Plastikalbtraum am Strand: Immer wieder Nurdles
Als die «MSC Elsa 3» am 25. Mai vor der Küste des indischen Bundesstaats Kerala kenterte, rückten austretendes Öl und Chemikalien in den Fokus. Der entstehende Ölteppich wurde durch Flugzeuge mit Dispersionsmitteln bekämpft, Tanks wurden abgedichtet.
Drei Monate später zeigte sich ein länger anhaltendes Problem: winzige Plastikteilchen, sogenannte «Nurdles», verteilten sich während der Monsunsaison entlang der Küste. Von den 71’500 Säcken Nurdles, die das Schiff an Bord hatte, wurden bis Juli nur 7920 geborgen, berichtete der «Guardian».
Winzige Plastikteile verschmutzen längst die ganze Welt
Die etwa linsengrossen Plastikteile werden als Rohstoff für die herstellende Industrie weltweit verschifft und verschmutzen längst die Küsten weltweit. Es gibt sie in fast allen Farben. Falls Sie gerade Ferien am Strand machen, haben sie womöglich schon welche im Sand entdeckt.
Immer wieder kentern Frachter, die diesen ökologischen Alptraum an Bord haben, meist weitestgehend unbemerkt. Aufmerksamkeit erregte 2021 die bisher grösste Nurdle-Havarie vor Sri Lanka, bei der ein Schiff 1680 Tonnen Plastikpellets verlor. Sie türmten sich anschliessend wie Schnee an der Küste der Insel auf (Infosperber berichtete).

Wirtschaftliche und ökologische Katastrophe für Kerala
Millionen Nurdles liegen nun auch an der Küste von Kerala, nur ein kleiner Teil konnte bisher geborgen werden. Die Havarie erwischte das indische Bundesland zu einem denkbar ungünstigen Zeitpunkt: Während der Monsunsaison gelangt nährstoffreiches Wasser an die Oberfläche, was das marine Leben befeuert. Für die Fischerei ist die Monsunzeit die produktivste im Jahr. Die Hälfte der in Indien gefangenen Meeresfische kommt aus der Region.
Die Netze sind jetzt voller Plastik, die Erträge sinken. Die Nachfrage ging anhaltend zurück. Wo die Pellets auftauchen, meiden Käuferinnen und Käufer den Fisch aus Angst vor Vergiftung. 100’000 Fischerfamilien in Kerala erhielten eine Kompensation von etwa einem Wochenlohn, ein Fischereiverbot wurde bald wieder aufgehoben. «Die Krise treibt viele in die Armut», sagte ein lokaler Fischereiangestellter zum «Guardian».
Weitere Unfälle sind vorhersehbar
Die Gefahr liegt nicht nur darin, dass die Pellets Meer und Strände verschmutzen oder von Tieren gefressen werden, die dadurch verhungern. Oder darin, dass sie schliesslich zu Mikroplastik werden. Nurdles sind zunächst eher wenig giftig, obwohl sie zahlreiche Zusatzstoffe mitbringen. Sie wirken aber wie ein Magnet auf Schadstoffe wie PFAS und PCB. Auf ihrer Oberfläche können sich auch schädliche Bakterien ansiedeln.

Wirklich entfernbar sind die Plastikperlen nicht, dafür sind sie zu klein, zu mobil und zu viele. Freiwillige klauben die kleinen Plastikteilchen teilweise mit Sieben oder mit der Hand aus dem Sand – mit begrenztem Erfolg. «Dass solche Katastrophen vorhersehbar sind, macht sie noch tragischer», sagt die Umweltjuristin Amy Youngman gegenüber dem «Guardian».
Dritte Nurdles-Schwemme dieses Jahr
Ähnliche Nurdles-Schwemmen gab es kürzlich vor der britischen Küste, wo im März ein Containerschiff mit einem Tanker zusammenstiess. Im Januar fanden sich Nurdles in Nordspanien – die Folge eines Unfalls vor der Küste Portugals im Dezember.
Die Aufräumarbeiten in Kerala könnten bis zu fünf Jahre dauern, schätzt die Katastrophenschutzbehörde des Bundesstaats. Eine Schadenersatzklage gegen MSC in Höhe von 1,1 Milliarden Dollar ist offen. Die Reederei, die das Schiff gechartert hat, hat eine Gegenklage eingelegt, in der sie ihre Zuständigkeit bestreitet.
Für betroffene Gebiete kann es Jahre dauern, bis Geld fliesst, diese Erfahrung hat Sri Lanka schon gemacht. Im Verfahren über den Unfall, der 2021 grosse Mengen Nurdles an die Küsten spülte, wurde erst im Juli dieses Jahres ein Urteil gesprochen. Die Eigentümer des havarierten Schiffs müssen nun eine Milliarde Dollar Entschädigung bezahlen.
Die Verschmutzung ist längst chronisch
Jährlich gelangen schätzungsweise 445’000 Tonnen Nurdles in die Umwelt, 59 Prozent davon an Land, der Rest im Meer. Die Organisation «Nurdlehunt» dokumentiert Nurdles unter anderem in Plymouth (Grossbritannien), Finistère (Frankreich) und Los Angeles (USA). An Stellen, an denen Nurdles produziert und verarbeitet werden, sei die Verschmutzung teilweise längst chronisch.
Trotz der horrenden Zahlen gelten Nurdles nicht als Gefahrgut. Es gibt noch immer keine verbindlichen Regeln für Verpackung, Transport oder Bergung. Umweltorganisationen fordern seit Jahren schärfere Regeln. «Die Pellets werden wie harmlose Ware verschifft – dabei sind sie tickende Zeitbomben», sagt der Aktivist Dharmesh Shah aus Kerala gegenüber dem «Guardian».
Die Welt bekommt weiterhin Plastik untergemischt
Ein Ende ist nicht abzusehen. Mit der erwarteten Verdreifachung der Plastikproduktion bis 2060 drohen künftig Billionen neuer Nurdles jährlich in Meeren, Flüssen und an Land. Plastikteilchen, die den anhaltenden Hunger der Welt nach Plastikgegenständen stillen sollen, noch bevor diese überhaupt gefertigt werden.
Ein Abkommen unter rund 180 Ländern, das die globale Plastikproduktion einschränken sollte, scheiterte Anfang August nach mehreren Jahren am Widerstand der ölfördernden Länder.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine
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