Ambulanz Grossbritannien

Bis eine Ambulanz kommt, dauert es in Grossbritannien mancherorts über eine Stunde. © daryl22996 / Depositphotos

UK: Über sieben Millionen Menschen warten auf ein Spitalbett

Martina Frei /  Die Zustände im britischen Gesundheitswesen sind desaströs. Viele Spitäler sind heruntergewirtschaftet. (1)

Etwa 7’100’000 Menschen in Grossbritannien warteten Ende September 2022 auf eine Spitalbehandlung. Das ist der höchste Wert seit Beginn der Aufzeichnungen im Jahr 2007. Vor der Pandemie waren es 4,4 Millionen gewesen. In den ärmeren Gegenden verlängerten sich die Wartelisten stärker als in reichen.

Rund 400’000 dieser wartenden Kranken müssen sich schon über ein Jahr lang gedulden. Eine Prognose ging 2021 sogar von einer künftigen Warteliste mit 13 Millionen Patientinnen und Patienten aus. 

Notfälle müssen im Ambulanzwagen ausharren

Selbst Notfälle brauchen viel Geduld: In Cornwall dauerte es in den letzten beiden Jahren durchschnittlich eine Stunde und 40 Minuten, bis die Ambulanz eintraf – viel zu lang, um beispielsweise Menschen mit einem Schlaganfall bestmöglich zu helfen. Die Chance, einen Herzinfarkt oder einen Schlaganfall (ohne Behinderung) zu überleben, steigt oder fällt in Grossbritannien mit dem Wohnort. Zu den Gegenden mit der grössten Wahrscheinlichkeit auf rasches Eintreffen der Ambulanz zählen die Londoner Nobelviertel Chelsea und Kensington mit durchschnittlich sechs Minuten, bis die Ambulanz da ist.

Eine 93-jährige Waliserin habe nach einem Hüftbruch 25 Stunden lang unter grossen Schmerzen daheim am Boden gelegen, bevor ein Rettungswagen kam – «und das, obwohl ihre Familie wieder und wieder beim Notdienst angerufen hatte», schrieb der «Tages-Anzeiger«.

Hüftbruch: Nach 40 Stunden ein Spitalbett erhalten

Auch wenn die Retter kommen, geht das Warten oft weiter: Ende November musste etwa einer von sieben Patienten, die von der Ambulanz in ein Spital gebracht wurden, im Fahrzeug mehr als eine Stunde ausharren, bis er oder sie im Spital drankam. Denn die Spitäler und die Notaufnahmen waren so überfüllt, dass es einfach nicht schneller ging.

Die «BBC» berichtete kürzlich von einer 85-jährigen Frau, die mit gebrochener Hüfte unter starken Schmerzen zuerst 14 Stunden zu Hause auf die Ambulanz wartete. Danach harrte sie im Ambulanzfahrzeug weitere 26 Stunden aus, bis sie ins Spital aufgenommen wurde. Denn etwa 30 Ambulanzfahrzeuge hätten vor dem «Royal Cornwall Hospital» Schlange gestanden, so die «BBC». Schliesslich habe es nochmals «viele Stunden» gedauert, bis die Seniorin operiert wurde. 

Laut dem «British Medical Journal» (BMJ) warteten Ende November 2022 jede Woche circa 11’000 Personen über eine Stunde in einem Ambulanzfahrzeug darauf, dass sie in ein britisches Spital eingelassen wurden. Das ist der höchste Wert seit Beginn der Aufzeichnungen im Jahr 2010. Die Ambulanzwagen stauen sich vor vielen britischen Spitälern. Die Folge: «Bei einem von vier Notrufen kann kein Krankenwagen geschickt werden, da die im Stau stehen, vor den Ambulanzen. Und weil niemand dort ist, um den Patient entgegenzunehmen. Kein Bett frei. 5’000 Personen, so ein NHS-Report, sei dadurch allein im Oktober ein ‹schwerer Schaden› zugefügt worden›, berichtete das «ZDF».

Vorgaben können längst nicht mehr eingehalten werden

Eigentlich sollte die Übergabe eines Patienten von der Ambulanz ans Spital innerhalb von 15 Minuten erfolgen und innerhalb von einer Stunde nach Notaufnahme soll der oder die Kranke ein Spitalbett zugewiesen bekommen. Doch diese Zielvorgabe ist längst Makulatur. Selbst Top-Notfallambulanzen mit 24-Stunden-Dienst konnten die Vorgabe bereits im Sommer 2021 nur noch bei zwei Drittel der Patienten einhalten. 24 oder 48 Stunden in der Notaufnahme zu warten, bis endlich ein Bett auf der Station frei werde, sei zur Norm geworden, schreibt eine Britin, die anonym bleiben möchte. «Wir haben uns völlig daran gewöhnt.»

