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Die Einkommensschere schliesst sich – könnte man jedenfalls meinen, wenn man die Tamedia-Zeitungen liest. © Depositphotos

«Tages-Anzeiger» verbreitet heile Welt für Wenigverdiener

Marco Diener /  «Die Kluft wird kleiner»: Das behaupten die Tamedia-Zeitungen. Wahr ist: Die Einkommen der Spitzenverdiener stiegen viel stärker.

War das wieder einmal eine Schlagzeile, diese Woche in den Tamedia-Zeitungen: «Schweizer Einkommen: Die Kluft wird kleiner.» Und darunter: «Tiefe Einkommen wachsen am schnellsten.»

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Ein Musterbeispiel für Desinformation.

Die vier Tamedia-Datenjournalisten Dominik Balmer, Patrick Vögeli, Yannick Wiget und Svenson Cornehls sind auf die World-Inequality-Database einer Pariser Wirtschaftsschule gestossen. Aus den Zahlen lesen sie heraus: «Während die Schere zwischen Arm und Reich bei den Vermögen immer weiter aufgeht, ist das bei den Einkommen nicht der Fall. In den vergangenen gut 40 Jahren sind die Einkommen der Wenigverdiener prozentual deutlich stärker gestiegen.»

Wichtig ist das Wort «prozentual.» Doch dazu später.

Berücksichtigt haben die Studienautoren die Einkommen aus Arbeit, Kapital und Renten. Untersucht haben sie Wenig-, Mittel-, Gut-, Sehr-gut- und Spitzenverdiener. Für die Wenigverdiener haben die Autoren die 25-Prozent-Perzentile herangezogen. Das heisst: 25 Prozent verdienen weniger, 75 Prozent verdienen mehr. Für die Spitzenverdiener haben sie die 99,9-Prozent-Perzentile herangezogen.

Herausgekommen ist: Das Einkommen der Wenigverdiener stieg in den betrachteten 43 Jahren um 28 Prozent, das Einkommen der Spitzenverdiener nur um 18 Prozent (siehe Grafik).

Screenshot 2025-12-09 at 15-11-52 Schweiz Warum Ungleichheit beim Einkommen nicht zunimmt
Die Löhne der Wenigverdiener sind angeblich um 28 Prozent gestiegen, die Löhne der Spitzenverdiener um 18 Prozent.

Ob die Zunahme von 28 Prozent viel oder wenig ist, können die Leser nicht beurteilen. Denn im ganzen Artikel steht nicht, ob es sich um Nominal- oder um Reallöhne handelt. Das wäre wichtig zu wissen. Denn die Teuerung betrug in dieser Zeitspanne über 94 Prozent.

Was im Artikel auch nicht steht: Ob es sich um Bruttoeinkommen handelt, um Nettoeinkommen oder um steuerbare Einkommen. Denn gerade bei der Steuererklärung haben Selbständige und Spitzenverdiener ganz andere Möglichkeiten, Einkommen zu verstecken, als Wenigverdiener. Und ob Kapitalbezüge aus der zweiten und der dritten Säule berücksichtigt sind, steht auch nirgends.

Willkürlich gewählter Zeitraum

Der Zeitraum von 1980 bis 2023 ist willkürlich gewählt. Die Datenjournalisten hätten auch die Periode von 2007 bis 2023 betrachten können. Dann hätte sich herausgestellt, dass die Wenigverdiener um 10,0 Prozent zugelegt haben, die Spitzenverdiener hingegen 21,3 Prozent verloren haben. Aber dann wären den Lesern womöglich noch die Tränen gekommen.

Wichtiger als diese Zahlenspielereien ist allerdings, dass wir auf das Wort «prozentual» zurückkommen. Denn von Prozenten können wir uns nichts kaufen: kein Brot, keine Milch, kein Gemüse. Wichtig sind Franken und Rappen. Und da zeigt sich, dass die Wenigverdiener in 43 Jahren um gut 10’000 Franken zugelegt haben, die Spitzenverdiener aber um 180’000 Franken.

