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Rezo hielt eine fast einstündige Vorlesung – eine wiederentdeckte Art der Kommunikation © cc

Rezo-Video: Trend vom Lesen weg zum Vorlesen wie im Mittelalter

Red. /  Die «Zerstörung der CDU» sahen fast 15 Millionen. Auf diese neue Kommunikation müssen wir uns einstellen, sagt ein Wissenschaftler.

Die fast einstündige Polit-Vorlesung des Rappers Rezo hat Politik, Gesellschaft und Medien in Bewegung gebracht, wie es ein schriftliches Pamphlet nicht gekonnt hätte. Diskutiert in Talkshows – mit plötzlich vielen eingeladenen Jugendlichen –, analysiert in Schulen und debattiert in Parteien.
Jetzt haben sich auch Medienwissenschaftler zu Wort gemeldet. Für Professor Christoph Engemann von der Bauhaus-Universität Weimar ist der Youtuber Rezo ein Beispiel für die Rückkehr zur Form der Vorlesung, wie sie zu Beginn der ersten Universitäten im späten Mittelalter üblich gewesen sei. Damals habe es kaum Bücher gegeben, während sich heute alle ihr Wissen «theoretisch» durch Lesen aneignen könnten, erklärte Engemann im Deutschlandfunk.
Doch heute würden sich die Jungen das Wissen nicht mehr nur gestützt auf Texte aneignen, sondern ebenso mit Podcasts und Youtube-Videos, wo vor allem gesprochen werde.
Rezo habe seine «Vorlesung» mit fast 250 Quellenangaben unterlegt. «Würden alle Studentinnen und Studenten so gut vorbereitet in die Vorlesung kommen, wären wir alle sehr glücklich», meinte Engemann.
Die gleiche Art von Aneignung von Wissen verbreite sich auch im Alltag. Wenn ein Wasserhahn tropft, finde man auf Youtube ein Video, in dem jemand mündlich und mit Bildern erklärt, wie man den Hahn reparieren kann. In den USA gebe es Professoren, deren Videos zwei bis drei Millionen Zugriffe hätten, obwohl sie nicht viel mehr bieten würden als eine Vorlesung. Die Reaktionen in Form von Kommentaren und Videoantworten zeigten, dass sich die Zuhörer mit den Inhalten auseinandersetzen. Ein Problem bestehe darin, dass es «noch keine stabile Form des Zitierens» gebe, was eine Grundlage des wissenschaftlichen Diskurses sei. Engemann ist überzeugt, dass diese neuen Formen der Aneignung von Kultur und Wissen eine Bereicherung darstellen. Auf jeden Fall sei die Jugend mindestens so neugierig und interessiert wie in früheren Zeiten.
«Bücherregal? Noch nie gehört»

Sein Aha-Erlebnis hatte Engemann, als er Studentinnen und Studenten fragte, ob sie zur Vorbereitung den Text gelesen hätten. Hatten sie nicht. Dann fragte er «Haben Sie ein Bücherregal?» «Sie verstanden sie die Frage nicht», erzählte er.
Gleichzeitig fiel dem Medienwissenschaftler auf, wie komplex ihre Form von Wissensvermittlung mit Podcasts, Videos und anderem sei. «Die bilden sich neue Wahrnehmungs- und Sinngebungsstrukturen, wo wir als Leute, die an einer textbasierten Institution ausgebildet wurden, ein Stückweit nicht mitkommen.»
Das sei heute der Konflikt, den beispielsweise auch Parteien mit jungen Wählern auszutragen hätten: «Zwei Formen der Diskursivität versuchen miteinander ins Verstehen zu kommen.»

«Aussergewöhnliche Herausforderung»

Zum Glück habe die CSU auf das Rezo-Video nicht wie anfänglich beabsichtigt mit einem schnellen Video reagiert, meinte Martin Emmer, Professor für Kommunikationswissenschaft an der Freien Universität Berlin. Denn «der Gehalt dieses Rezo-Videos wiegt doch ziemlich schwer und man kann das nicht mit so einem schnellen Video abtun».
Als Grund, weshalb sich die CDU mit einer Reaktion schwer tat, gab Emmer an: «Das ganze politische System ist stark formalisiert und strukturiert. Man kennt sich. Das war bisher eine gut geölte Maschine. Wenn da plötzlich irgendein Akteur aus dem Nichts kommt, den man auch nicht richtig einordnen kann, nicht ein Parteiakteur, keiner der für irgendwelche Interessengruppen steht, eher so ein Halbprominenter in einer bestimmten Generation, der sehr massiv, sehr fundiert und eben sehr gut sichtbar seine Meinung äussert – das irritiert die Politiker natürlich.»

Bewegungen wie «Fridays for Future» würden zeigen, dass junge Menschen versuchen, Politik von aussen zu beeinflussen. Parteien und staatliche Institutionen müssten sich stärker auf den digitalen Wandel der Gesellschaft einstellen. «Vielleicht ist Rezo so eine Art Weckruf, der den Parteien zeigt, dass man auch andere Formen von Politik erproben muss.»
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Hier zum 58-minütigen «Polit-Vortrag», den Rezo kurz vor den Wahlen ins Europaparlament online setzte und den bereits fast 15 Millionen Menschen aufgerufen haben:

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3 Meinungen

  • am 8.06.2019 um 21:42 Uhr
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    Professor Christoph Engemann erklärt uns nun die Rede von Rezo als «neues Medienphänomen» mit mittelalterlichen Wurzeln. Über den Sachinhalt von Rezos Rede verliert er kein Wort. Auch nicht über die Motivation dieses jungen Menschen zu einer solchen medialen Meisterleistung. Was aber, wenn dieser «Thesenanschlag 2019» des Rappers Reto im Kern der Sache näher kommt, als das was Politiker zu wissen oder zu glauben vorgeben? Ein Notschrei in einer durch und durch verlogenen Welt, weit mehr als ein «Medienphänomen».

  • am 10.06.2019 um 10:04 Uhr
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    Ach und wenn mir der Tagesschausprecher, um 6 Uhr abends, die Welt erklärt, dann ist das keine mittelalterliche Praxis? Die alte Generation kann es einfach nicht ertragen, dass sie das Meinungsmonopol verliert. Die Zeiten wo der Vater das Wissen vor dem Kaminfeuer der Familie weitergibt sind vorbei. Die Jungen sind es sich gewohnt, sich Information im Netz selbst zu beschaffen (kann natürlich auch schief gehen), während die ältere Generation sich Wissen, durch Beiträge aus ein oder zwei ihrer Lieblingszeitungen, vorkauen lässt.

  • am 10.06.2019 um 21:36 Uhr
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    Erschüttert über den Inhalt des Videos von Rezo, das wirklich einen unglaublich differenzierten Überblick über die Folgen der Macht des globalisierten Kapitalismus über die Vernunft des Menschen zeigt und den daraus resultierenden Sturz in den Untergang, stehe ich nun wie Sie Herr Schenk unter Schock, wie auch diese Stimme der Wahrheit, dieser Notschrei, wie Sie Herr Schenk es treffend nennen, gezielt desavouiert und erstickt wird. Anna Baur

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