Auch die frühere Massgabe, dass 95 Prozent aller Patienten und Patientinnen in der Notfallambulanz innerhalb von vier Stunden medizinisch versorgt werden, ist schon lange Makulatur. In der Praxis wird sie dem «BMJ» zufolge seit 2015 nicht mehr erreicht. Das hänge auch damit zusammen, dass die Anzahl der Personen, die eine Notfallstation aufsuchen, in den letzten 15 Jahren um 40 Prozent gestiegen sei, während gleichzeitig bei den Spitalbetten abgebaut wurde, in den letzten 30 Jahren um die Hälfte.

Grafik Anzahl der Spitalbetten in England
In den letzten 30 Jahren wurden in England die Hälfte der Spitalbetten abgebaut.

Die «Betten-Blockierer», die nichts dafür können

Bereits im Juni 2019, also vor der Pandemie, sei die Lage bei den Spitalbetten überstrapaziert gewesen, zitierte der Kings Fund den Geschäftsführer von NHS England. Während der Pandemie wurden weitere Betten abgebaut, unter anderem aus Infektionsschutzgründen und um mehr Intensivbetten zu schaffen.

Ein weiteres, ungelöstes Problem sind die «Betten-Blockierer». Gemeint sind damit alte oder behinderte Menschen, die nach ihrer Spitalbehandlung notgedrungen noch wochen- oder sogar monatelang im Spital liegen müssen – aus Mangel an häuslichen Pflege- und Heimplätzen.

«Grösste personelle Krise in der Geschichte»

Verschärft wird alles durch den Personalmangel. Der nationale Gesundheitsdienst NHS und das Sozialwesen stünden vor der grössten personellen Krise in ihrer Geschichte. Zu diesem Schluss kam ein Parlamentsbericht im Juni 2022. Über 50’000 Pflegekräfte und Hebammen plus 12’000 Ärztinnen und Ärzte fehlten allein dem NHS in England derzeit, berichtete das «BMJ». Um beispielsweise die Sicherheit für Mutter und Kind bei Geburten gewährleisten zu können, bräuchte es zusätzliche 2’000 Hebammen und 500 ärztliche Geburtshelferinnen – tatsächlich sei die Anzahl der Hebammen zwischen März 2021 und März 2022 aber um über 550 gesunken. 

Bei der fach- und spitalärztlichen Versorgung waren im September 2022 sogar über 133’000 Stellen unbesetzt. Bereits ein Jahr zuvor fehlten allein 1’400 Narkoseärztinnen und -ärzte. Dieser Mangel könne dazu führen, dass jährlich über eine Million chirurgischer Eingriffe nicht machbar seien, warnte der Präsident des «Royal College of Anaesthesists». 

Weil sie die massiv steigenden Lebenshaltungskosten mit ihren Löhnen nicht mehr abdecken können, müssten einige Pflegende bereits «karitative Hilfe in Form von Lebensmittel-Versorgung durch sogenannte ‹food banks› in Anspruch nehmen. Manche tragen offenbar Essensreste ihrer Patienten mit sich nach Haus», berichtet der Grossbritannien-Korrespondent Peter Nonnenmacher. «Ebenso überforderte wie unterbezahlte Schwestern und Pfleger» hätten sich in den letzten Jahren «in Scharen» vom Gesundheitsdienst verabschiedet. «Die Reallöhne sind seit 2010 kontinuierlich gesunken. Die derzeitige Inflationsrate liegt rekordhoch, bei elf Prozent. Und für die nächsten zwei Jahre hat der britische Rechnungshof weitere Einbrüche des Lebensniveaus um mindestens sieben Prozent vorausgesagt.»

Abwasser tropft von der Decke

Dazu kommen teilweise stark sanierungsbedürftige Gebäude, wie eine Umfrage zu Gesundheitseinrichtungen des NHS ergab. Rund 60 Prozent der Teilnehmenden gaben bei der Umfrage an, der Gebäudezustand sei sehr gut (8,3 Prozent der Antworten) bis akzeptabel (33,3 Prozent). Die unzufriedenen Ärztinnen und Ärzte schilderten jedoch erschreckende Zustände: «Häufig treten Abwässer durch die Decke aus, manchmal sind ganze Entbindungsbecken voller kontaminierter Flüssigkeit. Diese Flüssigkeit läuft oft auf Computer, Notizen und Personal aus. Die Beseitigung dieses Problems und der Verlust von Personal aufgrund der Umgebung haben zu Verzögerungen bei der Patientenversorgung geführt», berichtete einer.