Einkommen 1980Einkommen 2023Zunahme in Fr.
25-%-Perzentile37’88048’51010’630
99,9-%-Perzentile1’000’0001’180’000180’000

Das sind eigentlich die relevanten Zahlen. Sie zeigen, dass sich die Kluft weiter öffnet. Aber das wäre für die Tamedia-Zeitungen keine überraschende Schlagzeile gewesen.

Die Zahlen zeigen auch, dass die Spitzenverdiener 1980 «nur» 962’000 Franken mehr verdient haben als die Wenigverdiener. 2023 waren es dann schon 1’130’000 Franken mehr. Die Kluft ist also grösser geworden; Mitleid demnach fehl am Platz.

Dass die prozentualen Veränderungen die wahren Verhältnisse verschleiern und nicht veranschaulichen, zeigen die unten stehenden Grafiken von Infosperber. Oben die Veränderungen in Prozent. Unten die Veränderungen in Franken. Die untere Grafik zeigt, wer in den letzten 43 Jahren wirklich von einem Einkommens-Anstieg profitiert hat.

Einkommen relativ und absolut.xx

Tamedia änderte den Titel

In der Online-Version der Tamedia-Zeitungen hatte der Titel über dem Artikel ursprünglich gelautet: «Neue Daten zu Spitzenlöhnen: Die Kluft bei den Schweizer Einkommen wird kleiner.» Doch dann merkten die Tamedia-Leute wohl selber, dass der Artikel nicht der Weisheit letzter Schluss war. Deshalb korrigierten sie und setzten den neuen Titel: «Die Einkommenskluft wird kleiner – doch Wenigverdiener bräuchten 1200 Jahre, um aufzuholen.»

Auch das ist ein bisschen ungenau. Richtig wären 1395 Jahre. Womit dann im Jahr 3418 n. Chr. die Lohngleichheit erreicht wäre.

Was sind das für Zahlen?

Infosperber hätte gerne mehr über die Zahlen gewusst und fragte deshalb die Tamedia-Redaktion und den St. Galler Wirtschaftsprofessor Reto Föllmi:

  • Handelt es sich um Real- oder um Nominaleinkommen?
  • Handelt es sich um Brutto-, Netto- oder steuerbare Einkommen?
  • Sind Kapitalbezüge aus der 2. Säule berücksichtigt?
  • Sind Kapitalbezüge aus der 3. Säule berücksichtigt?

Föllmi hatte die Zahlen in den Tamedia-Zeitungen kommentiert. Aber die Fragen von Infosperber konnte er nicht beantworten.

Auch die Tamedia-Redaktion reagierte hilflos. Bei den genannten Zahlen handle es sich um Nominaleinkommen, teilte sie mit. Doch wenn die Grafik tatsächlich die Entwicklung der Nominaleinkommen zeigen würde, dann hätten wir in den letzten 43 Jahren riesige Einkommensverluste erlitten. Und zwar über alle Einkommensklassen hinweg. Die Teuerung betrug nämlich zwischen Januar 1980 und Januar 2023 insgesamt 94,3 Prozent.

Deshalb fragte Infosperber nochmals nach. Und siehe da: Jetzt hiess es plötzlich, es handle sich um Realeinkommen.

Nicht beantworten konnte die Tamedia-Redaktion, ob es sich um Brutto-, Netto- oder steuerbare Einkommen handle.

Klar scheint immerhin, dass bei den Renteneinkommen nur die AHV, nicht aber die Renten und Kapitalbezüge der 2. und der 3. Säule berücksichtigt sind. Das verfälscht das Bild massiv, da gerade Spitzenverdiener über Kader-Pensionskassenpläne sehr hoch versichert sind und bei der Pensionierung grosse Kapitalbezüge tätigen können.

Mit anderen Worten: Die ganze Datenanalyse ist wertlos.

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Keine
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