Pfleger_in_der_Schweiz

Sandro Brotz: Jede dritte Pflegerin, jeder dritte Pfleger in der Schweiz kommt aus dem nahen Ausland © SRF

Für die Schweiz ist bei Corona die EU zentral, nicht China

Jürg Müller-Muralt /  Ohne EU-Kooperation hätte es in der Schweiz während der Corona-Krise ungemütlich werden können. Renationalisierung ist ein Irrweg.

Der nationalstaatliche Reflex zu Beginn der Corona-Pandemie war eindrücklich. Fast alle umliegenden Länder blockierten im März 2020 diverse für die Schweiz bestimmte Lieferungen von Schutzmaterial. Die französische Regierung verfügte Anfang März die Beschlagnahmung aller Schutzmasken. Fast gleichzeitig ordnete auch Deutschland ein Ausfuhrverbot für medizinische Schutzausrüstungen an, also Schutzbrilllen, Schutzmasken, Schutzkittel, Schutzanzüge und Handschuhe. Für die Schweiz war das ungemütlich. Norbert Riedel, der deutsche Botschafter in Bern, räumte jüngst in einem Interview mit der Handelszeitung ein, am Anfang hätten «alle Staaten zunächst den eigenen Schutz in den Vordergrund gestellt, auch Deutschland».

SVP ruft China zu Hilfe

Es folgten also alle Staaten reflexartig der Devise von SVP-Nationalrat Roger Köppel: «In der Not – auch in der Corona-Not – bewährt sich der begrenzte Nationalstaat als einziger verlässlicher Rahmen für die Lösung der Probleme dort, wo sie anfallen.» (SVP-Homepage 08.05.2020) Schon am 15.03.2020 forderte die Volkspartei per Medienmitteilung: «Zur Sicherstellung der medizinischen Versorgung muss der Bund Firmen mit Schweizer Produktion von dringend benötigten Produkten wie Schnelltests, Beatmungsgeräten, Intensivpflege-Einheiten, medizinischer Schutzkleidung und anderen kritischen Gütern verpflichten, ihre Produktion sofort zu intensivieren und prioritär die Schweiz zu beliefern.» Aber ganz ohne das Ausland ging es dann doch nicht, das sah auch die SVP ein. In der gleichen Medienmitteilung forderte sie, «dass der Bundesrat die bestehenden guten Beziehungen der Schweiz zu China sowohl im diplomatischen wie auch im karitativen Bereich nutzt. Dies mit dem Ziel, von China zusätzliche, dort nicht mehr benötigte, Beatmungsgeräte und sonstige Medizinalgüter zu erhalten.»

EU-Kommission stoppt Alleingänge

Die Europäische Union, die Intimfeindin der SVP, konnte man ja nicht gut zur Zusammenarbeit auffordern. Doch es war dann ausgerechnet die EU-Kommission, welche Mitte März ihre Mitgliedstaaten zur Räson rief und die nationalen Alleingänge ausser Kraft setzte. Lieferungen innerhalb der EU mussten sofort freigegeben werden. Wenig später und nach Interventionen des Bundesrates galt das Machtwort der EU zur Gleichbehandlung auch für die Schweiz. Zwar hielten sich Deutschland und Frankreich anfänglich nicht daran. Es brauchte noch einige Telefonate aus der Schweiz und gar eine Klagedrohung von Seiten des Europäischen Gerichtshofs – und dann funktionierte der freie Warenverkehr bei medizinischen Gütern wieder.

«Nicht immer genügend Aufmerksamkeit»

Das ist kein Einzelfall. Die Schweiz wurde sehr früh in den Koordinationsmechanismus der EU integriert – und dies, obwohl die Schweiz nicht EU-Mitglied ist und Brüssel zu dieser engen Kooperation nicht verpflichtet gewesen wäre. Der Bundesrat und der Schweizer EU-Botschafter «waren bei allen relevanten EU-Sitzungen dabei, wenn es um die Themen Gesundheit, Sicherheit und Grenzen ging. Das findet hier nicht immer ausreichend Aufmerksamkeit. Ich erhielt von den Bundesräten viel Lob für diese konstruktive Zusammenarbeit. Die Covid-19-Krise hat der Schweiz gezeigt, wie sehr sie auf die EU angewiesen ist, und umgekehrt: Brüssel hat verstanden, dass die Schweiz – mitten in Europa – in EU-Entscheidungen einbezogen werden muss», sagt Botschafter Norbert Riedel im Handelszeitungs-Interview.

