Kommentar

kontertext: Sehnsucht nach «Klartext» im Integrationsdiskurs

Silvia Henke ©

Silvia Henke /  Zu einem Schaustück politischer Bildung im Schiff der offenen Kirche in Basel.

Mit seinem Buch «Klartext zur Integration» ist der deutsch-israelische Soziologe Ahmad Mansour überall willkommen: Seine Botschaften, welche er als integrierter Muslim an die Muslime in Deutschland (und der Schweiz) richtet, stossen bei Politikern und Menschen aus allen politischen Lager auf offene Ohren. Entsprechend ist er seit Erscheinen des Buches auf allen medialen Kanälen, in Interviews und auf Podien präsent. So auch in der Elisabethenkirche in Basel, wo das Forum «Basel im Gespräch» regelmässig Diskussionsrunden zu aktuellen gesellschaftlichen Fragen organsiert. Mit Ahmad Mansour versuchten am letzten Dienstag zu diskutieren: Yvette Estermann (Nationalrätin SVP Kriens), Sibel Arslan (Nationalrätin Grüne Basel) und Hasan Kanber, Vorstand SP, Einwohnerrat Pratteln) – alles Politiker «mit Migrationshintergrund». Es gab kein übergeordnetes Thema, man setzte den Abend gleich unter den Titel von Mansours Buch: Die Sehnsucht nach «Klartext» im Integrationsdiskurs gilt unverhohlen als Lockstoff für Publikum.

Einigkeit zu Integration als «Problem»

Und tatsächlich: So viel Einigkeit zum Begriff Integration gab es noch selten in einer öffentlichen «Debatte». Am Ende des Abends gab es viel Applaus für Mansour, und auch Sibel Arslan konnte nur sagen: Besser als er sage es keiner. Seine Thesen sollen hier nicht weiter zusammengefasst werden, nur der Fluchtpunkt seiner Argumentation: Wenn Linke und Integrationsbeauftragte nicht öffentlich zugeben, dass es Probleme gibt in der Integration, dann würden die Rechten das Thema bewirtschaften. Auch die Integrationsbeauftragten in der Schweiz seien naiv, die linken und grünen Parteien übten «falsche Toleranz», vor allem gegenüber patriarchalen und religiösen Sitten. Wer hier leben wolle, müsse sich an die westlichen Werte anpassen oder das Land verlassen. Wie viele das wirklich wollen und doch nicht bleiben dürfen, war kein Thema. So nickte auch Yvette Estermann begeistert. Plötzlich spricht jemand offen von Durchsetzen und Ausschaffen, in der Kirche, und alle klatschen.
Mansour ist ein Charismatiker, eloquent, eifrig und bisweilen auch missionarisch. Von den 90 Minuten des Gesprächs sprach er mindestens die Hälfte der Zeit allein. Da er alle Fragen schon beantwortet hat mit seinem Buch, war Zuhören für ihn nicht wichtig. Nichts konnte ihn bei seinem Monolog bremsen: Die Frage von Thomas Kessler, dem ehemaligen Integrationsbeauftragten in Basel (der im Publikum anwesend war), was er zum kritischen Kommentar zu seinem Interview im Tages-Anzeiger sage, blieb hängen – den Kommentar hat Mansour nicht gelesen, mit Kritik hält er sich nicht auf. Auf den Vorschlag von Sibel Arslan, man könne nicht von Integration als «Bringschuld» sprechen ohne Partizipation anzubieten, ging er nicht ein. Auch die Frage aus dem Publikum, warum sich die Menschenrechte in kolonialen Gebieten nicht so verbreiten konnten und was dies mit der europäischen Vergangenheit zu tun habe, hielt er für überflüssig. Klartext heisst eben auch: Reduktion von Komplexität.

