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Aufmacher in der «New York Times»: Patientin Angie Watts war nach Gentest verunsichert © nyt

Patientin wird nach Gentest allein gelassen

Daniela Gschweng /  Gentests sollen vererbte Schwächen aufdecken. Sie bringen aber nur einen Nutzen, wenn sie eine gezielte Therapie ermöglichen.

Nicht immer hält die Wissenschaft, was sich Patientinnen und Patienten von ihr erhoffen. Das gilt auch für Gentests. Solche Tests können heute mmer detailliertere Daten ermitteln. Doch die Ärzte wissen häufig nicht, was sie damit anfangen und wie sie die Patientinnen und Patienten beraten sollen. Für die Betroffenen kann das frustrierend sein.

Angie Watts (44) hat diese Erfahrung gemacht. Nach der Entfernung eines bösartigen Knotens in der Brust sollte sie im Juni letzten Jahres eine Bestrahlungstherapie beginnen. Stattdessen konfrontierte der Radioonkologe Timothy M. Zagar von der University of North Carolina sie mit unangenehmen Neuigkeiten, als sie seine Praxis betrat. Das berichtet die New York Times (NYT).

Eine Genanalyse und ihre verwirrenden Ergebnisse

Bei einem Gentest war eine ererbte Veränderung in einem ihrer Gene festgestellt worden. Ein Gen, das bei der Reparatur von DNA benötigt werde, sei fehlerhaft, erklärte der Arzt. Eine Strahlentherapie, welche DNA schädigt, sei nicht angeraten – sie würde die Entstehung von Krebs eher fördern. Der Onkologe drängte sie, sich beide Brüste entfernen zu lassen. «Ich gehe nicht gerne Risiken ein», sagte Krebsspezialist Zagar kürzlich in einem Interview.

Erschüttert holte Watts eine zweite Meinung ein. James P. Evans, Professor für Genetik und Medizin in North Carolina, riet ihr das Gegenteil: er war dafür, die Radiotherapie fortzusetzen. Die Mutation, die bei ihr gefunden worden sei, sei nicht als schädlich bekannt.

Auch eine Gruppe von Mediziner konnte sich über den Fall nicht einigen. Angie Watts blieb mit der Entscheidung allein.

Die Kehrseite der neuen Diagnosemethoden

Watts Erfahrung beleuchtet die Kehrseite individueller gentechnischen Analysemethoden in der Medizin.

Die Entwicklung der Pharmakogenetik ist eigentlich eine gute Botschaft für alle, die eine schwere Krankheit haben oder für sich befürchten: Gentests können die Schwachstellen in der persönlichen genetischen Ausstattung detailliert feststellen und Tumore besser charakterisieren. Das erlaubt es Medizinern, herauszufinden, für welche Krankheiten ein Patient besonders anfällig ist und wie sich eine Erkrankung am besten therapieren lässt.

Im besten Falle kann ein Arzt vor der Therapie sehen, welche Medikamente wirken werden und wo schwere Nebenwirkungen zu befürchten sind. Führend bei dieser Art der Krebstherapie sind US-amerikanische Kliniken. Das «Ende der Standardtherapie» wird von der US-Regierung gefördert. Besonders in der Brustkrebsbehandlung seien Genanalysen inzwischen Standard, schreibt die NYT.

Neue Methoden bedeuten mehr Unsicherheit für Ärzte und Patienten

Doch nicht für jede Diagnose gibt es bereits die passende Therapie. «Die Fähigkeit, alles zu sequenzieren hat unser Wissen darüber überholt, was es bedeutet», sagt Eric P. Winer, Leiter des Brustkrebs-Programms im Harvard Dana-Farber Krebsinstitut. Eine schwierige Situation für Ärzte und Patienten. Bis sich die Interpretation der Testergebnisse von genetischen Tests verbessert hat, müssen sich beide auf ein grösseres Mass an Unsicherheit einstellen.

