Es liegt was in der Luft – Allergiker können sich kaum wehren
Es wird Herbst und es riecht danach – oder sollte es zumindest. Nach frischem Laub, feuchter Erde, überreifem Obst, vielleicht nach Pilzen oder Moos. Doch statt herbstlicher Natur liegt vielerorts Pumpkin Spice (Lebkuchengewürz) in der Luft. Schon bevor die ersten Lichterketten hängen, geht es dann mit Zimt und Bratapfelduft auf Weihnachten zu. Die dauerpräsenten Düfte von Shampoo, Deo, WC-Reinigern und Weichspülern werden davon nur überlagert.
Menschen parfümieren sich und ihre Umgebung seit Jahrtausenden. Düfte wecken Erinnerungen und lösen Gefühle aus – vorzugsweise angenehme. Sie wirken fast ungefiltert auf das Gehirn. Einst rare und teure Essenzen sind heute günstig herzustellen. Deshalb riechen Treppenhäuser nach Zitrone, Autositze nach Leder, Boutiquen edel und im Lebensmittelhandel duftet es nach frischem Brot.
Bis es im Hals kratzt oder auf der Haut
Eine Folge des Duftgewitters: Es gibt immer mehr Menschen mit Allergien. Wer die Nase in frisch gewaschener Wäsche vergräbt, denkt daran meist nicht. Es sei denn, er oder sie hat erste Anzeichen für eine allergische Reaktion, weil es im Hals kratzt oder auf der Haut.
Eine Allergie entsteht, wenn der Körper nach dem ersten Kontakt mit einer Substanz immer wieder darauf reagiert – mit Juckreiz, Rötung, schuppender Haut oder Kopfschmerzen. Oder schlimmer: mit Migräne und Asthmaanfällen.
Abhilfe ist oft einfach. Die Tochter verträgt das Waschmittel nicht und der Mann bekommt von den Duftkerzen im Möbelhaus Kopfschmerzen? Man wechselt das Waschmittel und meidet das Möbelhaus. Wer eine Allergie hat, behält sie aber meist ein Leben lang und bekommt eher weitere.
Besonders gefährdet sind Kinder. Wenn sie Glück haben, schwächt sich eine Unverträglichkeit mit der Zeit ab. Wenn nicht, kann sie zur lebenslangen Einschränkung werden.
Duftstoffe sind der zweithäufigste Allergieauslöser
Nach Nickel sind Duftstoffe ein häufiger Allergieauslöser. Zwischen zwei und neun Prozent der Bevölkerung in der EU entwickeln im Laufe ihres Lebens eine Allergie gegen einen Duftstoff (Schweiz: zwei Prozent). 15 bis 20 Prozent der Schweizer Bevölkerung ist irgendwann von einer Kontaktallergie betroffen. Die Zahlen sind unscharf, weil nicht jede und jeder sich gleich testen lässt, wenn er keine grossen Einschränkungen hat. In einer Studie mit rund 4500 Erwachsenen aus mehreren Industrieländern gaben 32 Prozent der Teilnehmenden an, sensibel auf einen Duftstoff zu reagieren.
Problematisch sind nicht nur synthetische Aromen, sondern auch natürliche Duftstoffe. Im schlimmsten Fall entsteht eine umfassende Unverträglichkeit. Multiple Chemikaliensensitivität oder MCS ist keine Allergie mehr, sie wird als systemische Erkrankung eingeordnet. Also eine Erkrankung, die den ganzen Körper betrifft. Die Symptome reichen von Kopfschmerzen und Schwindel über Herzrasen und Atemnot bis zu Reizdarmbeschwerden und können tagelang anhalten.
Nur ein kleiner Teil der Bevölkerung leidet an MCS. In Deutschland erhalten etwa 5 von 1000 Personen diese Diagnose. MCS entwickelt sich langsam. «Mit einem simplen Deo hat es bei mir auch angefangen», schreibt eine Nutzerin in einem einschlägigen Forum.
Als Lieblingshobby gibt sie «Spazierengehen» an. Viel anderes bleibt ihr auch nicht übrig. Betroffene sind im Alltag oft stark eingeschränkt und können manchmal kaum noch das Haus verlassen. Den allgegenwärtigen Duftwolken aus dem Weg zu gehen, ist für sie schwierig bis unmöglich. Denn geputzt wird auch im Bahnhof, im Büro und im Restaurant, das Kino wird beduftet und in WCs stehen Lufterfrischer.
Das ist vor allem: von allem zu viel.
Es scheint keinen Lebensbereich zu geben, der nicht noch ein wenig mehr Duft verträgt. Läden duften, Autos auch, Tee wird aromatisiert, Süssigkeiten sowieso, Trinkwasser wird mit Aroma versetzt damit es interessanter riecht und sogar Spielzeug wird beduftet.
Frische Luft gehört zur Barrierefreiheit
Rund 3000 zugelassene Duftstoffe gibt es, alle können Allergien auslösen. 26 besonders allergieauslösende Duftstoffe müssen seit 2004 auf Verpackungen angegeben werden, zwei davon wurden inzwischen in Kosmetika verboten.
Weitere 56 Duftstoffe mit Allergiepotenzial werden ab Mitte 2026 in der EU kennzeichnungspflichtig, für den Verkauf von Restmengen gibt es Übergangsfristen. Problematisch sind unter anderem Geraniol, Zimtaldehyd, Vanillin und alles, was nach Moschus duftet. Für Allergiker ist die Kennzeichnungspflicht lange nicht ausreichend – die meisten Duftstoffe werden auf Verpackungen nach wie vor unter «Parfum», «Fragrance» oder «Aroma» zusammengefasst.
Für Allergiker gibt es Reinigungsmittel und Kosmetika ohne zugesetzte Duftstoffe, ein explizites Recht auf frische Luft gibt es nicht. Eine duftfreie Umgebung gehört unter bestimmten Umständen aber zur Barrierefreiheit. Auch dort, wo man sich gute Gerüche sehnlichst wünscht. Hamburg zog nach Beschwerden von Allergikern beispielsweise 2016 eine parfümierte S-Bahn aus dem Verkehr.
Mehr Bewusstsein für die Gefahren würde helfen
Das Bundesamt für Gesundheit empfiehlt, Raumluftparfums und -sprays nur sparsam einzusetzen, weil sie flüchtige organische Verbindungen (VOC) enthalten, die problematisch sein können. Kerzen und Räucherstäbchen geben zusätzlich Feinstaub, Russ und in kleinen Mengen krebserregendes Formaldehyd ab.
Wer sie verwendet, sollte danach gut lüften. Andere Personen müssen die Möglichkeit haben, sich zu entfernen – das gilt besonders für Kinder und auch für Haustiere. Diese reagieren auf das Duftbombardement unter Umständen heftiger als Menschen.
Es braucht keine deofreie Welt. Aber mehr Aufmerksamkeit im Umgang mit Düften. Für die steigende Zahl der Allergiker ist der Alltag kein aromatischer Ort, sondern ein Minenfeld zwischen Lufterfrischern, Putzmitteln und Parfum. Selbst Wasser, Papiertaschentücher oder Damenbinden sind parfümiert, Spielzeuge riechen kuschlig und Wäsche «frühlingsfrisch».
Einzelne Warenhäuser, Spitäler oder Arztpraxen verzichten bereits freiwillig auf stark duftende Desinfektions- und Putzmittel, Raumdeo und Adventsgeruch. Für Umwelt und Gesundheit ist das ein Gewinn. Einige Duftstoffe wie Duftperlen für Wäsche sind schwer abbaubar, reichern sich im Fettgewebe an und schaden Wasserlebewesen.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine
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