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87 Prozent Stimmen für Palästina. Dagegen waren sechs Prozent, angeführt von Donald Trump, Benjamin Netanyahu, Viktor Orban und Javier Milei. © Uno Photo

Anerkennung Palästinas: Die Schweiz spielt auf Zeit

Markus Mugglin /  Im Konflikt Israel-Palästina kümmert sich der Bundesrat nur zum Teil um Völkerrechtspflichten und erst recht nicht um Neutralität.

Im April letzten Jahres enthielt sich die Schweiz der Stimme im Sicherheitsrat, als es um die Anerkennung Palästinas als Uno-Vollmitglied ging. Ende Juli dieses Jahres in der Debatte über die Anerkennung Palästinas als Teil der Zwei-Staaten-Lösung vertröstete die Schweiz auf später. Sie «könnte in Betracht gezogen werden, wenn konkrete Massnahmen zugunsten dieser Lösung in Angriff genommen werden». Was unter «konkrete Massnahmen» und «in Angriff genommen» gemeint sein könnte, blieb rätselhaft.

Die Schweiz isoliert sich zusehends

Noch immer scheint die Schweiz auf Israels Zustimmung zu warten, bevor sie Palästina anerkennen will. Darauf muss sie aber noch lange warten. Benjamin Netanyahu hat es erneut klar gemacht: «Es wird keinen palästinensischen Staat auf dem Gebiet geben, das uns gehört», reagierte er auf den Entscheid in der Uno an einer Zeremonie für die Unterzeichnung eines neuen Siedlungsprojekts im besetzten Westjordanland.   

Man mag den Streit über die Anerkennung Palästinas auf diplomatischer Bühne im Vergleich zu den Geschehnissen in Gaza und im Westjordanland als wenig erheblich einstufen. Eine Anerkennung Palästinas und die Appelle für ein Ende des Krieges vermögen nichts gegen den täglichen Horror und die Verbrechen. Die neuste Offensive nach Gaza führt zu noch mehr Zerstörung, Hunger und Vertreibung. Was die meisten Völkerrechtsexperten bis vor kurzem noch zögerten zu sagen, zweifeln sie jetzt nicht mehr an. «Die israelische Regierung macht sich systematischer und weit verbreiteter Verbrechen gegen die Menschlichkeit, der Kriegsverbrechen und des Völkermords schuldig.»

«New York Declaration» eine letzte Chance?

Was in New York gerade passiert, hat trotzdem mehr als nur diplomatisch-symbolisch Bedeutung. 142 Staaten, darunter die Schweiz, stimmten für die «New York Declaration» für eine Zwei-Staaten-Lösung. Israel, die USA, Ungarn, Argentinien zusammen mit acht kleinen und vor allem Mini-Staaten stimmten dagegen, zehn enthielten sich, darunter aus Europa Tschechien, Moldawien, Albanien und Nord-Mazedonien.

Frankreich und Saudi-Arabien hatten die Deklaration initiiert. Ende Juli stellte sich angesichts der geopolitisch polarisierten Weltlage ein erstaunlich breit abgestütztes Bündnis von 17 Ländern aus Europa, dem Nahen Osten, dem globalen Süden, den zwei G7-Staaten Japan und Kanada sowie der Europäischen Union und der Arabischen Liga hinter die Erklärung für ein Palästina in den Grenzen von 1967.

Die Erklärung will mehr als nur ein Statement sein. Sie sieht Massnahmen vor und markiert den Rahmen für eine Zwei-Staaten-Lösung:

  • Die Anerkennung und Verwirklichung des Staates Palästina werden als «wesentliche und unverzichtbare Bestandteile der Umsetzung der Zwei-Staaten-Lösung» vorgegeben.
  • Die Erklärung richtet sich gegen die Extremisten auf beiden Seiten des Konflikts. Also auch gegen die Hamas. Ihre Herrschaft in Gaza müsse enden. Sie müsse ihre Waffen der palästinensischen Autorität abgeben. Neu habe das Prinzip «ein Staat, eine Regierung, ein Gesetz und eine Waffengewalt» zu gelten.
  • Eine internationale Stabilisierungs-Mission nach den Prinzipien der Uno und mandatiert durch den Uno-Sicherheitsrat soll den Übergang zu einer stabilen Ordnung in Palästina begleiten. Neuwahlen sollen stattfinden unter Beteiligung aller Kräfte, die sich zum obgenannten Prinzip bekennen.
  • Die Unterzeichnerstaaten verpflichten sich zu «restriktiven Massnahmen» gegen gewalttätige extremistische Siedler sowie Organisationen und Einzelpersonen, die illegale Siedlungen unterstützen und Palästinenser durch Gewalt und terroristische Aktionen daran hindern, auf ihren Gebieten zu leben.
  • Die Strategie setzt wirtschaftlich-finanzielle Akzente. Gefordert werden die sofortige Freigabe der von Israel einbehaltenen Steuereinnahmen und die Verpflichtung, einen neuen Rahmen für die Überweisung der Steuereinnahmen zu entwickeln. Palästina soll die vollständige Kontrolle über das Steuersystem erlangen. Es soll in das internationale Finanz- und Währungssystem integriert werden und davon profitieren können.
  • Die «New York Declaration» ruft Israels Regierung auf, sich eindeutig und öffentlich zu einer Zwei-Staaten-Lösung zu bekennen.

