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Epidemien und antibiotikaresistente Keime werden die Bevölkerung von Gaza noch lange Zeit bedrohen. © cc-by-nc-nd-4 Saleh Najm, Anas Sharif, Fars Media Corporation

Gaza: Nach Ende des Krieges folgt eine weitere Hölle

Pascal Derungs /  Nach der Zerstörung droht der Bevölkerung eine Zeitbombe tödlicher Krankheiten – wie in Mossul noch Jahre nach der Bombardierung.

Das humanitäre Völkerrecht zum Schutz der Zivilbevölkerung wird in den jüngsten Kriegen mit Füssen getreten. Im dicht besiedelten Gazastreifen attackiert Israel grosse und kleine Spitäler und Gesundheitseinrichtungen. Vergleichbare Vorfälle ereigneten sich in mehreren anderen Konfliktgebieten, darunter Syrien, Jemen, Sudan, Äthiopien, Libyen und Afghanistan. Russland hat seit Beginn seiner Invasion weit mehr als 1’000 Angriffe auf Gesundheitseinrichtungen in der Ukraine durchgeführt – mehr als die Weltgesundheitsorganisation bisher in einer humanitären Krise gezählt hat. Und das Gleiche taten Iraker mit Hilfe der USA beim Angriff auf die Zweimillionenstadt Mossul im Irak.

In den Kriegsgebieten drohen Epidemien und Seuchen

Die Folgen für die Zivilbevölkerung sind jeweils dramatisch. Viele Menschen, die noch nicht verletzt sind, erkranken wegen der miserablen hygienischen Verhältnisse. Es entstehen multiresistente Keime, gegen die Antibiotika – falls noch vorhanden – nicht mehr helfen.

Der im Irak entstandene multiresistente Keim «Acinetobacter baumannii» wurde unter dem Namen «Iraqibacter» bekannt. Die US-Gesundheitsbehörde CDS stufte den Erreger als «serious threat» ein. Die WHO setzte ihn als Krankheitserreger Nr. 1 in der «Global Priority Pathogens List» ein. Er infiziert Wunden und breitet sich über die Blutbahnen aus. Er verursacht eine Reihe von medizinischen Problemen wie Sepsis, Meningitis, Verlust von Gliedmassen und Tod. Eine Studie aus dem Jahr 2022, die in The Lancet erschien, listet «Iraqibacter» als einen der sechs tödlichsten unter den arzneimittelresistenten Erregern auf. Zusammen sind diese sechs Keime für Millionen von Todesfällen verantwortlich.

Im umzingelten Gaza könnten Krankheiten explodieren

Die Lage im Gazastreifen sei für die öffentliche Gesundheit eine «Zeitbombe», erklärte Omar Dewachi, Professor für medizinische Anthropologie und globale Gesundheit an der State University in New Jersey. Er forscht zu den sozialen, medizinischen und ökologischen Folgen der Kriege im Irak und im übrigen Nahen Osten. Unter dem Titel «Ich war Arzt in Irak. Jetzt sehe ich diesen Alptraum wieder» appellierte Dewachi In der «New York Times» an die Kriegführenden: «Man darf keine Spitäler bombardieren – auch nicht, um den Terrorismus zu bekämpfen.»

Dewachi sieht «alarmierende Parallelen» zwischen dem, was er im Irak erlebte, und dem, was in Gaza passiert. «Wenn die Gesundheitsversorgung, die medizinische Infrastruktur und das ärztliche Know-how im Krieg zerstört werden, sind sie oft für immer verloren», mahnt der Anthropologe. Es drohe eine permanente Krise der öffentlichen Gesundheit, denn die Überlebenden könnten nirgendwo anders hingehen.

«Die Notlage in Gaza hat die Verwüstung in den Schatten gestellt, die ich in Mossul und anderen Konfliktgebieten erlebt habe», konstatiert Dewachi. Im Norden des Gazastreifens seien fast alle Krankenhäuser geschlossen, weil es an Elektrizität, funktionierender Kanalisation, sauberem Wasser, Lebensmitteln und grundlegender medizinischer Versorgung mangle.

Ärzte seien auf ungewöhnliche Verletzungen gestossen, die darauf hindeuten könnten, dass in diesem Konflikt neue Waffen ausprobiert würden. «Ärzte ohne Grenzen» warnten in der Fachzeitschrift The Lancet  davor, dass antimikrobielle Resistenzen als «stille Bedrohung» in der Enklave lauern könnten. Es gebe ständig neue Berichte über weit verbreitete Krankheiten in Gaza.