«Milben in der Neugeborenenstation, Abwasser, das durch undichte Stellen in die Patientenpflegebereiche gelangt, Brände in der Notaufnahme usw. – all das habe ich schon erlebt», schrieb ein anderer Arzt, und ein weiterer notierte: «Die Krankenhäuser sind ekelerregend. Die Farbe blättert ab, die Decken sind undicht, die Pausenräume ekelhaft.»

Kein Wunder, dass für viel Geld ausgebildete Fachkräfte in solchen Anstalten abspringen: «Jeder Tag, an dem ich in einem schäbigen, stinkenden Gebäude mit abblätternder Farbe, losen Griffen, schlecht belüfteten und brütend heissen Büros und losen und pockennarbigen Toilettensitzen zur Arbeit gehe, bringt mich näher an den Tag, an dem ich dieses verfallende System für immer verlasse.»

«Gefährlich hohe Bettenbelegungsraten»

Unter der Arbeitsbelastung leidet die Patientensicherheit. Spitäler würden bei einer Bettenauslastung von 85 Prozent am sichersten und effizientesten arbeiten, zitierte das «BMJ» im Sommer 2021 einen Fachmann. Doch schon damals gaben 82 von 219 lokalen NHS-Einheiten (sogenannte «Trusts») an, dass sie diese Rate überschritten hätten. 35 Trusts wiesen eine Bettenbelegung von über 90 Prozent auf und sechs sogar über 95 Prozent. Das «BMJ» berichtete von «gefährlich hohen Bettenbelegungsraten». 

Diese haben sich aktuell weiter verschärft. 

Anfang Dezember lag die Bettenbelegungsrate bei 95,4 Prozent. Dieser Wert übersteigt selbst die 90 respektive 92 Prozent, die das «Nationale Institut für Klinische Exzellenz» (NICE) und das NHS für sinnvoll halten. Das «BMJ» schrieb Anfang Dezember 2022 vom «perfekten Sturm», dem sich das nationale Gesundheitssystem nun gegenüber sehe. Innerhalb einer Woche stiegen die Spitaleinweisungen wegen Grippe um 40 Prozent, hinzu kam ein Mehr an Patienten mit Norovirus-Infektionen. Neun von zehn Kinderintensivbetten waren belegt. 

Zum Vergleich: Von 2017 bis 2020 (vor der Pandemie) lag die Bettenauslastung in Grossbritannien zwischen 87 und 88 Prozent.

«Wiederkehrende Winterkrisen»

«Es ist nicht unerwartet, dass wir uns – schon wieder – mitten in einer wiederkehrenden Winterkrise befinden», schrieb der Professor für Evidenzbasierte Medizin Carl Heneghan von der Universität Oxford in einem Blog. Darin berichtet er von einer schwerkranken Frau, die sich weigert ins Spital zu gehen. «Spitäler sind furchterregende Orte und deshalb überrascht es mich nicht, wenn die Leute nicht hingehen wollen.»

Im letzten Jahrzehnt sei die Zahl an allgemeinen und Akutbetten um fast sieben Prozent abgebaut worden. Im europäischen Ländervergleich gehört Grossbritannnien seit Jahren zu den Ländern mit den wenigsten Spitalbetten pro 1’000 Einwohner. Es werde angenommen, dass viele Patienten zu Hause behandelt werden könnten – «die Erfahrung zeigt mir, dass das nicht der Fall ist», schreibt Heneghan.  

Grafik Spitalbetten pro 1000 Einwohner Ländervergleich Europa
Bei den Spitalbetten pro 1’000 Einwohner bildet Grossbritannien in Europa fast das Schlusslicht. Nur Schweden hat noch weniger.