Schweiz voll zugeschaltet

Auch eine Zusammenstellung der Vereinigung «La Suisse en Europe» zeigt, wie eng die Schweiz und die Europäische Union in der Corona-Krise bisher zusammengearbeitet haben. Verfasst haben die Studie Thomas Cottier, emeritierter Professor für Europa- und Wirtschaftsvölkerrecht und Präsident der erwähnten Vereinigung, sowie Fabian Schmid, Sekretär dieser Vereinigung und Leiter der Geschäftsstelle der Schweizerischen Gesellschaft für Aussenpolitik (SGA). Die zuständigen Bundesrätinnen und Bundesräte und ihre Chefbeamten- und beamtinnen waren gemäss den Autoren bei informellen Videokonferenzen der Gesundheits- und Innenministerien der EU-Staaten zugeschaltet. Die Schweiz erhielt auch Zugang zum Ausschuss für Gesundheitssicherheit, der die nationalen Massnahmen im Kampf gegen das Corona-Virus koordiniert. Auch im Bereich Forschung und Innovation war die Schweiz mit von der Partie.

Zugang zum EU-Frühwarnsystem

Die Schweiz erhielt auf Wunsch von Bern auch temporär Zugang zum Frühwarnsystem EWRS (Early Warning and Response System). Das ist eine netzbasierte Plattform, über welche die EU und die Gesundheitsämter der Mitgliedstaaten Gesundheitsdaten austauschen und Massnahmen koordinieren. Dauerhaften Zugang zu dieser wichtigen Drehscheibe hat die Schweiz nicht, weil ein Gesundheitsabkommen wegen des immer noch fehlenden Rahmenabkommens blockiert ist. Solange ein solches Abkommen nicht vorliegt und die Schweiz nicht automatisch eingebunden ist, muss das Bundesamt für Gesundheit (BAG) bei der nächsten Gesundheitskrise wieder als Bittstellerin bei der EU anklopfen.

EU-Entgegenkommen bei Medizinalprodukten

Die EU ist der Schweiz auch bei der revidierten Medizinalprodukteverordnung entgegengekommen. Sie hätte ursprünglich ab dem 26. Mai 2020 gelten sollen. Nun hat die EU die vollständige Anwendbarkeit dieser Verordnung um ein Jahr verschoben. «Schweizer Hersteller geniessen durch das bilaterale Abkommen über technische Handelshemmnisse bisher unbürokratischen Zugang zum EU-Binnenmarkt, was Aufwand, Kosten und Zeit spart. Um diesen Zugang nach Einführung der revidierten Verordnung nicht zu verlieren, müssen die Schweiz und die EU sich auf eine Aktualisierung des Abkommens einigen. Die EU hat diese Aktualisierung unlängst von einer Antwort des Bundesrates zum Rahmenabkommen bis zum 26. Mai abhängig gemacht. Nun verzichtete die EU auf dieses gewichtige Druckmittel mit Blick auf eine rasche Unterzeichnung des Rahmenabkommens. Für die Schweizer Medtech-Branche bedeutet die Entscheidung, dass sie vorerst den Zugang zum europäischen Binnenmarkt nicht verliert. Ausserdem können medizinische Schutzmaterialien ein weiteres Jahr bewilligungsfrei zwischen der Schweiz und der EU gehandelt werden», schreiben Cottier und Schmid.

Eng zusammengearbeitet haben die EU und die Schweiz auch bei Repatriierungsflügen gestrandeter Touristinnen und Touristen im Ausland. Auf einer Informationsplattform der EU tauschten sich Experten aus. «Auch ein Vertreter der Schweiz kommunizierte täglich geplante Schweizer Rückholaktionen und bekam umgekehrt Plätze angeboten auf Flügen von EU-Staaten.»

Spitäler ohne Personenfreizügigkeit nicht funktionsfähig

Unkompliziert gestaltete sich auch die Aufnahme von Coronapatientinnen und -patienten in Schweizer Spitälern, vor allem aus dem schwer betroffenen Elsass. «Dass die Schweiz französische PatientInnen aufgenommen hat, ist jedoch nicht nur ein Akt der europäischen Solidarität, sondern auch im eigenen Interesse: Schweizer Spitäler sind auf zahlreiche GrenzgängerInnen aus Frankreich und weiteren Ländern angewiesen. Fast zwei Drittel der PflegerInnen im Genfer Universitätsspital stammen aus dem grenznahen Frankreich, in Tessiner Spitälern arbeiten über 2000 Pflegepersonen aus Italien, die jeden Tag die Grenze passieren, und in Basel sind ein Fünftel des Personals des Universitätsspitals GrenzgängerInnen. Das schweizerische Gesundheitssystem würde in den Grenzregionen ohne deren Beitrag funktionsunfähig. Es basiert voll und ganz auf dem freien Personenverkehr», halten Cottier und Schmid fest.

