«Sonntags-Zeitung» klärt rätselhaften Scheidungsknick nicht auf
«Wie geht eine gute Scheidung?», fragte die «Sonntags-Zeitung» eine Scheidungsanwältin. Diese schildert Szenen aus ihrem Berufsalltag: Etwa, dass einige Klienten über die Familienfotos streiten. Dass es sich nicht sagen lasse, ob sich reiche oder arme Paare besser scheiden. Und dass sie sich häufig frage, warum ein Paar überhaupt geheiratet hat.
Die Scheidungsanwältin gibt sehr detailliert Auskunft und sagt, dass heutzutage bei 20 bis 25 Prozent ihrer Fälle die Frau dem Mann etwas zahlen muss – und es nicht wie früher immer umgekehrt sei.
Weniger detailliert informiert die «Sonntags-Zeitung». Christian Zürcher und Jacqueline Büchi stellen eine Grafik zum Interview, die viel mehr Fragen offen lässt, als sie beantwortet. «Zwei von fünf Ehen enden in der Scheidung», schreiben sie im Titel über einer wilden Zickzackkurve, deren Enträtselung sie den Leserinnen und Lesern überlassen.

Erstes Rätsel
Zuerst muss eine Rechenaufgabe gelöst werden: Wie viel Prozent sind zwei von fünf? Denn die Werte auf der Koordinatenachse sind in Prozent angegeben. Also: Zwei von fünf sind umgerechnet 40 Prozent. Nun lässt sich auf der Grafik entschlüsseln, dass seit 2020 die Scheidungshäufigkeit tatsächlich so um die 40 Prozent oszilliert.
Doch dann folgt das …
… zweite Rätsel
Vor etwa 25 Jahren stieg die Kurve der Scheidungsrate steil an. Plötzlich betrug sie 50 Prozent. Dem Scheidungs-Boom folgte ein noch steilerer Abfall. Von einem Jahr aufs andere sank die Rate auf nur noch 25 Prozent.
Damit nicht genug: Es gibt ein …
… drittes Rätsel
Das Jahr 2010 dürfte als absolutes Rekord-Scheidungsjahr in die Geschichte eingehen: Die Rate kletterte unvermittelt auf 55 Prozent.
Solche Kapriolen liessen die Redaktion der «Sonntags-Zeitung» aber nicht aufhorchen oder neugierig werden. Sie veröffentlichten die Grafik ohne jede Erklärung und überliessen es den Leserinnen und Lesern, sich einen Reim darauf zu machen.
Infosperber holt nach, was Tamedia versäumt hat.
Zum einen muss man wissen, dass die Scheidungsrate nichts darüber aussagt, wie viele der jetzt geschlossenen Ehen dereinst wieder aufgelöst werden. Die Prozentzahl ist eine simple Verrechnung der Anzahl Heiraten mit der Anzahl Scheidungen im gleichen Jahr.
Der Scheidungsknick von 2000
Zum andern muss man auch wissen: Seit dem Jahr 2000 hat die Schweiz ihr neues Scheidungsrecht. Dieses misst der Schuldfrage weniger Bedeutung zu und fördert die einvernehmliche Scheidung. Diese Umstellung führte dazu, dass die Gerichte 1999 die damals hängigen Scheidungsverfahren nach altem Recht noch im Eilzugtempo durchzogen, weil sie Restanzen vermeiden wollten. Sie kamen damit auf 20’000 Scheidungen. Im darauffolgenden Jahr mussten sie sich dann erst einmal die Routine für das neue Verfahren aneignen und konnten nur noch halb so viele Scheidungen erledigen.
Der Scheidungsknick von 2000 ist also nicht etwa plötzlicher eheliche Minne nach einem Jahr mit grosser Scheidungslust zuzuschreiben, sondern dem reduzierten Arbeitstempo der Richter und Richterinnen.
Der Scheidungsrekord von 2010
Wie 2010 der seltsame Anstieg auf die Rekordscheidungsrate von 55 Prozent zustande kam, lässt sich nur vermuten. Damals trat die neue Schweizerische Zivilprozessordnung in Kraft, welche die 26 kantonalen Zivilprozessordnungen ersetzte. Viele Gerichte dürften deshalb – wie bereits 1999 vor dem neuen Scheidungsrecht – noch schnell alle hängigen Scheidungen nach altem Recht erledigt haben. Denn im Folgejahr kam es wiederum zu einem steilen Abfall der Scheidungsrate.
Ebenfalls im Jahr 2010 hat das Bundesamt für Statistik die Definition der ständigen Wohnbevölkerung geändert. Fortan wurden auch Asylsuchende, die schon über ein Jahr in der Schweiz sind, dazu gezählt. Die Zahl der Scheidungen von Asylsuchenden dürfte allerdings gering – und deshalb kaum die Erklärung für den damaligen Scheidungs-Boom sein.
Übrigens: Jacqueline Büchi von der «Sonntags-Zeitung» erklärt auf die Frage, warum sie die Grafik ohne Erklärung publiziert habe: «Sie war ein ergänzendes Element.» Und weiter: Um die Schwankungen in den Jahren 2000 und 2010 zu erklären, habe die Redaktion nachträglich in der Online-Version eine Fussnote hinzugefügt.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine
_____________________
➔ Solche Artikel sind nur dank Ihren SPENDEN möglich. Spenden an unsere Stiftung können Sie bei den Steuern abziehen.
Mit Twint oder Bank-App auch gleich hier:
_____________________
Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.
Ihre Meinung
Lade Eingabefeld...