Westen unter Druck

Nicht überraschend hat Netanyahu den Uno-Entscheid zurückgewiesen. Auch Donald Trump will nichts davon wissen. Beide finden international nur noch wenig Rückhalt. Dass sie sich unter Druck fühlen, spiegelt sich in ihrer Empörung über den Entscheid.

Je länger sich Israel widersetzt, umso grösser dürfte der Druck werden. Denn auch der Westen, nicht zuletzt Europa, aber auch die Schweiz, müssen ihn erhöhen, weil sie selber unter Druck geraten. Ausgelöst hat ihn das Gutachten des Internationalen Gerichtshofs vom Juli 2024 über «Rechtliche Konsequenzen der Politik und Praxis Israels in den besetzten palästinensischen Gebieten».

Nicht nur Israel, sondern alle Staaten sind verpflichtet, nichts zu tun, dass zur Aufrechterhaltung der Besatzung beiträgt. Alle müssen ihre Beziehungen zu Israel überprüfen – beispielsweise Käufe und Verkäufe von Rüstungsgütern und von Technologien mit doppelten Verwendungszwecken oder die Einfuhr israelischer Produkte aus Siedlungsgebieten. Sie müssen sich auch an der Schaffung eines Staates als Voraussetzung für die Selbstbestimmung des palästinensischen Volkes beteiligen. Daran erinnerten 31 Völkerrechts- und Völkerstrafrechts-Professorinnen und -Professoren aus zehn verschiedenen Universitäten in der Schweiz auch den Bundesrat in einem offenen Brief am Jahrestag der Genfer Konventionen (12. August).  

Auch die Schweiz riskiert Anklagen

Das Gerichtsgutachten drängt die Staaten des «Westens» zu einer Neujustierung ihrer Nahost-Politik. Dazu kommt die Kriegsführung Israels. Der Vorwurf eines Völkermords lässt sich immer weniger entkräften. Für die traditionellen Verbündeten Israels wird es zusehends schwieriger zu behaupten, «man hat es nicht gewusst».   

In der EU scheint man sich dessen allmählich bewusst zu werden. EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen hat soeben in ihrer Rede zur «Lage der Union» einen Kurswechsel zumindest versprochen. Sie will Zahlungen an Israel stoppen, Teile des Assoziierungsabkommens mit Israel ausser Kraft setzen und Sanktionen gegen extremistische israelische Minister verhängen.

Der Bundesrat hingegen will nichts ändern. Das hat Wirtschaftsminister Guy Parmelin soeben im Ständerat und im Nationalrat klar gemacht. Die Schweiz wird weiterhin für die Einhaltung des humanitären Völkerrechts, die Freilassung der Geiseln, den ungehinderten Zugang der Hilfe an die notleidende Bevölkerung eintreten. Gegenüber weitergehenden Forderungen, wie sie die Völkerrechtsprofessorinnen und -professoren sowie 61 ehemalige Botschafterinnen und Botschaftern Anfang Juni in einem Brief an Bundesrat Ignazio Cassis erhoben haben, stellt er sich taub.

Sanktionen gegen Einzelpersonen zu ergreifen wies Guy Parmelin als «unerwünschten Präzedenzfall» zurück. Die grossen Detaillisten täten bei den Herkunftsbezeichnungen für Güter aus besetzten Gebieten bereits genug. Die Exporte von Rüstungsgütern und Gütern mit doppeltem Verwendungszweck und die Zusammenarbeit mit Israel im Bereich der Rüstung tat er als unbedeutend ab. Die Anerkennung Palästinas will er weiter hinausschieben.  .  