Bei sturer EU wäre es ungemütlich geworden

Die Corona-Krise hat eine Binsenwahrheit bestätigt: Die Schweiz und die EU sind auf den unterschiedlichsten Bereichen und Ebenen eng vernetzt. Die Krise hat auch die fundamentale Bedeutung des Freizügigkeitsabkommens unterstrichen, für die Schweiz und ihre Nachbarn. Allein schon im Gesundheitswesen können die Fachkräfte nicht einfach durch einheimische Arbeitslose ersetzt werden. Und gerade auch den Grenzregionen ist einmal mehr vor Augen geführt worden, wie stark sie mit EU-Staaten verbunden sind. Das jährliche Handelsvolumen der Schweiz mit China wird schon nur durch jenes mit dem deutschen Bundesland Baden-Württemberg übertroffen. Bei der Bewältigung der immer noch anhaltenden Corona-Krise ist für die Schweiz nicht China zentral, sondern die EU. Hätte die Europäische Union auf stur geschaltet, hätte es in der Schweiz ungemütlich werden können.

Allein auf guten Willen kann man nicht bauen

Thomas Cottier und Fabian Schmid formulieren es so: «Die politische Stimmung der Abschottung und Renationalisierung steht im Gegensatz zu den Erfahrungen auf dem Terrain während der Krise. In vielen Bereichen wurde zusammengearbeitet; mehr noch, die Zusammenarbeit war nötig und nützlich in der Bewältigung konkreter Probleme und Herausforderungen.» Die EU ist der Schweiz während der heftigsten Phase der Coronakrise stark entgegengekommen. Aber ohne Abschluss des auf die lange Bank geschobenen institutionellen Rahmenabkommens kann die Schweiz nicht auf alle Zeiten mit dem guten Willen Brüssels rechnen.


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7 Meinungen

  • am 12.07.2020 um 11:39 Uhr
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    Ein wichtiger IS-Artikel in dieser delikaten Periode voller Verwirrungen in den Köpfen …

  • am 12.07.2020 um 12:39 Uhr
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    "Die EU, nicht China?» Die EU und China, würde ich postulieren! Auf den «guten Willen der EU» gegenüber der Schweiz würde ich mich nicht verlassen. Auf deren handfeste Interessen eher. Die EU ist ein Vertragspartner der Schweiz, mehr nicht. Bitte keine unkündbaren Rahmenabkommen mit diesem Partner. Die EU ist (noch) keine Demokratie, China auch nicht. Kooperieren kann man trotzdem. Ich wäre froh, wenn die Schweiz der EU endlich klar mitteilt, warum die Schweiz noch nicht Mitglied ist.
    Nein, nicht nur wegen der bösen SVP.

  • am 12.07.2020 um 17:38 Uhr
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    Die Personenfreizügigkeit ist was Zukunft Versprechendes. Und das Zusammengehen mit Europa völlig ok. Also bis vor kurzem. Jetzt wird die Schweiz aufgefüllt mit Bevölkerung und die Städte werden verdichtet von denen, die sich der Verdichtung mit hohen Einkommen oder Vermögen entziehen. Der Unternehmer als Profiteur der Personenfreizügigkeit wohnt nicht in der Architektur der Kastenstände und der monotonen Würfel übereinander. Ausbaden müssen die Politik des unternehmerischen Renditewahns mit Hilfe der bürgerlichen Politikerinnen die Krankenschwestern, die Lehrer, der Schreiner und der angestellte Buschauffeur. Sie werden pekuniär marginalisiert und an eine angemessene Rente ist nicht zu denken, weil die politisch unterstützte Finanzialisierung die Demokratie mit ihrer Diktatur des Geldes verdrängt seit Jahrzehnten. Lebten weniger Menschen in der Schweiz bräuchte es auch weniger Grenzgängerinnen.

