Kommentar

kontertext: Endlich Daten über die Kulturberichterstattung

Felix Schneider © zvg

Felix Schneider /  «Fög» legt die erste ganzheitliche Untersuchung über die Kulturberichterstattung in der Schweiz vor.

Überraschung, Überraschung! Die Kulturberichterstattung macht 10 Prozent der Gesamtberichterstattung in Schweizer Medien aus, und dieser Anteil ist über die letzten fünf Jahre konstant geblieben. 

Ist also die weitverbreitete Rede vom Kulturabbau in den Medien falsch? Nicht ganz. Die Sache ist komplizierter und interessanter. 

Statistik und mehr

Franziska Oehmer und Daniel Vogel vom «Fög», dem  Forschungszentrum Öffentlichkeit und Gesellschaft der Universität Zürich, publizieren demnächst die Untersuchung «Qualität der Kulturberichterstattung». Im ersten Teil dieser Publikation werden Stellenwert und Qualität der Kulturberichterstattung in der Schweiz beschrieben. Der zweite Teil bietet eine Inventarisierung (mit angehängtem Adressenverzeichnis) von Internetplattformen, die Informationen zum Kulturstandort Schweiz verbreiten. 

Mit beträchtlichem statistischem Aufwand wurden die Daten des ebenfalls vom «fög» herausgegebenen Jahrbuchs «Qualität der Medien» im Hinblick auf die Kulturberichterstattung ausgewertet und beurteilt. Eine Zweitverwendung vorhandener Daten also. Das hat Folgen: Die Untersuchung erstreckt sich auf Informationsmedien von NZZ bis «20minutes», von «Sonntagszeitung» bis «Corriere del Ticino», nicht aber auf spezifische Kulturmedien. Berücksichtigt sind also im Bereich elektronische Medien z.B. «Tagesschau», «10vor10», «Echo der Zeit» u.a., nicht aber Radio SRF2 Kultur. 

Qualitätskriterien

Zur qualitativen Beurteilung der Kulturbeiträge wurden die folgenden Kriterien angesetzt: 

  • Einordnend oder episodisch? Wird ein Ereignis als isolierter Event erzählt oder wird es eingeordnet in gesellschaftliche oder diskursive Zusammenhänge?
  • Die Einbettung in Zusammenhänge wird durch bestimmte Beitragsformate befördert, die ebenfalls statistisch erfasst sind: Reportagen, Interviews, Leitartikel, Kommentare. 
  • Redaktionelle Eigenleistung oder Weitergabe von Agenturmeldungen?
  • Wie stark setzt die Berichterstattung auf Emotionen und Personen? Oder bleibt sie eher sachlich? 
  • Bezugsraum: Regional, national oder international? 

Die beiden Autor*innen finden, der Schweizbezug sei aus demokratischer Sicht ein Qualitätsmerkmal. Internationalität wird dadurch abgewertet. Dies scheint mir das anfechtbarste Qualitäts-Kriterium der ansonsten nützlichen Liste.

Wertungen

Indem die Studie diese Kriterien anlegt, kommt sie zu klaren Wertungen. Resultat: Die Abonnements- und Sonntagszeitungen sowie der öffentliche Rundfunk bieten die höchstwertige Kulturberichterstattung: einordnend, von redaktionellen Eigenleistungen geprägt, wenig personalisiert und weniger emotionalisiert.

Wobei: Der Anteil der einordnenden Beiträge ist insgesamt schockierend klein. Er reicht von knapp 20 Prozent im öffentlichen Rundfunk bis zu 1 Prozent in den Pendlerzeitungen. 

Boulevard- und Gratismedien dagegen haben zwar einen hohen Anteil an Kultur, aber ihre Kulturbeiträge stammen zur Hälfte von Agenturen, sind stark personalisiert, stark emotionalisiert und sehr international. Ihre Orientierung an «populärkulturellen Themen» trübt doch etwas die Freude, die aufkommen könnte ob der eingangs erwähnten Stabilität des Kulturanteils in Schweizer Medien. 

Konzentration

Der Befund, dass der Anteil der Kulturthemen in den Schweizer Informationsmedien stabil ist, wird zudem durch die Konzentration des Pressewesens relativiert. Nicht nur im Kulturbereich sondern ganz generell steigt der Anteil identischer Beiträge ständig. 

Der Anteil geteilter Kulturbeiträge ist in den letzten drei Jahren bei der TX Group (Basler Zeitung, Berner Zeitung, Der Bund, Tages-Anzeiger) von 11 auf 25 Prozent angewachsen, bei CH Media (Aargauer Zeitung, Luzerner Zeitung, St. Galler Tagblatt) von 6 auf 17 Prozent. 

