Entsetzen

Als Patient weiss man nicht, ob der Test ein korrektes oder ein irrtümliches Resultat liefert. © sbartsmedia / Depositphotos

Neue Alzheimer-Tests liegen erschreckend oft daneben

Martina Frei /  Ein Rechenbeispiel zeigt: Ein Grossteil der «positiv» Getesteten wird unnötig in Angst versetzt. Das kann Tausende betreffen.

Herr Schmid* ist seit einem halben Jahr etwas vergesslicher. Seiner Frau fiel es zuerst auf. Früher hatte er ein sehr gutes Gedächtnis. Jetzt vergisst der 75-Jährige manchmal Gespräche, die sie miteinander hatten. Oder er erzählt seiner Frau eine Begebenheit, die er ihr kürzlich schon einmal erzählt hat. Herr Schmid spielt Tennis, je nach Wetter fährt er mit dem Auto oder mit dem Velo zum Tennisplatz. Das Haushaltsbudget verwaltete das Paar früher stets gemeinsam. In letzter Zeit aber überlässt Herr Schmid in finanziellen Angelegenheiten öfter einmal den Entscheid seiner Frau. Er ist ein wenig unsicherer geworden. 

Dieses Beispiel schilderte die niederländische Professorin für Medizinphilosophie und -ethik Maartje Schermer in der Fachzeitschrift «Bioethics». «Diese Person hat eindeutig keine Demenz», hielt sie fest. Denn trotz einiger Gedächtnisstörungen bewältige Herr Schmid den Alltag nahezu normal und unabhängig. 

Normales Altern oder beginnende Demenzerkrankung?

Trotzdem: Sind das nun erste Anzeichen einer Hirnerkrankung? Falls ja: Wird dies schliesslich in eine Demenz münden oder nicht? Würde Herrn Schmid oder seinen Angehörigen ein Alzheimer-Test helfen?

Ab Herbst will die Pharmafirma Roche in den Hausarztpraxen erstmals einen Alzheimer-Bluttest anbieten. Er soll die Krankheit mit hoher Wahrscheinlichkeit ausschliessen können. In den USA könnte Herr Schmid bereits jetzt auf eigene Faust einen Alzheimer-Bluttest machen lassen. 

Wenn der Test negativ ist

Jeder medizinische Test soll möglichst alle Kranken als krank erkennen und alle Gesunden als gesund. Doch kein Test schafft beides zu 100 Prozent. 

Der Roche-Test habe eine hohe Zuverlässigkeit, berichteten Medien. «Bei rund 94 von 100 Menschen mit negativem Testergebnis konnte tatsächlich keine Alzheimer-Erkrankung festgestellt werden», erläuterte die «Schweizerische Depeschenagentur». Im Fachjargon heisst diese Angabe «negativer Vorhersagewert» (englisch abgekürzt NPV). 

Im Umkehrschluss bedeutet das: Bei 6 von 100 Personen fällt der Test falsch-negativ aus: Er gibt nicht an, aber die Getesteten haben trotzdem Alzheimer-typische Veränderungen im Gehirn. 

Angenommen, der Test fällt bei Herrn Schmid «negativ» aus: Dann gehört er mit hoher Wahrscheinlichkeit zu denjenigen, die nach bisherigem Dafürhalten keine Alzheimer-Krankheit haben.  

Wenn der Test «positiv» ausfällt

Falls der Test bei Herrn Schmid «positiv» ausfällt, bedeutet das: Der Test hat eine Auffälligkeit erkannt, die typisch ist für die Alzheimer-Krankheit. Hat Herr Schmid folglich eine beginnende Alzheimer-Erkrankung? Das ist nicht gesagt.

Denn der «positive Vorhersagewert» (PPV) des Roche-Bluttests ist mit rund 46 Prozent bedenklich schwach. Der PPV gibt den Anteil der Personen mit «positivem» Testergebnis an, welche die gesuchte Krankheit tatsächlich haben. 