Die Einigkeit, die Mansour in der Elisabethenkirche und auf vielen anderen Foren herstellt, ist nicht nur suspekt, sie ist auch irreführend. Zunächst deshalb, weil sich Mansours «Klartext» eigentlich an die rund 10’000 radikalen Salafisten in Deutschland richtet, an deren archaisches Weltbild, ihre Frauenverachtung, ihren religiösen Fanatismus, an Jugendliche, die am Rand von Extremismus oder bereits in extremistischen Fängen verloren sind für jeden aufgeklärten Diskurs – und mit welchen Mansour regelmässig im Gespräch ist. Die erzieherische Botschaft in seinem «Klartext» richtet sich also an wenige, gehört wird sie aber von sehr vielen. Mansour beweist mit rasanter Deutlichkeit die Wirkkraft des Begriffs «Integration». Integration, das hat die soziologische Forschung längst benannt, dient als Trennfigur zwischen einem imaginären Wir und den Andern. Sie sichert das Normale und die verbindenden Werte einer Gesellschaft, indem sie die Grenzen der Zugehörigkeit festlegt. Und dort springt der affektive Funke schnell über: Offiziell geht es zwar um die radikalen Salafisten, nicht integriert ist aber bereits einer, der die Regel der «Plaketten» an der Basler Fasnacht nicht kennt. Insofern beinhaltet Integration immer schon den Hinweis auf ein Problem. Und in Verbindung mit «Klartext» zur Integration kommt zum Problem nun die Lösung: Werte vermitteln, integrieren oder ausschaffen. Mansours Diskurs folgt nämlich einer Utopie der Regeln, die unsere Gesellschaft in Zeiten wirtschaftlicher Deregulierung beseelt. Als ob wir alles geregelt hätten und nun nur noch die Migranten zu westlichen Menschen erziehen müssten. Mit mindestens zwei Fragen aber muss er konfrontiert werden.

Integrationsdiskurs als Deckmantel für ein Sanktionssystem

Unbestritten und richtig sind Mansours Thesen zur Notwendigkeit politischer Bildung für alle Migranten. Die Aufdeckung der Ängste unter männlichen Migranten bezüglich Gleichberechtigung und freier Sexualnormen liefert gewiss neue Einsichten in die männliche Psyche junger Muslime. Das Problem dabei ist: Wenn man einseitig die Ängste ausleuchtet, die muslimische Männer vor westlichen Normen haben, blendet man aus, wovor die Mehrheitsgesellschaft Angst hat. Methodisch gesehen mag es richtig sein etwas auszublenden, um in einer Richtung Klarheit zu erhalten. Für eine öffentliche politische Debatte ist es gefährlich. Vor dem Hintergrund, dass vor zwei Wochen in Basel ein albanischer Junge von einer alten weissen Frau auf dem Schulweg mit einem Messer getötet wurde (niemand spricht von deren Rassismus, sondern von fehlender Schuldfähigkeit); vor dem Hintergrund der neuen Initiative der SVP gegen die Anti-Rassismusnorm; vor dem Hintergrund der steigenden Delikte von rechtsextremen Einzeltätern in Deutschland oder auch eingedenk dessen, dass sich im Schutz der «Narrenfreiheit» an der Basler Fasnacht Rechtsextreme gegen «people of colour» outen und solidarisieren konnten, schafft ein Diskurs, wie ihn Mansour vertritt, nicht Klarheit über Integration, sondern einfach ein falsches Gewicht. Er spielt den falschen Leuten in die Hände; man brauchte im Vorfeld der Veranstaltung von «Basel im Gespräch» nur die Kommentare auf Facebook zu lesen.
Das aggressive Integrationsgebot richtet sich schnell auf jedes abweichende männliche Verhalten oder Aussehen, denn gerade die islamophoben Kreise der Gesellschaft denken in der Regel nicht juristisch, sie denken emotional. Deshalb schürt der Ruf nach «Integration», nach klaren Regeln und klaren Problemlösungen den täglichen Rassismus. Dass niemand auf dem Podium darüber sprach, dass Sibel Arslan kaum zu Wort kommen konnte mit ihrem Hinweis auf die Voraussetzungen von gelingendem Ankommen in einer Gesellschaft ist ebenso bedenklich wie symptomatisch. Denn die latente Schuldzuweisung in Mansours Rede («Integration ist Bringschuld») ist Teil eines Sanktionssystems, das nicht nur Schuld, sondern Strafe und Scheitern impliziert.

