Gottesstaat.LWL x

Das Gemälde von Johann Carl Baehr aus dem Jahr 1840 zeigt den Anführer des Täuferreichs von Münster. © LWL-Museum für Kunst und Kultur, Münster

Die Krisenrhethorik führt zum Wunsch nach einem starken Mann

Red. /  Nicht nur die USA, auch westeuropäische Demokratien sind längst dabei, sich in säkuläre Gottesstaaten zu verwandeln.

upg. Andreas Brenner,  Professor für Philosophie an der Universität und der FHNW in Basel, veröffentlichte das Buch: «Der säkulare Gottesstaat»*. Ein Gastbeitrag.


Staaten orientieren sich wieder stärker an religiösen mittelalterlichen Vorbildern. Indem der heutige Staat stark aufgeladene Metaphern wie «Sünder» oder «Leugner» übernimmt, verabschiedet er sich von der Moderne und wird zum säkularen Gottesstaat.

Ein solcher Befund mag zunächst überraschen, stammt der Begriff doch vom Philosophen und Kirchenlehrer Aurelius Augustinus, der ihn im frühen Mittelalter geprägt hat. In seinem Mammutwerk «Gottesstaat» entwirft er den idealen Staat: Alle Menschen richten sich aus auf das kommende Zeitenende, es einen sie die Hoffnung und der Kampf gegen die Abtrünnigen und Widerspenstigen.

Der König, als Herrscher auf Erden, sieht sich in der Pflicht, sein Volk auf den Weg des Heils zu bringen, und dazu zählt dann auch der Kampf gegen die Irrlehren und die Irrlehrer. Gegen beide muss im Gottesstaat mit aller Härte vorgegangen werden. Wer dabei die Autorität des Königs infrage stellt, versündigt sich nicht allein am König, sondern an dem grossen Werk des Gottesstaates. 

Ganz in diesem Sinne gehen immer mehr moderne Staaten dazu über, ihr politisches Leitungspersonal vor herabsetzender Kritik zu schützen. Erinnert sei nur etwa an die absonderliche «Schwachkopf-Affäre» in Deutschland, als es zur Hausdurchsuchung bei einem Rentner wegen Beleidigung eines politischen Amtsträgers (Habeck) kam.

Entwicklungen wie diese sind in vielen Staaten mittlerweile kein Kuriosum mehr, sondern fügen sich in eine Neuausrichtung moderner Demokratien, die Folge einer aktuellen Weltbeschreibung ist: Die Welt ist in eine Dauerkrise geraten und somit zu dem Jammertal geworden, als das sie bereits im Mittelalter begriffen wurde. Und deshalb erscheinen auch die Mittel, die damals ergriffen wurden, als opportun. 

Heute muss man die Menschen an den Ernst der Lage erinnern

Anders als im Mittelalter, als den meisten Menschen der Ernst der Lage – eben die Gefährdung des Seelenheils – bewusst war, müssen in der Moderne die Menschen immer wieder neu daran erinnert werden, was auf dem Spiel steht: Die Stichworte sind Pandemie, Klimakrise, aber auch Arbeitsmarkt-, Bildungs-, Migrationskrise, Sicherheits- oder Währungskrise. Angesichts dieses Krisen-Perpetuum-mobiles verlieren die Menschen den Überblick und sehnen sich danach, dass jemand all das endlich einmal anpackt.

Die Krisenrhetorik der Politik wird zum Selbstläufer. Und da die Politik in der Krisenbewältigung ihren Daseinszweck erkannt hat, muss sie immer neue Krisen entdecken. Die Medien, die dem Grundsatz «bad news are good news» folgen und davon wirtschaftlich profitieren, beteiligen sich willig am Aufspüren neuer Krisen.

Der mittelalterliche Begriff «Sünde» ist wieder populär

Wie stark sich der moderne Staat an dem religiösen mittelalterlichen Vorbild orientiert, erkennt man am Begriff der Sünde, von dem der säkulare Gottesstaat ausgiebig Gebrauch macht. So wird mit jeder Krise auch ein neuer Sünden-Typus geschaffen: Steuersünder, Klimasünder oder – als spezielle Form des Frevels – Klimaleugner und Corona-Leugner. 

Die Analogie zum mittelalterlichen Begriff des Gottesleugners ist dabei offensichtlich und beabsichtigt. Und zusätzlich ist die Steigerungsdimension gewollt: Sünder sind wir ja – schlimm genug – alle; aber Leugner, das sind dann die wirklich Bösen, die das Werk des Guten torpedieren wollen.

Indem der säkulare Gottesstaat Positionen mit solch stark aufgeladenen religiösen Metaphern («Sünder», «Leugner») versieht, verabschiedet er sich von der Moderne, die sich ja durch Rede und Widerrede, durch Argument und Gegenargument ausweist – also das, was man als Wissenschaftsgesellschaft bezeichnet. 

Wer in Wissensangelegenheiten als Sünder oder Leugner bezeichnet wird, mit dem ist der Diskurs beendet.

Der Begriff «Verschwörungstheorie» erledigt Argumente

Für den mittelalterlichen Staat wie auch den säkularen Gottesstaat gilt: Er weiss um die Wahrheit. Und weil er um die Wahrheit weiss, muss der säkulare Gottesstaat sie auch vehement gegen die Andersdenkenden verteidigen. Als weiterer quasireligiöser Begriff erweist sich dabei der Begriff der Verschwörungstheorie als ausgesprochen effizient, funktioniert er doch wie der mittelalterliche Bannstrahl: Wen der Begriff der Verschwörungstheorie trifft, der ist erledigt, womit sich auch die von ihm vorgebrachten Argumente wie von selbst erledigt haben.

Damit ist die Bahn für die Verteidiger des Gottesstaates frei, und sie können in einer nahezu total säkularisierten Welt Projekte verfolgen, die in ihrem weltfremden Absolutheitsanspruch («Zero-Emission», «Zero-Virus») etwas Religiöses haben. 

In dieser konfusen Gemengelage kommt das Herzstück moderner Demokratien unter die Räder: die freie Meinungsäusserung.

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Dieser Beitrag erschien am 8. Oktober 2025 in der «NZZ».

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Buchcover Gottesstaat

*Andreas Brenner: «Der säkulare Gottesstaat», Verlag Königshausen & Neumann, 2025, 20.30 CHF16 Euro.
Aus dem Verlagstext: «In den modernen Staaten sind Veränderungen zu beobachten, die man noch vor Kurzem für schier unmöglich gehalten hätte: Wer sich satirisch über Politiker äussert, muss mit einer Strafverfolgung rechnen; neue Gesetze sollen verhindern, dass die öffentliche Meinung durch Falschinformationen irritiert wird und ein diffuser Begriff von Verschwörungstheorie kann unliebsame Positionen aus der öffentlichen Debatte verbannen und ihre Autoren mit einem indirekten Sprech- oder Schreibverbot belegen … Die modernen Demokratien, die sich als weltanschauungsneutral betrachten, argumentieren zunehmend religiös und entwickeln sich in Richtung säkularer Gottesstaaten.»


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