Der PPV-Wert von 46 Prozent bedeutet: 54 Prozent derjenigen, bei denen dieser Test Anzeichen für Alzheimer angibt, haben nach bisherigem Dafürhalten keine Alzheimer-Erkrankung. 

Zu welcher Gruppe gehört Herr Schmid? Das kann der Arzt nicht wissen. 

Wichtiger Punkt: Wie häufig ist die Krankheit?

Bei medizinischen Untersuchungen kommt es aber nicht nur darauf an, wie treffsicher der Test ist. Sondern auch darauf, ob er zum breiten Screening eingesetzt wird oder sehr gezielt nur bei Personen, bei denen die Wahrscheinlichkeit für die gesuchte Erkrankung hoch ist. Denn die Vorhersagekraft des Tests hängt auch davon ab, wie häufig eine Erkrankung in der getesteten Bevölkerung vorkommt. 

Entscheidend ist deshalb, in welchem Umfeld die Alzheimer-Bluttests breit eingesetzt werden: In Hausarztpraxen mit nur wenigen Alzheimer-Patienten, aber vielen ob ihres Gedächtnisses beunruhigten Menschen, die wissen möchten, ob sie Alzheimer haben? Oder in einer Spezialambulanz für Demenzabklärung mit vielen Alzheimer-Kranken?

Roche ging von einer Alzheimer-Häufigkeit von 22,5 Prozent aus. Etwa jede 5. getestete Person hatte also gemäss den bisherigen Standarduntersuchungen Alzheimer. Derzeit eingesetzte Diagnosetests (Punktion des Hirnwassers oder PET-Scan des Gehirns) dienten Roche als Vergleichsmassstab für den Bluttest.

Die Qualitätsdaten ihres Tests teilte die Firma in ihrer Medienmitteilung nur selektiv mit. Sie nannte einzig den NPV (Vorhersagewert, dass jemand bei negativem Testergebnis kein Alzheimer hat), unterschlug aber den PPV (Vorhersagewert, dass jemand mit «positivem» Testergebnis wirklich Alzheimer hat). Aus den Angaben lässt sich der PPV aber berechnen. Und damit lässt sich auch ermitteln, was passieren wird, falls der Test breit eingesetzt werden wird.

Angenommen 100’000 Menschen in der Schweiz, von denen 22,5 Prozent Alzheimer-krank sind, lassen diesen Bluttest machen: Dann wird der Test bei 21’700 irrtümlich darauf hindeuten, dass sie Alzheimer haben. Vermutlich werden sich all diese Personen und ihre Angehörigen nach dem Test unnötig ängstigen. Bei 18’810 Getesteten würde der Test hingegen eine Alzheimer-Krankheit korrekt erkennen.

Besser sieht die Bilanz aus, wenn es darum geht, die Alzheimer-Krankheit auszuschliessen, also dem Zweck, für den Roche den Test anpreist. Der Test würde 55’800 von 100’000 Getesteten korrekt als nicht-Alzheimer-krank erkennen – und 3690 Alzheimer-Kranke übersehen.

Keine Daten zur Häufigkeit in Hausarztpraxen

Doch gilt das auch für Hausarztpraxen? Dort möchte Roche den Bluttest künftig anbieten. Welcher Anteil der Patienten in einer Hausarztpraxis im Durchschnitt Alzheimer-krank ist, sei nicht bekannt. Das sagt Jonathan Zufferey, wissenschaftlicher Projektleiter beim Obsan. «Diese Zahl liegt nicht vor. Die Daten zur Demenz sind lückenhaft.»

Die Alzheimer-Vereinigung schätzt grob, dass 11 Prozent der ab 65-Jährigen in den USA eine Alzheimer-Demenz haben. Der Alzheimer-Report 2015 gab für Westeuropa eine allgemeine Demenz-Häufigkeit von 6 bis 7 Prozent an, der Bericht «Demenz in Europa» von 2019 kam auf 0,6 Prozent bei den Personen Anfang 60 und auf rund 41 Prozent bei den über 90-Jährigen. Bezogen auf die Gesamtbevölkerung wären demnach weniger als zwei Prozent dement. 