Bundesrat Parmelin zu Israel-Sanktionen: «nicht die richtige Vorgehensweise»

Auf die Frage der sozialdemokratischen Nationalrätin Laurence Fehlmann Rielle, ob es dem Ruf der Schweiz nicht schade, dass sie nicht wie die EU Sanktionen gegen gewalttätige israelische Siedler ergreife, antwortete Bundesrat Guy Parmelin: «Der Bundesrat prüft immer von Fall zu Fall, ob diese Möglichkeit in Betracht gezogen werden kann, wenn die allgemeinen sicherheitspolitischen und aussenpolitischen Interessen im Allgemeinen gewahrt bleiben. Bislang ist er (…) zum Schluss gekommen, dass dies nicht die richtige Vorgehensweise in dieser Angelegenheit ist.» Oder anders gesagt: Wirtschaftsminister Parmelin und offenbar den gesamten Bundesrat sorgt es wenig, dass gewalttätige Siedler im Westjordanland Palästinenser attackieren, terrorisieren, deren Heimstätten und Lebensgrundlagen zerstören und die Menschen vertreiben.

Bündnis mit Netanyahu-Regierung

Mit Rücksicht auf die in der Deutschschweiz omnipräsente Israel-Lobby scheint der Bundesrat der Rechtsaussen-Regierung in Israel noch immer gefallen zu wollen, wie schon in den vergangenen anderthalb Jahren.

Mit der monatelangen Aussetzung der Hilfsgelder an die Uno-Hilfsorganisation für die palästinensischen Flüchtlinge Unrwa und schliesslich der Halbierung der Hilfe hat er das Rückgrat des humanitären Hilfssystems in Gaza geschwächt. Durch die vorübergehende Blockierung von Geldern im Oktober-November 2023 an Menschenrechtsorganisationen verbunden mit rufschädigenden Verdächtigungen schadete er ihnen und erntete dafür den Applaus der israelischen Lobbyorganisation NGO Monitor. Zur Freude des Uno-Botschafters Israels war er im vergangenen Frühjahr nicht fähig, den Auftrag der Uno-Generalversammlung für eine Konferenz über die Einhaltung der Genfer Konventionen zu erfüllen. Nach dem Scheitern scheint er wenig Lust auf einen erneuten Versuch zu haben, obwohl sich die Schweiz als Depositarstaat der Genfer Konventionen dazu verpflichtet fühlen sollte. Sanktionen gegen gewalttätige Siedler und ihre Beschützer, wie es die EU macht, will er nicht ergreifen. Die Zusammenarbeit in den Bereichen Rüstung und Wissenschaft will er nicht nach den Kriterien des internationalen Rechts überprüfen.

Die einseitigen Parteinahmen und der damit verbundene Wechsel in der Nahost-Politik der Schweiz bleiben nicht unbemerkt. Der frühere palästinensische Aussenminister Nasser al-Kidwa drückte es im letzten November gegenüber dem «Sonntagsblick» wie folgt aus: «Die Schweiz und das Internationale Rote Kreuz haben in der Vergangenheit bei der Einhaltung der Genfer Konvention eine wichtige Rolle gespielt. Zuletzt kam das beim Krieg im Gazastreifen leider weniger zum Tragen.»   

Neutral wäre anders   

Die Zustimmung zur «New York Declaration» in der Uno-Generalversammlung bringt die Schweiz in eine schwierige Lage. In New York unterstützt sie die Anerkennung und Verwirklichung des Staates Palästina als «wesentliche und unverzichtbare Bestandteile der Umsetzung der Zwei-Staaten-Lösung», in Bundesbern kümmert es den Bundesrat nicht, wenn – wie soeben passiert – der Ständerat einen Vorstoss des Kantons Genf für die Anerkennung ablehnt. Der Aussenminister glänzte in der Debatte durch Abwesenheit, versuchte den Ständerat erst gar nicht umzustimmen.

Auch die in der Erklärung erwähnte Verpflichtung zu «Massnahmen gegen gewalttätige extremistische Siedler und die Organisationen und Personen, die illegale Siedlungen unterstützen» will der Bundesrat laut Wirtschaftsminister Parmelin missachten.    

Auch die aussenpolitische Ikone Neutralität bekommt Risse. Obwohl die Uno das Co-Existenzrecht Israels und Palästinas schon vor bald 80 Jahren in einer Resolution festgeschrieben hat, gewichtet die Schweiz die beiden Parteien ungleich. Ausgerechnet die hinter der Neutralitäts-Volksinitiative stehenden Kreise für eine angeblich immerwährende Neutralität tun sich als Stosstrupp für eine parteiische Nahost-Politik zugunsten der Netanyahu-Regierung und ihrer extremistischen Mitkämpfer hervor und haben kein Gehör für die verhandlungsbereiten Kräfte auf Seiten der Palästinenser.  

Noch bleiben dem Bundesrat ein paar Tage bis zur Debatte der Staats- und Regierungschefs in der Uno in New York, für die Frankreich, Grossbritannien, Australien, Kanada und eine ganze Reihe europäischer Länder die Anerkennung Palästinas angekündigt haben. Schafft es auch die Schweiz? Wird sie umsetzen, was mit der Unterstützung der «New York Declaration» zu erwarten wäre?    


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