Anpassung und Anerkennung

Leider war auf dem Podium niemand von der Schweizerischen Konferenz der Integrationsbeauftragten vertreten, die von Mansour pauschal als naiv bezeichnet wurden.
Hätte man statt Politiker mit Migrationshintergrund jemanden aus der Migrationspädagogik einbezogen, wären nicht nur leisere Töne möglich geworden, sondern vor allem ein Bewusstsein dafür, wie anspruchsvoll und kompliziert es ist, unterschiedliche Werte zu vermitteln und im konkreten Zusammenleben oder in der Schule zu teilen. Dafür braucht es keine lauten Reden, sondern interkulturelle Bildung und entsprechende Budgets. Und vielleicht auch etwas Phantasie. Mansours Technik, den Migranten die westlichen Werte ‘auf die Nase zu knallen’ mag bei bestimmten männlichen Jugendlichen richtig sein: Wie weit sie pädagogisch tatsächlich wirkt, lässt sich kaum belegen.
Gott sei Dank gab es in Basel nun einen weiteren Teilnehmer auf dem Podium, der mit seiner besonnenen Art ein Beispiel gab, wie es auch gehen könnte: Hasan Kanber, der SP-Einwohnerrat von Pratteln, erzählte mit angenehm leiser Stimme etwas Unspektakuläres, ganz nebenbei. Er traf damit aber etwas Zentrales, auch wenn dies – ausgerechnet im Bauch der offenen Kirche – niemand bemerkte. Er erzählte ganz bescheiden vom Beschneidungsfest seines kleinen Sohnes, zu dem man alle Bekannten, Schweizer und Türken, eingeladen habe. Er erzählte also von einer kleinen sozialen Praxis der Vergemeinschaftung, die nicht auf Integration und Anpassung beruht, sondern auf dem Teilen eines religiösen Rituals.
Kanber war somit der einzige in der Runde, der als Sohn eines Miethausabwartes zwar weiss, dass zugezogene Menschen sich anpassen müssen und können, dass sie Regeln verstehen – und dass sie doch anders bleiben dürfen. Das ging leider gleich unter, als Mansour laut erklärte, dass er selber so rückständige Praktiken wie Beschneidung nicht feiere. Damit jedoch schüttet er all dies zu, was Philosophen wie Jürgen Habermas und Navid Kermani und Migrationspädagogen wie Paul Mecheril geöffnet haben. Zum Beispiel die Erkenntnis, dass der Begriff «Integration» Menschen als «Elemente» sieht ohne eigene biographische Subjektivität und ohne kulturelle Widerständigkeit. Zum Beispiel die Tatsache, dass Islam und Frauenverachtung nicht synonym sind. Und auch die weitreichende Erkenntnis, dass wir nicht in einer zu Ende säkularisierten Gesellschaft leben, sondern gesellschaftliche Szenarien brauchen, in welchen religiöse und säkulare Werte gemeinsam in Erscheinung treten können, unabhängig in welcher Zahl und welcher Konfession.
Insofern wäre Kanbers kleines Beispiel hervorragend geeignet gewesen, um über richtige und «falsche» Toleranz und über Religionsfreiheit als «kulturell-biographische Form der Anerkennung» zu sprechen (vgl. etwa Krassimir Stojanov, «Bildungsgerechtigkeit», Springer 2011). Integrationsbeauftragte sollten mithin nicht das Buch von Mansour lesen, sondern zu pädagogischen Forschungsergebnissen greifen, die – ohne die Propaganda von Scheinlösungen – Erfahrungen der inter- und transkulturellen Übersetzung beschreiben.


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Silvia Henke ist Literatur- und Kulturwissenschaftlerin und Publizistin. Sie unterrichtet an der Hochschule Luzern Design & Kunst u.a. Kunst und Politik und visuelle Kultur. Forschungsschwerpunkte sind Kunst & Religion, künstlerisches Denken, transkulturelle Kunstpädagogik. Sie interessiert sich grundsätzlich für die Widersprüche der Gegenwart, wie sie auch in der Medienlandschaft auftauchen, und veröffentlicht regelmässig Texte und Kolumnen in Magazinen und Anthologien.

    Unter «kontertext» schreibt eine externe Gruppe Autorinnen und Autoren über Medien und Politik. Sie greift Beiträge aus Medien auf und widerspricht aus politischen, journalistischen, inhaltlichen oder sprachlichen Gründen. Zur Gruppe gehören u.a. Bernhard Bonjour, Rudolf Bussmann (Redaktion, Koordination), Silvia Henke, Mathias Knauer, Guy Krneta, Alfred Schlienger, Felix Schneider, Linda Stibler, Ariane Tanner, Rudolf Walther, Matthias Zehnder.

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5 Meinungen

  • am 3.04.2019 um 12:19 Uhr
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    „Salam aleikum“ ist eine arabische Grußformel und wird zur Begrüßung gesagt. Als Antwort wird „wa aleikum as-Salam“ erwidert. „Salam aleikum“ heißt auf deutsch: „Friede sei mit dir/euch“. Die Grussformel gab es ja auch mal im Ur-Christentum.

    Menschen mit einer extremen Geisteshaltung testen das verführerische Freiheits-Ideal, aber frei nach Goethe,
    "Am unfreiesten sind die, die fälschlicherweise «glauben», frei zu sein.