Auf die Ratschläge von Beratern gehört

Die Leserkommentare zu Heneghans Artikel zeichnen dasselbe traurige Bild. Aus Angst, sich eine Spitalinfektion zu holen, sei eine Patientin mit einer Lungenentzündung aus der Intensivstation abgehauen, berichtet ein Leser. Und eine Leserin schreibt aus Kanada, das komme ihr alles sehr bekannt vor: Die dortigen Gesundheitsminister hätten «Ressourcen auf die Gemeinschaft» verlagert, was ein beschönigender Ausdruck sei für zunehmend private Bezahlung. Viele der eingeführten Massnahmen hätten auf den Ratschlägen von Beratern basiert, «die viel Geld damit verdient haben, Regierungen dabei zu helfen, Chaos und Elend zu verursachen. Anstatt diese Massnahmen zu bewerten, machen die politischen Entscheidungsträger nun Covid und Atemwegserkrankungen für den erhöhten Druck auf den Krankenhaussektor verantwortlich.»

Angesichts der Zustände werden in Grossbritannien jetzt Überlegungen angestellt, den Routinebetrieb in britischen Spitälern von fünf auf sieben Tagen die Woche auszuweiten, um den Überhang an wartenden Patienten abbauen zu können. Ob das die Lösung für die Probleme ist, darf bezweifelt werden.

Wer es sich leisten kann, bezahlt selbst

Rund vier der insgesamt 67 Millionen Briten sind – meist über ihre Arbeitgebenden – privat krankenversichert. Sie könnten die langen Warteschlangen im NHS überspringen und sich «heraus kaufen», wie der «Guardian» schrieb. Denn in britischen Privatspitälern erhalten Patientinnen und Patienten viel rascher eine Behandlung als in den öffentlichen. Auch Kranke, die verzweifelt genug sind oder genügend Geld haben, um ihre Ärzte selbst zu bezahlen, können innert Tagen einen Konsultationstermin bekommen.

In einer Umfrage gab jede achte befragte Person an, sich während der Pandemie benötigte medizinische Hilfe aus eigener Tasche erkauft zu haben. Jede fünfte befragte Person trug sich mit dem Gedanken, dies zu tun. Von den G7-Staaten sei Grossbritannien das Land mit dem stärksten Anstieg an selbst bezahlten Gesundheitskosten, berichtete das «BMJ» und zitierte einen Wissenschaftler: Es bestehe das Risiko, sagte er, dass die Vorstellung, für die bestmögliche Gesundheitsversorgung selbst bezahlen zu müssen, in Grossbritannien künftig zur Normalität werde.


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine
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2 Meinungen

  • am 30.12.2022 um 17:34 Uhr
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    Die Zustände im britischen Gesundheitswesen sind desaströs. Viele Spitäler sind heruntergewirtschaftet, wie Martin Frei zeigt.
    Das Vereinigte Königreich braucht seine Mittel für andere Zwecke: Unter den europäischen NATO-Ländern war Grossbritannien mit Militärausgaben in Höhe von 61,5 Milliarden US-Dollar die Nummer eins. Das Vereinigte Königreich will jetzt auch die Zahl seiner heute 180 Atomsprengköpfe auf 260 erhöhen, wie die Internationale Kampagne zur Abschaffung von Atomwaffen (ICAN), dokumentierte.
    Die Ausgaben Grossbritanniens für den Betrieb seiner Atomstreitkräfte und den Bau eines neuen atomaren U-Boot-Systems beliefen sich 2019 schon auf etwa 7,2 Milliarden Britische Pfund. Untersuchungen vor zwei Jahren zeigten, wie ICAN schrieb., dass daneben beim National Health Service 43’000 Pflegekräfte und 10’000 Ärzte fehlten. (heute sind es noch viel mehr) Mit den Ausgaben der Atomrüstung eines Jahres könnten diese Mängel mehr als behoben werden,

    • am 30.12.2022 um 22:00 Uhr
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      Grossbritannien könnte ja die eingesparten 13.5Mrd. die nicht an die EU fliessen sowie die geringeren Ausgaben bei der illegalen Einwanderung auch noch für die Stützung des Gesundheitswesens ausgeben. Aber ich denke das alles ist nur einen Tropfen auf den heissen Stein. GB hat so viele Löcher zu stopfen, dass es schlichtweg nicht für alle reichen wird. Es wird noch Jahre dauern bis sich die Wirtschaft die unter der EU Herrschaft gelitten hat wieder erholen wird! Zudem muss sich die EU überlegen wie sie mit Staaten umgeht die nicht Mitglied sind! Einfach Länder schikanieren die nicht nach ihrer Pfeife Tanzen, wird nach einem erstarken von GB nicht mehr möglich sein. Die Zustände auf der Insel sind das Ergebnis nicht nur durch GB selbst sondern auch von Sturköpfen in der EU die momentan noch das Recht des stärkeren anwenden.

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