Kommentar

In der Dermatologie ist die Welt in Ordnung

Tobias Tscherrig © zvg

Tobias Tscherrig /  Ein Besuch bei der Hausärztin zeigt: Selbst in Zeiten der globalen Gesundheitskrise macht Medizin manchmal Spass.

Neulich habe ich meiner Hausärztin eine Freude bereitet. Nicht, weil ich einen spektakulären Heilungsprozess durchlaufen oder gar ein paar Minuten in die Hände geklatscht hätte, um dem Gesundheitspersonal zu huldigen, sondern einfach, indem ich mich behandeln liess.

Dabei handelte es sich um einen Routineeingriff: Ich sollte mir ein Atherom, also eine gutartige Zyste im Unterhautzellgewebe, entfernen lassen. Das Ding, das auch die wohlklingenden Namen «Grützbeutel», «Balggeschwulst» oder «Griessknoten» trägt, störte mich schon länger. Bereits vor Jahren war plötzlich eine kleine Erhebung auf meinem Nacken erschienen. Erst schenkte ich ihr keine Beachtung – aber schon bald war klar: Da wächst etwas in mir. Als die kleine Kugel dann zum Medizinball geworden war und Friseusen und Friseure mir nur noch die Haare schneiden wollten, nachdem ich besänftigend auf sie eingesprochen und ihnen eine Gefahrenzulage bezahlt hatte, beschloss ich mich davon zu trennen.

Also Maske auf, Hände desinfiziert. Dingdong, der Mann mit den zwei Köpfen ist da. Von der Praxisassistentin in den Warteraum geführt, Platz nehmen, den Medizinball fein säuberlich auf dem Stuhl neben mir abgelegt. Warten.

Der Warteraum ist gut belegt. Neben mir und meinem Medizinball sitzen da noch einige Menschen, sie warten auf die Impfung gegen Covid-19. Der Reihe nach werden sie aufgerufen und lassen sich ihre Dosis verabreichen. Andere Menschen betreten den Warteraum, werden in andere Zimmer geführt und gepikst. Ich bleibe alleine zurück. Nur das Ding, dass aus meinem Nacken wächst, leistet mir Gesellschaft. Aber dafür habe ich Verständnis. In Zeiten der globalen Gesundheitskrise hat mein Medizinball keinen Vorrang. Auch wenn er zu wachsen scheint, während ich warte.

Dann bin ich an der Reihe. Der Assistenzarzt sieht sich das Atherom an, drückt daran herum und murmelt anerkennend. «Ich hole mal kurz unsere Dermatologin.» Weg ist er. Mit der Fachärztin im Schlepptau betritt er den Behandlungsraum erneut. Sie begrüsst mich kurz – dann sieht sie das Monstrum auf meinem Nacken. Und die Sonne geht auf: «Ui!», quietscht sie und schlägt vor Entzücken die Hände zusammen. «So etwas Grosses sieht man nicht alle Tage. Kein Wunder, wollen Sie sich das wegmachen lassen.» Sie ist aus dem Häuschen und spricht davon, Fotos zu Ausbildungszwecken zu machen. «Ein Atherom wie aus dem Lehrbuch», «nie dagewesene Grösse», «was für eine tolle Abwechslung».

Während sie spricht, holt sie die Utensilien, um mich aufzuschneiden. In ihren Augen leuchtet Vorfreude. «Es ist so ein befriedigendes Gefühl, solche Sachen aus einem Körper zu entfernen.» Ihr Enthusiasmus ist mir nicht geheuer. Mit dem Skalpell in der Hand und Begeisterung im Gesicht erinnert sie mich an eine Fleischfachfrau, die sich ein Rind ansieht und dabei bereits das Filet auf der Zunge spürt. Aber ich habe keine Wahl. Hilfesuchend blicke ich zum Assistenzarzt, aber der lächelt nur. Die Entfernung meines Vorzeige-Atheroms ist Chefsache.

Einige Spritzen zur lokalen Betäubung. Ein wenig Geschnipsel, das ich nur anhand von schabenden und kratzenden Geräuschen erkenne. Ein seliges Seufzen der Dermatologin. Dann wird die Wunde mit drei Stichen genäht – und mein Nacken ist vom alpinen Gebirge zum Flachland geworden.

Stolz präsentiert mir die Hautärztin, was sie aus meinem Körper geholt hat. Ein weisses, schleimiges Irgendwas in Form eines Napfkuchens, das auch während der gestenreichen Erklärung der Fachfrau nicht schöner wird. Nein, ich teile ihre Begeisterung nicht. Nein, ich will kein Bild davon. Bitte schmeissen Sie es doch endlich weg. Noch während ich den Raum verlasse, sehe ich, wie die Dermatologin das Ding auf einem fahrbaren Gestell spazieren fährt und es ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern präsentiert – als wäre es ein süsses Kleinkind. Manchmal scheint Medizin richtig Spass zu machen.

An der Rezeption warte ich. Ich brauche noch einen Termin, an dem die Fäden gezogen werden sollen. Die Hautärztin steht verzückt in der Ecke und labt sich im Geiste wohl noch einmal an der zurückliegenden Operation.

Plötzlich wird die Tür zur Arztpraxis heftig aufgestossen. Eine Frau mittleren Alters betritt den Raum. Energisch wedelt sie mit einem Blatt Papier durch die Luft. Sie steuert die Dermatologin an, übergibt ihr das Papier und faucht: «Ich arbeite in einem Altersheim und wurde schon längst gegen Covid-19 geimpft. So wie meine Kollegin. Aber die hat eine offizielle Impfbestätigung vom Bundesamt für Gesundheit erhalten. Und ich nur diesen Wisch! Komme ich damit nach Argentinien?». Die Frage brüllt sie durch die Arztpraxis.

Willkommen zurück in der Realität, Frau Dermatologin. Sie sieht sich den Zettel an, spricht beruhigend auf die Frau ein und gibt ihr einen zusätzlichen Stempel und eine Unterschrift. Im Stil einer Tourismusfachangestellten rät sie der aufgebrachten Frau, zurzeit vielleicht besser nicht nach Argentinien zu reisen. Immerhin stehe das Land auf der Liste der Risikoländer. Und überhaupt, vielleicht gebe es Einreisebeschränkungen, das wisse sie aber nicht. Aber davon will die Frau nichts hören. Sie zückt ihr Portemonnaie und will für Stempel und Unterschrift bezahlen. «Egal, wie viel es kostet.» Die Dermatologin lächelt müde und winkt ab. Dann verschwindet sie eilig in der Abteilung für Dermatologie. Dorthin, wo die Welt noch in Ordnung ist.


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine
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Eine Meinung zu

  • am 16.06.2021 um 09:16 Uhr
    Permalink

    Lustig zu lesen, die Glosse, aber es bleibt etwas verschwommen und unklar, wer nun Freude am Atherom hat: Der Assistenzarzt? Der HAUSarzt? Die HAUTärztin?
    Und tatsächlich: Selber als Hausarzt schlage ich mich täglich mit tausend Fragen zunächst um Diagnostik und jetzt der Impfung gegen Covid-19 herum, und operiere das Atherom liebend gerne selbst, anstatt dies der Dermatologin zu überlassen 😉

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