Geprüft wird normalerweise zweierlei: zum ersten wird das Genom des Patienten auf Gene geprüft, die auf eine Krankheitsneigung schliessen lassen. Zum zweiten werden die Krebszellen selbst auf genetische Schwächen untersucht – ob es ein entsprechendes Medikament dagegen gibt oder nicht.

Patienten wie Angie Watts finden sich in einer Situation wieder, die für Patienten wie Ärzte schwierig ist: Informationen gibt es im Überfluss. Klare Richtlinien was zu tun ist, gibt es nicht. «Eine Situation, die zu Über- und Missinterpretation geradezu einlädt», sagt Professor James Evans, den Watts konsultiert hat.

Hohe Erwartungen bei Brustkrebs unterdessen etwas gedämpft

Bei jedem Gen, das untersucht wird, besteht eine fünfprozentige Wahrscheinlichkeit, auf eine Veränderung unklarer Auswirkung zu stossen. So war es auch bei Angie Watts. Die Variation in ihrem Genom ist eine «Veränderung unbekannter Bedeutung». Bei etwa 100 derzeit geprüften Genen kann sich das schnell summieren.

Watts, die sich schlussendlich für die Strahlentherapie entschieden hat, geht es gut. «Gelegentlich bereue ich es, den Gentest überhaupt gemacht zu haben», sagt sie dennoch.

Für Mediziner sieht das anders aus. Die Hoffnungen, die sich Onkologen mit der ersten Präzisionsdroge Herceptin in den 1990er-Jahren für die Behandlung von Brustkrebs gemacht hatten, haben sich inzwischen etwas abgeschwächt. Warum sich ausgerechnet Brustkrebs so schwer behandeln lässt, wissen die Forscher nicht.

Die Praxis: nicht ein, sondern viele fehlerhafte Gene

Ein Teil des Problems liegt in der Komplexität der menschlichen Biologie. Obwohl es möglich ist, hunderte von Genen auf verdächtige Sequenzen zu untersuchen, kann daraus oft keine Ursache und keine Therapie abgeleitet werden. Viele Onkologen sind trotzdem dafür, in jedem Fall Gentests durchzuführen, da sie möglicherweise wertvolle Informationen liefern können.
«In der Praxis haben wir es nicht mit einer, sondern mit fünf, zehn, oder zwanzig Mutationen zu tun», erklärt Gabriel N. Hortobagyi, Leiter des Brustkrebsforschung am MD Anderson Cancer Center in Houston. Selbst wenn klar ist, welche davon die Krankheit hauptsächlich verursacht, gibt es oft kein Medikament, das die Mutation blockiert.

Von 1000 Frauen profitiert eine

Von 1000 Frauen profitiere heute etwa eine von den fortschrittlichen Methoden der Pharmakogenetik, sagt Norman Sharpless, Leiter des Lineberger Comprehensive Cancer Center in North Carolina. «Es gibt aussergewöhnliche Erfolge», sagt er. Die meisten Patientinnen seien jedoch enttäuscht.

Soll man dann überhaupt testen? Für Onkologen eine schwierige Entscheidung. «We are trying to find avenues of hope that aren’t just avenues of hype» drückt Elizabeth E. Campbell, Onkologin und ehemalige Leiterin des Duke Women’s Cancer Center es aus. (zu Deutsch etwa: «Wir versuchen, die Ergebnisse zu finden, die wirklich zählen»).

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Diesen Beitrag hat Daniela Gschweng aufgrund eines Berichts in der «New York Times» erstellt.


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Behandeln ohne Nutzen ist verbreitet. Manchen Patienten bleiben Nebenwirkungen oder bleibende Schäden.

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Eine Meinung zu

  • am 23.03.2016 um 17:25 Uhr
    Permalink

    Die Medizin macht Fortschritte. Sie erweckt Tote zum Leben und hält sie mit Apparaten künstlich am Leben. Andererseits gibt es medizinische Gutachter, die nach Aktenlage für 200 Euro den Tod des Probanden in Kauf nehmen und weder Politik noch Justiz interessiert es.

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