73 Prozent der «positiven» Testergebnisse wären falsch

Hausärzte behandeln viel mehr ältere Patientinnen und Patienten, die nicht an Alzheimer erkrankt sind, aber glauben, ihr Gedächtnis sei nicht mehr so gut. Rechnet man mit einer Alzheimer-Häufigkeit von 11 Prozent, würde der Test unter 100’000 Getesteten 9196 Personen mit Alzheimer korrekt erkennen sowie 64’080 Gesunde. 1804 Alzheimer-Kranke würde er hingegen übersehen und bei 24’920 Menschen fälschlicherweise suggerieren, dass sie Alzheimer haben.

Auf eine einzige positiv getestete Person, die wirklich an Alzheimer erkrankt ist, kämen also fast 3 nicht-Alzheimer-kranke Personen mit falschem Testergebnis, die unnötig beunruhigt wären. 73 Prozent der «positiv» Getesteten würden sich in diesem Szenario also vermutlich weiteren Abklärungen unterziehen.

Falls die Alzheimer-Krankheit unter den Getesteten seltener wäre als in diesem Beispiel angenommen, kämen auf ein korrektes, «positives» Resultat noch mehr falsch-positive.

Kein Test für diejenigen, die nur wissen möchten

Fachleute warnen deshalb davor, die Alzheimer-Bluttests zum Screening oder bei den «worried-well» anzuwenden, also denjenigen, die gesund sind, aber den Eindruck haben, ihr Gedächtnis sei schlechter geworden. Sie verweisen auch darauf, dass «positiv» Getestete unter Umständen Probleme bekommen, wenn sie eine Versicherung abschliessen oder den Führerausweis verlängern möchten.

Infosperber fragte den Testhersteller Roche: «Wie stellt Roche sicher, dass es nicht massenweise zu irrtümlichen Alzheimer-Diagnosen kommt, wenn der Test in Hausarztpraxen eingesetzt wird?» Die Pharmafirma geht darauf in ihrer Antwort nicht ein: «Der Elecsys pTau181 Bluttest ist in erster Linie zum Ausschluss konzipiert. Der Test sollte von Ärzten in Verbindung mit anderen klinischen Informationen verwendet werden, um sicher die Alzheimer-Krankheit als Ursache der geistigen Symptome auszuschliessen.»

«Wer profitiert wirklich?«

Die potenziellen Vorteile der neuen Alzheimer-Bluttests – etwa bessere Diagnosegenauigkeit, einfachere oder frühere Diagnose – «werden durch keine empirischen Belege gestützt», lautet die ernüchternde Bilanz des Professors für Demenzerkrankungen Edo Richard und mehrerer Kolleginnen im «British Medical Journal».

«Keine der von uns identifizierten Studien konzentrierte sich auf die Perspektive der Patienten», also beispielsweise darauf, ob ihr Wohlbefinden dank des Tests stieg, ob sie ihren Alltag deshalb besser bewältigten oder ob die Tests den Pflegekräften halfen. Es gebe keine Daten zu den Auswirkungen von Bluttests auf Patienten unter realen Bedingungen. Da bestehe eine riesige Forschungslücke. Darauf wiesen Richard und seine Ko-Autoren nach Durchsicht von 885 Fachartikeln zu Alzheimer-Bluttests hin. 

Die grosse Frage am Ende ihres Artikels: Wer profitiert wirklich von Alzheimer-Bluttests?

Bluttest oder Münze werfen – das kann aufs Gleiche herauskommen

Um die Zulassung für den Test zu erhalten, führte Roche eine Studie durch. Daran nahmen laut der Medienmitteilung 787 Personen in Europa, Australien und den USA teil. Die Medienmitteilung ging im Juli gross durch die Schweizer Medien.