Von der Schwindsucht besonders betroffen sind die Rezensionen. Die Autor*innen schreiben, bezogen auf die Zeit von 2017 bis 2019: Der «Anteil an geteilten Rezensionen ist im Schweizer Pressemarkt von 4 Prozent auf 13 Prozent gestiegen».  «Gleichzeitig hat sich die Anzahl publizierter Rezensionen fast halbiert: 2017 betrug ihre Anzahl noch 114, zwei Jahre später noch 61.» Immer weniger Rezensionen werden also immer häufiger veröffentlicht. Überspitzt gesagt: Welche Zeitung auch immer du aufschlägst, du liest immer dieselbe Rezension. 

Kultur??

Aus der «fög»-Kulturberichterstattungs-Studie kann man ein politisches Fazit ziehen: Die Forderung nach «Kultur» ist nichtssagend. Der Konsens von der Wichtigkeit «der» Kultur ist ein Scheinkonsens. Die Frage, um die ein Kulturkampf im Gange ist, lautet: Welche Kultur? Kritische Kultur oder affirmative? Man muss nur den Kulturbegriff weit genug ausdehnen, dann verschwindet jeder Mangel an Kultur. Oder konkret an einem nicht erfundenen Beispiel gezeigt: Mit einem Foto, das zeigt, wie ein Musiker in ein paar frische Hosen steigt, weist «20 Minuten» vorab auf das Musikfestival «M4Music» hin. Verbunden mit einer Programmübersicht des Festivals ist das zwar durchaus ein Kulturbeitrag, aber er würde die meisten Leser*innen von Infosperber wohl wenig interessieren. 

Und das Internet?

Mit der Illusion, die Digitalisierung führe zu einer wachsenden Vielfalt der Kulturberichterstattung, räumt die Studie des Zürcher Universitätsinstituts gründlich auf. 

Ein Grossteil der untersuchten Kulturplattformen im Netz wird von Verbänden und Interessenvereinigungen (z.B. Schriftsteller*innen-Vereinigung, Tanzinteressierte, Stadttheater etc.) betrieben. Sie haben natürlich ihre Berechtigung, ihre Perspektiven sind jedoch partikular. Sie bedienen spezifische Kulturbereiche und speziell interessierte Publika. Daneben gibt es öffentlich finanzierte Angebote mit Meldungen über Kulturevents, die eher Veranstaltungskalendern gleichen. Ein dritter Typus, «die im Vergleich selteneren, rein journalistischen Kulturplattformen (…) können (…) nicht als Garant für eine vielfältige digitale Kulturplattformlandschaft gelten». Sie werden ausserhalb ihres Nischenbereichs kaum wahrgenommen, leiden an mangelnder Reichweite und kämpfen mit prekärer finanzieller und organisatorischer Absicherung. 

Was tun?

Um für Kulturberichterstattung tragfähige Geschäftsmodelle zu finden und dem sinkendes Vertrauen in die Medien zu begegnen, plädieren die Autor*innen für direkte Medienförderung mit öffentlichen Geldern zwecks Verbreitung von Kulturinformationen, für Leistungsaufträge mit Zweckbindung also, und für den Einbezug von Kulturschaffenden in die aktuellen Orientierungsdiskussionen:  , «Kulturakteur:innen sollten also darauf pochen, in die Diskussionen über die Kriterien für eine Medienförderung involviert zu werden.» Das müsse, so finden sie, auch für die SRG gelten, die im Kulturressort nach wie vor eine besonders wichtige Sonderstellung einnehme. «Jüngste Entwicklungen» der SRG zeigten aber, so schreiben die beiden, «dass Kultur auch im Programm der SRG SSR kein Selbstläufer ist (…) Für Kulturakteur:innen ist es somit entscheidend, dass sie mit von der Partie sind, wenn der Stellenwert von Kultur in den Programmen des öffentlichen Rundfunks definiert und diskutiert wird.»

Diesem Satz wäre zu wünschen, dass er in Endlosschlaufe über alle Bildschirme der SRF-Redaktionen flimmert! Denn zurzeit ist es bei SRF zwar Usus, dass im IT- und Management-Bereich bei Bedarf gut bezahlte externe Expert*innen beigezogen werden, als völlig abwegig gilt es jedoch, Kulturschaffende in die zur Zeit laufenden «Innovationsprozesse» einzubinden. 

Konkretes Projekt

Im Netz ortet die «fög»-Studie mögliche Synergieeffekte und plädiert für Kooperationen bei der Nutzung von Infrastrukturen und bei der Verteilung von Kulturinformationen oder – analysen. Und genau hier setzt ein Projekt an, das «ch-intercultur» derzeit entwickelt. 