Mossul ist ein Mahnmal für kriegsbedingte Spätfolgen

Die US-Invasion im Irak im Jahr 2003 habe das fragile Gesundheitssystem an den Rand des Abgrunds gebracht, berichtet Dewachi aus seiner Erfahrung. Bombenangriffe und Operationen zur Aufstandsbekämpfung hätten die Krankenhäuser mit verletzten Zivilisten überschwemmt. «Direkte Angriffe auf Krankenhäuser versetzten der bröckelnden irakischen Gesundheitsversorgung, die einst im gesamten Nahen Osten eine Quelle des Stolzes war, vielleicht den Todesstoss».

Die Schlacht um Mossul 2016/17 gelte als eine der tödlichsten städtischen Militäroperationen seit dem Zweiten Weltkrieg – ein Vergleich, der auf unheimliche Weise auch auf Israels Offensive in Gaza angewendet werde. Damals kämpften die irakischen Sicherheitskräfte mit Unterstützung der USA neun Monate lang darum, die Stadt von den IS-Kämpfern zurückzuerobern. In der Schlacht, die von intensiven Luftangriffen geprägt war, seien 9 der 13 öffentlichen medizinischen Zentren, die Mossul und die umliegenden Gemeinden versorgten, schwer beschädigt worden.

Sechs Jahre nach der Schlacht lägen die öffentlichen Krankenhäuser der Stadt trotz Wiederaufbaubemühungen noch immer in Trümmern, berichtet Dewachi. Andere Kliniken vor Ort seien chronisch überlastet. Die Antibiotikaresistenz sei eine der höchsten in der Region. Die Abwässer von Mossul – ein gefährlicher Cocktail aus Giftmüll und Schutt – stelle eine ständige Bedrohung für diejenigen dar, die bereits unter gesundheitlichen Problemen litten.

Das Beispiel Mossuls verdeutliche, wie schwierig es sei, nach dem Krieg wichtige Dienstleistungen wieder aufzubauen. Es sei ein Mahnmal dafür, wie sich Krisen im Gesundheitswesen tendenziell gegenseitig verstärken und noch lange nach der Beendigung der Feindseligkeiten ein hochgefährliches Umfeld schaffen würden. Einer der Hauptgründe sei der unkontrollierte Einsatz von Antibiotika und dadurch die Ausbreitung resistenter Bakterien, betont Dewachi abschliessend.


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine
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Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.

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5 Meinungen

  • am 28.12.2023 um 12:05 Uhr
    Permalink

    Yoav Gallant, der Chef des israelischen Militärs, sagte im Oktober:
    „Wir verhängen eine vollständige Belagerung des Gazastreifens.
    Kein Strom, keine Lebensmittel, kein Wasser, kein Gas. Es ist alles
    geschlossen. Wir kämpfen gegen Tiere und handeln entsprechend.“

  • am 28.12.2023 um 12:08 Uhr
    Permalink

    @Pascal Derungs, gut beschrieben, ich wunder mich über das Ohrenbetäubende schweigen
    der Menschen…

  • am 28.12.2023 um 13:07 Uhr
    Permalink

    Ja und nie seit den Atombombenabwürfen der USA über Hiroshima und Nagasaki wurden in so kurzer Zeit so viele Menschen getötet, verstümmelt, obdachlos gemacht.

    • am 29.12.2023 um 11:40 Uhr
      Permalink

      @Hanspeter Gysin
      Googeln Sie mal «Völkermord Ruanda». In Wikipedia findet man die Schätzung, dass 800’000 bis 1’000’000 Menschen umgebracht wurden.

  • am 29.12.2023 um 00:49 Uhr
    Permalink

    Man fragt sich, wann es endlich Sanktionen gegen Israel gibt wegen den Verstössen gegen das humanitäre Völkerrecht?
    Mit den Begriffen «Antisemitismus» und Holocaust scheinen die Israelischen Zionisten eine Art Superwaffe zu besitzen, welche sie gegen jegliche Kritik immun machen soll.
    Mit dem radikalen Zionisten und Selenskyj Berater Netanjahu liegt ein längerer Friede in weiter Ferne.
    Seine Einstellung: «Für die Schwachen gibt es keinen Platz. Die Schwachen zerfallen, werden abgeschlachtet und aus der Geschichte ausgelöscht, während die Starken, ob gut oder schlecht, überleben» Und sein Vater Benzion Netanjahu, welcher wohl sein Vorbild war, sagte in einem Interview «Die Neigung zum Streit liegt in der Natur der Araber. Er ist der geborene Feind. Seine Persönlichkeit erlaubt ihm keinen Kompromiss. Er befindet sich in einem Zustand des immerwährenden Krieges»

    Die Zitate stammen aus einem Artikel der «Deutschen Welle» vom 2.11.2022, Titel: «Benjamin Netanjahu: Israels Langzeit-Premier vor Comeback»

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