Infosperber bat Roche damals um die erwähnte Studie. Daraufhin schickte Roche einen Link zu einer Studie in den USA und Europa mit 604 Personen. Auf erneute Nachfrage stellte Roche in Aussicht, die vollständige Studie mit den 787 Personen Ende Juli zu schicken, «wenn es die Regeln erlauben». Auf nochmalige Nachfrage teilte Roche schliesslich mit, dass die Firma erst zur «Clinical Trials on Alzheimer’s Disease‘ (CTAD) Konferenz» im Dezember Daten veröffentlichen werde – also erst, nachdem ihr Test bereits in den Hausarztpraxen lanciert ist.

«Perfektes Marketing von Roche»

«Alles in allem perfektes Marketing von Roche, bei dem sich kaum jemand fragt, wie die Ergebnisse entstanden und wie sie zu bewerten sind», sagt Martin Sprenger, Gesundheitswissenschaftler an der Universität Graz. «Bei einer solchen Studie ergeben sich jede Menge Möglichkeiten, das Resultat zu beeinflussen. Angesichts der enormen gesellschaftlichen Kosten, die da auf uns zu kommen, wäre es umso notwendiger, dass die Ergebnisse von Roche genau angeschaut und mit öffentlich finanzierten Studien überprüft werden.»

Eines der Ziele der Zulassungsstudie von Roche war, zu zeigen, dass der Bluttest «einen hohen negativen Vorhersagewert und einen akzeptablen positiven Vorhersagewert» hat.

Was als «akzeptabel» gelten soll, definierte letztes Jahr eigenmächtig eine selbsternannte Arbeitsgruppe, die «Globale CEO Initiative zur Alzheimer-Krankheit». Sie veröffentlichte in «Nature Reviews Neurology» ihre Stellungnahme, welche Qualitätsmassstäbe ihrer Ansicht nach für Alzheimer-Bluttests gelten sollen, je nachdem, ob sie zum Screening eingesetzt werden sollen oder um die Diagnose zu bestätigen. Die dort genannten Vorgaben erfüllt der Roche-Test gemäss den Angaben in der Medienmitteilung nicht oder nur knapp.

Firmenvertreter definieren, was akzeptabel ist

Von den 35 Unterzeichnenden der «Globalen CEO Initiative zur Alzheimer-Krankheit» sind 27 Mitarbeiter, Aktionäre oder bezahlte Berater von Biotech-Unternehmen, die Blut-Biomarker-Tests vermarkten, oder sie haben Interessenkonflikte, weil sie zum Beispiel Forschungsgelder erhielten oder die Firmen berieten. Roche, Eisai, Eli Lilly und weitere Firmen, die gross ins Geschäft mit Alzheimer einsteigen wollen, sind im Autorengremium vertreten. Die Liste der Interessenkonflikte dieser Arbeitsgruppe umfasst fast eine ganze, eng beschriebene Seite.

Wie stark die Häufigkeit der Erkrankung die Aussagekraft des Bluttests beeinflusst, ist der «Globalen CEO Initiative zur Alzheimer-Krankheit» bewusst. Ihre Tabelle zeigt: Die Vorhersagekraft, ob jemand bei einem «positiven» Testergebnis tatsächlich Alzheimer hat, kann fast 100 Prozent betragen – aber nur, wenn erstens der Test sehr treffsicher ist und zweitens die Wahrscheinlichkeit, dass die Getesteten Alzheimer haben, sehr hoch ist und bei 80 Prozent liegt.

Ist der Test hingegen mittelmässig und wird er noch dazu bei Personen eingesetzt, von denen nur 20 Prozent wirklich Alzheimer-krank sind, dann könnte man auch einfach eine Münze werfen, um zu «wissen», ob es Alzheimer ist. Denn dann liegt der Test – obwohl er «angibt» – bei etwa der Hälfte der «positiv» Getesteten daneben. Sie haben nach derzeitigem Wissensstand keine Alzheimer-Krankheit.

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