorin und der Redaktion der GAZETTE. – Christian Müller ist Mitglied der Redaktionsleitung Infosperber und Chefredaktor der GAZETTE.

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7 Meinungen

  • am 9.04.2016 um 12:07 Uhr
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    Die Türkei gehört zu 97% zu Asien nicht zu Europa.

  • am 9.04.2016 um 14:24 Uhr
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    Besondere Bemerkung Europa und Türkei: Allgemein und im Osten wird Europa kaum ernst genommen. Schaut man auf Zentralasien mit dem in Zukunft grössten Bodenschatzreserven aller Art (nicht nur Opel und Gas) nach Turkmenistan, Kasachstan, Usbekistan, Kirgistan, Taschikistan, so gilt dort Europa kaum etwas, es sind Russland, China etwas Indien und USA die Spieler. Aber diese Völker sind Trukmenen (Ausnahme Teil Taschikistan) und sehr mit der Türkei verbunden und von der Türkei beeinflusst. In 20 Jahren ist Zentralsten geopolitisch und mit Bodenschatzuversorgung mehr als wichtig. Ohne Türkei als Partner kaum eine Chance mehr für Europe. Nicht dass ich Erdogan schätze, ein gefährlicher Präsident, aber nicht auf ewig. Aber solche Aspekte muss man auch im Auge haben und in Artikeln gelegentlich erwähnen.
    Alt Nationalrat Remo Galli CVP

  • am 9.04.2016 um 14:28 Uhr
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    Sicherlich mag es (wirtschaftliche) Gründe für Abkommen und Verträge mit der Türkei geben, wie mit anderen Länder wie z.B. China und doch wird keiner auf die Idee kommen China aufzufordern der EU beizutreten!

  • am 10.04.2016 um 16:41 Uhr
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    Der Text von Frau Amalia van Gent ist aufschlussreich. Kulturelle (auch religiöse) Prägungen werden von Führern welche den neuen «Neuen Menschen» mit ihren Ideologien erzwingen wollen immer total unterschätzt und enden im Desaster. Dabei denke ich an die marxistische, nationalsozialistische, neoliberale und an die multikulti Ideologie. Auch die Spitzen der EU wollen und wollten zu viel. Die EU ist zu gross und die Polit-Designer können und wollen nicht zur Kenntnis nehmen dass die «Seelen» und die Prägungen der Völker sehr unterschiedlich sind. Der Internationalismus der Globalisierung dient als Herrschafts-Instrument der sogenannten «Neuen Weltordnung» unter Führung der Hochfinanz. Ich verweise einmal mehr auf «1984» von G. Orwell.

  • am 13.04.2016 um 18:55 Uhr
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    Der türkische Vizepremier hat die Sprüche eines deutschen Satirikers über Erdogan als «schweres Verbrechen gegen die Menschlichkeit» bezeichnet. Die gleiche Regierung, insbesondere Erdogan selbst, streitet bei jeder Gelegenheit ab, dass die Türkei früher einen Genozid gegen die Armenier begangen hat, dem etwa eine Million Menschen zum Opfer gefallen sind. Was ist hier nun ein «schweres Verbrechen gegen die Menschlichkeit"? Etwa rein verbale Beleidigungen des Herrn Erdogan? Oder der Genozid am armenischen Volk? Herr Erdogan und seine Anhänger haben ganz offensichtlich jede Bodenhaftung verloren.

  • am 20.05.2016 um 10:09 Uhr
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    Die Türkei hat nicht nur einen Genozid an den Armeniern begangen, sie begehen auch jetzt einen Genozid an den Kurden! Auch dabei schaut die Welt zu!
    Sicherlich sind nicht alle Türken so, aber wenn sie sich zu einer anderen Politik bekennen, dann steckt Erdogan sie ins Gefängnis.
    Mit einem «Menschen» wie Erdogan macht man keine Verträge.
    Den bekämpft man!!!!!

  • am 20.05.2016 um 10:29 Uhr
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    @Gerlinde Wiener. Da kann man nur zustimmen. Ignoranz, Opportunismus und politisches Unvermögen der deutschen Regierung ist unverständlich! Das Beispiel wird Schule machen und andere Potentaten zu Geldforderungen verleiten.

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