Der Verein «ch-intercultur», früher «Schweizer Feuilleton-Dienst», will Kulturkritik und Kulturberichterstattung fördern. Er gehört auch zu den Sponsoren der «fög»-Studie und hat den Luzerner Literaturkritiker und Produzenten Beat Mazenauer damit beauftragt, ein mehrsprachiges Begleitmedium für das kulturelle Leben der Schweiz zu konzipieren. Mazenauer ist dafür sicher die richtige Person, denn er handelt seit langem nach der Brechtschen Maxime: Nicht an das gute Alte anknüpfen, sondern an das schlechte Neue! Ein Beispiel für seine Arbeit sind die «3 Minuten Video Rezensionen»: eine neue Form von Literaturkritik, Frucht der Zusammenarbeit mit der visuellen Künstlerin Anna Luchs und dem Filmer Peter Volkart. 

Das Projekt, das Mazenauer für «ch-intercultur» entwickelt, setzt auf Kooperation, Eigenleistung und Innovation. Geboten werden soll, im Netz und ständig aktualisiert, eine Übersicht über das, was es an Kulturberichterstattung und Kulturreflexion andernorts gibt. So könnten Nischen-Juwelen wie z.B. die Rezensionsplattform Viceversa sichtbarer werden. Hinzutreten sollen Eigenleistungen einer zu gründenden Redaktion. Und ein «Labor» soll neue Formen der Kulturbetrachtung erfinden. Umsonst wird all das nicht zu haben sein. Derzeit läuft die Suche nach Sponsoren. Man darf gespannt sein. 


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Felix Schneider, geboren 1948 in Basel. Studium (Deutsch, Französisch, Geschichte). Von Beruf Lehrer im Zweiten Bildungsweg und Journalist, zuletzt Redaktor bei SRF 2 Kultur. Hat die längste Zeit in Frankfurt am Main gelebt, ist ein halber «Schwob».

Unter «kontertext» schreibt eine externe Gruppe Autorinnen und Autoren über Medien und Politik. Sie greift Beiträge aus Medien auf und widerspricht aus politischen, journalistischen, inhaltlichen oder sprachlichen Gründen. Zur Gruppe gehören u.a. Bernhard Bonjour, Rudolf Bussmann, Silvia Henke, Mathias Knauer, Guy Krneta, Alfred Schlienger, Felix Schneider, Linda Stibler, Martina Süess, Ariane Tanner, Rudolf Walther, Christoph Wegmann, Matthias Zehnder. Die Redaktion betreuen wechselnd Mitglieder der Gruppe.

Zum Infosperber-Dossier:

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Eine Meinung zu

  • am 3.04.2021 um 15:41 Uhr
    Permalink

    Dem Umstand, dass in den Feuilletons der Zeitungen die seriöse Kulturberichterstattung durch Geschwätz über Lifestyle, «linke» Korrektheit und People News ersetzt wurde, wird die Studie kaum gerecht. Wenn im Tagesanzeiger vermehrt Artikel über «Mohrenköpfe», das Gendersternchen und das «N-Wort» erscheinen (und um beim letzteren Sachlichkeit vorzutäuschen, muss ein Michael Marti noch hinschreiben, dass es sich beim entsprechenden Wandbild um Kunst handle), so ist das schlicht und einfach das, was der verstorbene Kurt Imhof als Empörungsjournalismus bezeichnet hat, also das Gegenteil von qualitativem Kulturjournalismus. Über die unsägliche Entprofessionalisierung des NZZ-Feuilletons habe ich andernorts genug geschrieben.

    Das oben genannte Beispiel von M4Music zeigt, dass die seriöse Kulturberichterstattung durch PR ersetzt wird. Wenn die TXGroup nicht gerade eigene Produkte bespricht, dann decken sich Ringier und Tamedia gegenseitig mit Gefälligkeitsartikeln ein. So finden ja auch Rapperinnen in der 20Minuten-Postille regelmässig Erwähnung, wenn ein Konzert ansteht, und ein Schweizer Tennisspieler bekommt seine Werbung.

    Die fög-Studie wird den Intuitionen der Leserschaft überhaupt nicht gerecht. Werfen Sie einen Blick auf die Bewertungen der People News bei 20Minuten! Die Relevanz liegt von 20, über 10 bis nur 3 Prozent. Hätte der TA die Bewertungen nicht abgeschafft, würde es ähnlich aussehen. Mit Kulturjournalismus hat das Ganze jedenfalls rein gar nichts mehr zu tun.

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