  • am 12.07.2020 um 18:43 Uhr
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    Hier werden uns Märchen erzählt. Die EU war während der Corona-Krise nicht einmal für die eigenen Mitgliedsländer relevant. Sie mussten sich alleine «durchwursteln». Die Videokonferenzen, an denen teilwiese auch die Schweiz teilnahm, waren eine bürokratische Zeitverschwendung. Dass es auf dem Terrain mit unseren Nachbarländern relativ gut funktionierte, ist dem Umstand zu verdanken, dass die schweizerischen Grenzregionen schon lange vor der EU gutnachbarliche Verbindungen pflegten, so z.B. die Regio Basiliensis, die 1963 gegründet wurde und bestens funktioniert. Dass die Masken aus China und nicht aus der EU kamen ist ein Fakt. Dass es bei den Repatriierungsflügen eine Koordination zwischen verschiedenen Ländern gab, hat nichts mit Brüssel zu tun, sondern mit der Notwendigkeit, die Flugzeuge zu füllen, weil die Flüge sonst unrentabel gewesen wären. Dass es in den Spitälern keine Pflegerinnen ohne die PFZ gegeben hätte, ist auch eine Mähr. Die Spitäler konnten auch vor der PFZ genügend ausländische Pflegerinnen anstellen. «EU-Entgegenkommen bei Medizinalprodukten»: Falsch. Die Verschiebung der revidierten Medizinalprodukteverordnung erfolgte, weil die EU-Fabrikanten für diese neue Bestimmungen nicht vorbereitet waren. Dann die Drohung: «Bei sturer EU wäre es ungemütlich geworden». Und darauf die Erpressung: «ohne Abschluss des .. institutionellen Rahmenabkommens kann die Schweiz nicht auf alle Zeiten mit dem guten Willen Brüssels rechnen». Also ohne Unterwerfung kein Heil…

  • am 13.07.2020 um 01:20 Uhr
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    Schon komisch, dass die bei uns so verhasst gemachte EU, nicht die Gelegenheit zur Heimtücke ergriffen hat, die ihr ständig unterstellt wird.
    Ein unbewusstes Minderwertigkeitsgefühl gegenüber den Mächtigen im Land, muss wohl durch Gross- u. Schand-Mäuligkeit gegenüber äusseren souveränen Mächten kompensiert werden ?

  • am 13.07.2020 um 10:15 Uhr
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    Interessant: «Das schweizerische Gesundheitssystem würde in den Grenzregionen ohne deren Beitrag funktionsunfähig. Es basiert voll und ganz auf dem freien Personenverkehr», halten Cottier und Schmid fest."
    Heisst das nun, dass die Beamten in Bern bei einer eigenständigen Regelung der Zuwanderung nicht in der Lage wären, diejenigen auszusuchen, auf die man angewiesen wäre (was ja der Sinn Initiative ist)? Würden die Beamten also z.B. Coiffeure anstatt Gesundheitspersonal auswählen, oder Bäcker anstelle von Mechanikern? Nun, ich denke, auch diese Leute könnten allenfalls einer Weiterbildung unterzogen werden.

  • am 13.07.2020 um 18:16 Uhr
    Permalink

    Wieso wird im Artikel nicht erwähnt, dass Dutzende von schwer erkrankten Coronavirus Patienten aus dem Elsass in Schweizer Spitäler aufgenommen wurden, weil das Elsass keine freien Kapazitäten mehr hatte und sich Paris weigerte, Patienten aus dem Elsass zu übernehmen, da sie ihre Spitäler frei halten wollten, obwohl sie noch genügend Kapazität hatten.
    Wieso wurde Sigmar Gabriel nicht zitiert: «Ex-Außenminister Sigmar Gabriel hat der Europäischen Union Versagen bei der Bewältigung der Corona-Krise vorgeworfen. «Offensichtlich haben wir eine Schönwetter-EU, denn in der größten Bewährungsprobe seit ihrer Gründung versagt sie bisher vollständig», sagte der Ex-SPD-Chef im ZDF-Politmagazin «Berlin direkt». «Das Schlimmste war sicher am Anfang, dass selbst wir Deutschen nicht bereit waren, dorthin, wo die Menschen schon reihenweise umfielen und starben, nämlich nach Norditalien, Hilfsmittel zu liefern.»
    Die einzige Hilfe, die Italien erhielt, kam aus China, Russland und Kuba. Sicher auch mit propagandistischen Motiven. Aber es war konkrete Hilfe: tonnenweise Schutzmaterial und Pandemie-erfahrene Ärzte.

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