    Ein freudiges Mit-Ein-Ander gelingt nur in der immer wieder neu abzustimmenden Kombination von Frieden UND Freiheit. Nicht nur die Religions-Freiheit ist allfällig zu beschneiden, wenn sie den inneren Frieden in einer Gesellschaft übermässig schadet.

    Wieso also nicht bei den Salifisten anfangen, die mehr Interesse an ihrem von böswilligen geistlichen Verführern eingeredetem egozentrischen Seelenfrieden haben, als am GUT des friedlichen Mit-Ein-Ander.

  • am 3.04.2019 um 13:01 Uhr
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    "Klartext zu Integration», vielleicht das einzige Buch von Ahmad Mansour, das ich noch nicht gelesen habe. Ich bin da zunehmend skeptisch. Mansour predigt «Integration» und meint damit «Korrektur von Erziehung», die vorher schief gelaufen ist. Wo diese schief gelaufen ist und warum, darüber sagt er wenig. Unter «Integration» versteht er ein riesiges Reparaturprojekt, das von einem missbrauchten «Islam» verursacht wird. Aber die Machthaber dieses Islam wollen diese Reparatur nicht. Für sie ist auch Mansour ein Konvertit, ein vom richtigen Glauben abgefallener. Den Islam, den Mansour sich vorstellt, wird es nicht geben.
    So lange Religion von der Macht nicht getrennt werden kann, wie es Trennung von Kirche und Staat verlangt, wird keine «Integration» gelingen. Dies gilt für die christliche Religion wie für den Islam.
    Gnade uns, wenn etwa die katholische Kirche zu alter Macht zurückkehren könnte! Integration hiesse dann Inquisition, wie beim Islam bis heute.

  • am 3.04.2019 um 13:22 Uhr
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    Ein kurzer Nachtrag: In seinem Buch «Generation Allah» postuliert Mansour in Kapitel 4 «Wider den blinden Fleck in der Gesellschaft» zehn konkrete Vorschläge für die Bekämpfung des Problems «Radikalisierung». In Deutschland, nicht etwa in islamischen Diktaturen. Vorschläge gegen die Ursachen des Problems fehlen. Hier liegt der «blinde Fleck"!

  • am 4.04.2019 um 20:49 Uhr
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    Integration ist tatsächlich eine „Bringschuld“: Wer als Gast in ein fremdes Land kommt, der oder die muss Gesetze und Regeln des Gastlandes akzeptieren und respektieren. Sonst passiert, was wir mit Erschrecken in Frankreich und Deutschland sehen: Rückständige Parallelgesellschaften entstehen in einzelnen Quartieren, wo religiös verbrämtes Faustrecht herrscht und der fortschrittliche Rechtsstaat nur noch verspottet wird – Polizei kann Kinder und Frauen da nicht mehr schützen. Insbesondere Frauen werden oft total entrechtet und verschachert. Danke darum an Herrn Mansour, der diesbezüglich Klartext redet und fordert. Sehr zu Recht sagt er, dass es bei derart rückständig-gewalttätigen Praktiken, wie der sexuellen Verstümmelung von Kleinkindern sicher nichts „zu feiern“ gebe. Die Darstellung einer religiös verbrämten, aber nichts desto trotz perversen Körperverletzung an kleinsten Knäblein als „kleine, soziale Praxis der Vergemeinschaftung“ ist Opfer verachtend und inakzeptabel! Dass solche Gewalt gegen Wehrlose oft gar mit Todesfolgen endet, konnte man jetzt gerade wieder lesen. Jürgen Habermas hat damit sicher nichts zu tun! Oder hat er Kinderverstümmelungen je verteidigt? Und wenn ja, wo genau?
    Klara Maria Iseli

  • am 8.04.2019 um 17:41 Uhr
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    "Integrationsbeauftragte sollten mithin nicht das Buch von Mansour lesen, sondern zu pädagogischen Forschungsergebnissen greifen, die – ohne die Propaganda von Scheinlösungen – Erfahrungen der inter- und transkulturellen Übersetzung beschreiben."

    Ich kann diesen Ratschlag nicht unterstützen. Ich finde eher, sie sollten das Buch lesen, UND zusätzlich pädagogische Forschungsergebnisse (auch da gibt es viele, und nicht alle kommen zum gleichen Schluss…) zur Kenntnis nehmen.

    Es ist keine gute Idee, Bücher auf den Index zu setzen.

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