Das Märchen von der Gerontokratie
Eigentlich stammt die Idee vom verstorbenen Mundartrocker Polo Hofer: Er hatte vorgeschlagen, «dass man ein Stimmverbot ab 70 Jahren in Erwägung ziehen könnte, wenn einmal mehr als die Hälfte der Bevölkerung pensioniert wäre». Das war vor 34 Jahren.
Aus dem Jahr 1991
Für die Tamedia-Zeitungen ist Hofers Idee aus dem Jahr 1991 aktueller denn je. Seit Anfang Oktober stellen sie die Frage: «Entwickelt sich die Schweiz zu einer Gerontokratie?» Gerontokratie bedeutet: Herrschaft der Alten. Anlass zur Sorge geben den Tamedia-Leuten das Ja zur 13. AHV-Rente und das Ja zur Abschaffung von Eigenmietwert-, Schuldzins- und Unterhaltsabzügen.
Im Interview mit den Tamedia-Zeitungen bejahte die Politologin Rahel Freiburghaus die Frage nach der Gerontokratie: «Es gibt Prognosen, wonach schon Mitte der 2030er Jahre das Durchschnittsalter der Abstimmenden deutlich über 60 Jahren liegen wird. Da verschiebt sich gerade etwas Grundlegendes.»
«Wahlrecht ab einem gewissen Alter streichen»
Und sie schlug vor: «Um die Entwicklung zur Gerontokratie zumindest zu verlangsamen, müssten wir früher im politischen Prozess ansetzen. Junge Stimmen stärker gewichten oder sogar das Wahlrecht ab einem gewissen Alter zu streichen, würde die Dominanz der Senioren brechen.»
Das Resultat war das gleiche wie vor 34 Jahren: Damals bekam Polo Hofer aufs Dach. Diesmal Rahel Freiburghaus. Und zwar so richtig: Fast 700 Kommentare gibt es auf der Website der Tamedia-Zeitungen. Und viele davon sind nicht sehr freundlich.
«Stark missverstanden»
Eine Woche später ruderte die Politologin zurück: «Ich fühle mich stark missverstanden, wenn man mir nun unterstellt, dass ich älteren Menschen das Wahlrecht entziehen wolle.» «Tages-Anzeiger»-Redaktor Philipp Loser eilte ihr zu Hilfe und schrieb: «Freiburghaus verlangte lediglich, dass solche Möglichkeiten diskutiert werden müssten.»
Sein Redaktionskollege Sandro Benini lieferte seinerseits Argumente für eine Beschränkung des Stimmrechts von älteren Menschen: «Eine wachsende Zahl von alten Menschen mit kurzer Zukunft bestimmt über die lange Zukunft der Jungen. Konfrontiert mit den Folgen ihrer Entscheide sind die Alten nicht oder lediglich während einer vergleichsweise kurzen Zeitspanne.»
Er stellt deshalb weitere Vorschläge vor: Die Stimmen älterer Menschen könnten weniger stark gewichtet werden. Und ab einem gewissen Alter könnten Stimm- und Wahlrecht ganz erlöschen. Oder Familien könnten «im Sinne eines Familienwahlrechts für jedes Kind je eine halbe zusätzliche Stimme erhalten». Und natürlich: Stimmrechtsalter 16.
«Die Überalterung»
Schliesslich meldeten sich Rahel Freiburghaus und ihr Doktorvater Adrian Vatter nochmals zu Wort. Doch ihr Artikel enthielt wenig Substanz.
- Sie schrieben: «Wenn die älteren an der Urne dominieren, droht die Politik auf Kosten der kommenden Generationen kurzfristig zu handeln.» Beispiele für diese These lieferten sie nicht.
- Sie schrieben: «Die Überalterung der Schweiz schreitet zügig voran.» Dass «Überalterung» ein despektierliches Unwort ist, sollte inzwischen auch bei den Politologen angekommen sein.
- Und sie schrieben: «Was graue Mehrheiten für unsere Demokratie bedeuten.» Was «graue Mehrheiten» sind, liessen sie offen.
Die Tamedia-Zeitungen befragten auch einen anderen Politologen, Michael Herrmann. Er äusserte sich ebenfalls ziemlich flapsig: «Wir werden immer mehr zu einem Verein von Seniorinnen und Senioren. Und in einem Seniorenverein bestimmen nun einmal die Senioren.»
«Gegen den Willen der Jungen»
Sukkurs leistete auch hier «Tages-Anzeiger»-Redaktor Sandro Benini: «Ältere Generationen können ihre Interessen gegen den Willen der Jungen durchsetzen. Nicht nur, weil es immer mehr Alte und immer weniger Junge gibt, sondern auch, weil Seniorinnen und Senioren deutlich häufiger an die Urne gehen.»
Doch das Problem ist nicht, dass die Alten fleissig an die Urne gehen. Das Problem ist vielmehr, dass die Jungen das nicht tun. Die Stimm- und Wahlbeteiligung ist bei den unter 65-Jährigen normalerweise etwas halb so gross wie bei den Pensionierten. Eine detaillierte Auswertung hat die Stadt St. Gallen nach der Abstimmung vom 18. Mai vorgenommen. Sie zeigt die Stimmbeteiligung in den verschiedenen Altersklassen.
Angebliche Gerontokraten sind eine Minderheit
Was Tamedia-Journalisten und Politologen sträflich versäumt haben – das ist die Konsultation der Zahlen des Bundeamts für Statistik. Sie zeigen:
- Ende 2024 gab es rund 5,4 Millionen Schweizer und Schweizerinnen, die älter sind als 18 Jahre – also stimm- und wahlberechtigt.
- Die 18- bis 64-Jährigen machen davon 71 Prozent aus.
- Die Älteren machen bloss 29 Prozent aus.
Mit anderen Worten: Von einer Gerontokratie kann keine Rede sein.
Die Alten sind in der Minderheit. Aber mehrheitlich nehmen sie ihre demokratischen Rechte wahr. Die Jungen nicht. Das ist das eigentliche Thema, das Journalisten und Politologen beschäftigen müsste. Und dann würden alle Diskussionen über «Überalterung» und Gerontokratie überflüssig.
Auch SRF
Kaum war der erste Artikel zur Gerontokratie in den Tamedia-Zeitungen erschienen, sprang auch SRF auf den Zug auf. Immer mehr Ältere würden zur Urne gehen und die Politik bestimmen, schrieb SRF. Und warf die Frage auf: «Wie fair ist das für die Jungen, und was muss sich ändern?»
Das Problem laut SRF: «Die Älteren sind nicht nur interessierter, sie sind auch in der Überzahl.» Zahlen, welche die Behauptung von der Überzahl stützen würden, lieferte SRF allerdings nicht.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine. Der Autor gehört zur Gruppe der «Jungen» im Alter von 18 bis 64 Jahren. Er geht trotzdem jedes Mal stimmen und wählen.
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